Der Betrug tötet die Liebe

von Alice Miller

Der Betrug tötet die Liebe
Saturday 15 May 2004

Ein junger dänischer Schriftsteller namens Kristian Ditlev Jensen hat in einem Buch (“Ich werde es sagen”) beschrieben, was er zwischen dem 9. und 12. Lebensjahr unter der Macht eines Pädophilen erlebt hat. Das erschütternde Buch macht sehr deutlich, welche Spuren diese Übergriffe hinterlassen haben. Erst als Erwachsener war es ihm möglich, Anzeige zu erstatten. Obwohl Kristians Erzählung bei der Kriminalpolizei keine Zweifel hinterließ, obwohl auch andere betroffen waren, lautete das Urteil auf 2 Jahre Haft mit Bewährung. Diese Ungerechtigkeit lässt den jungen Mann begreiflicherweise nicht zur Ruhe kommen, er kann trotz jahrelanger Therapien nicht schlafen, leidet unter beängstigenden Alpträumen, kann sich schlecht konzentrieren, fühlt sich häufig von Panikattacken überfallen, denen er sich nicht entziehen kann.
Wie kommt es dazu, dass ein Einzelkind von überdurchschnittlicher Intelligenz drei Jahre lang seinen Eltern nicht erzählt, wie schrecklich es leidet? Angeblich ahnten die Eltern nicht, dass der Junge jedes Wochenende sexuell ausgebeutet wurde, von dem Mann, zu dem sie ihn aus der Provinz nach Kopenhagen schickten, damit er sich dort amüsiert. Wie kommt es dazu, dass der Junge all das mit sich geschehen ließ, was ihm eindeutig zuwider war, ohne sich aus diesem Griff z.B. durch ein Gespräch mit den Eltern befreien zu können? Weil die Alternative die Langeweile des elterlichen Hauses gewesen wäre, das Nichts, der totale Mangel an Einfühlung, Verständnis, Interesse, Kommunikation. Das alles glaubt er bei Gustav, dem angeblichen Freund, zu finden. Er schwelgt in den vielen Anregungen: Konzert, Restaurant, Theater, Kinobesuche, die pulsierende Stadt Kopenhagen mit ihren vielen Angeboten steht ihm dank Gustav zur Verfügung. Er versucht also, die Versklavung in Gustavs Bett als Preis zu dulden, sie am Tag zu vergessen, um das Gute, den Zugang zur geistigen Welt genießen zu können und das Schlechte zu ignorieren.
Doch die Rechnung geht nicht auf. Kristians Körper rebelliert auf vielfältige Weise, weil er die maßlose Wut beherbergt, die nie ausgedrückt werden konnte, weder dem Täter, noch den Eltern gegenüber. Dass deren gleichgültiges Verhalten im Grunde den Missbrauch ermöglichte, ist zwar aus dem Buch ersichtlich, dennoch versichert der Autor schon im Vorwort, dass er seine Eltern heute sehr liebt und ihnen absolut alles vergeben habe.
Es war dieser Satz, der mich dazu bewogen hat, mich zu diesem Buch zu äußern. Es illustriert nämlich die verborgene, so destruktive Macht des Vierten Gebotes, die ich immer wieder aufzuzeigen versuche. Als Kind konnte sich Kristian nicht von Gustav befreien, weil er glaubte, ohne ihn, ohne die geistigen Anregungen, die er bei ihm in der Hauptstadt fand, nicht leben zu können, in der Öde seines Elternhauses sterben zu müssen. So fügte er sich dessen Gehirnwäsche und übersah den offensichtlichen Missbrauch. Heute, als Erwachsener, kann er ihn realistischer sehen, er kann sehen, wie er von ihm geschädigt wurde, und muss Gustav daher nicht mehr lieben. Aber an seinen Eltern hängt er noch sehr stark wie ein Kind und nennt dies Liebe.
Obwohl Kristians Erzählung deutlich macht, wie die ersten Jahre des einsamen, zum Gehorsam gedrillten Schlüsselkindes das Verbrechen des Pädophilen ermöglichten, spricht er die Eltern von ihrer Verantwortung frei. Zumindest emotional. Der Leser kann zwar die Empörung über die Eltern spüren, die ihr einziges Kind seelenruhig einem Verbrecher anvertrauen, drei Jahre lang, jedes Wochenende. Doch das ehemalige Kind kann diese Empörung noch nicht wagen, zu stark mag noch die Angst es daran hindern. Das könnte erklären, weshalb Kristian weiter an seinen Symptomen leidet. Seine Wut auf Gustav ist erlaubt, und die Verachtung für Pädophile wird ja von der Gesellschaft geteilt. Nicht aber die Wut auf die Eltern. Diese verbotene Wut bleibt im Körper eingesperrt und produziert Alpträume und Symptome, ohne dem Bewusstsein des Erwachsenen zugänglich zu sein. Was bleibt, ist die Sehnsucht nach den guten Eltern, sie erhält sämtliche Illusionen.
Kristian Jensen ist keine Ausnahme. Ich erhalte immer wieder Bücher von Autoren, die von unerhörten Grausamkeiten in ihrer Kindheit berichten und schon auf den ersten Seiten versichern, dass sie den Eltern alles verziehen haben. In all diesen Fällen zeigt sich eindeutig der Wiederholungszwang, der Zwang, den einst erfahrenen Betrug weiterzugeben. Er zeigt sich vor allem in der religiösen Behauptung, dass die Vergebung eine Heilung bewirke, was aber die Fakten deutlich widerlegen. Wer predigen muss, ist nicht frei.
Will ich damit sagen, dass die Vergebung der am Kind begangenen Verbrechen nicht nur unwirksam, sondern auch schädlich ist? Ja, genau das will ich tatsächlich sagen. Denn der Körper versteht keine moralischen Vorschriften. Er kämpft gegen die Verleugnung der wahren Emotionen und für das Zulassen der Wahrheit ins Bewusstsein. Dies wurde dem Kind verwehrt, es musste sich belügen und für die Verbrechen der Eltern blind bleiben, um zu überleben. Der Erwachsene muss dies nicht tun, und wenn er es tut, zahlt er dafür einen hohen Preis, mit dem Verlust der Gesundheit, oder er lässt andere dafür zahlen, seine Kinder, Patienten, Untergebene usw.
Ein Therapeut z.B., der seinen Eltern ihre Misshandlungen vergeben hat, wird sich oft dazu gedrängt fühlen, dieses angebliche Heilungsmittel seinen Patienten zu empfehlen. Damit beutet er ihre Abhängigkeit und ihr Vertrauen aus. Falls er von seinen Gefühlen weit entfernt ist, kann er meistens nicht wissen, dass er auf diese Weise andern das gleiche zufügt, das ihm einst zugefügt worden war: Andere zu missbrauchen, sie zu verwirren, und jede Verantwortung dafür abzustreiten, weil er überzeugt ist, dass er zu deren Besten handelte. Sind sich nicht alle Religionen darüber einig, dass Vergebung in den Himmel führt, ist nicht Hiob schließlich dafür belohnt worden, dass er Gott vergeben hat? Wenn sich nun mal der Therapeut mit seinen misshandelnden Eltern identifiziert, kann der Patient nichts Gutes mehr von ihm erwarten. Doch als Erwachsener hat er die Wahl, er kann einen Therapeuten verlassen, wenn er dessen Betrug und Selbstbetrug durchschaut hat, er muss sich nicht mit ihm identifizieren und dessen Taten wiederholen. Auch Kristian ist als Erwachsener frei, Gustavs Manipulationen zu durchschauen. Daher ist er kaum in Gefahr, das gleiche anderen zuzufügen.
Doch als Kind hat man diese Freiheit nicht. Man kann den eigenen Eltern nicht davonlaufen, also darf man sie nicht durchschauen. Auf diese Weise ermöglicht die Blindheit das Überleben. So funktioniert der Missbrauch der Kinder seit jeher. Die Blindheit und das Verzeihen ermöglichen das Überleben, führen aber allzu oft zu Wiederholungen und schädigen so Unschuldige.
Um aus diesem Teufelskreis auszubrechen, muss man verstanden haben, dass die Liebe den Missbrauch, den Betrug, die Ausbeutung nicht überleben kann, ohne neue Opfer zu fordern. Und wenn sie Opfer fordert, ist sie keine Liebe mehr, sondern höchstens die Sehnsucht danach. Nur in der Klarheit über die eigene vergangene Realität, über das, was wirklich geschehen ist, kann die Kette des Missbrauchs durchbrochen werden. Wenn ich weiß und fühlen kann, was meine Eltern mir angetan haben, als ich total wehrlos war, brauche ich keine Opfer, um mein Bewusstsein zu vernebeln. Ich habe es nicht mehr nötig, mit Hilfe unschuldiger Menschen unbewusst zu inszenieren, was mir einst geschehen ist, weil ich es heute WEIß. Dieses Wissen will ich mir nicht nehmen lassen, wenn ich bewusst und nicht ausbeuterisch leben will.