Wie entsteht emotionale Blindheit?

von Alice Miller

Wie entsteht emotionale Blindheit?

21 Punkte

  1. Das Neugeborene ist immer unschuldig.
  2. Jedes Kind hat unabdingbare Bedürfnisse, unter anderem nach Sicherheit, Geborgenheit, Schutz, Berührung, Wahrhaftigkeit, Wärme, Zärtlichkeit.
  3. Diese Bedürfnisse werden selten erfüllt, jedoch häufig von Erwachsenen für ihre eigenen Zwecke ausgebeutet (Trauma des Kindesmissbrauchs).
  4. Der Missbrauch hat lebenslängliche Folgen.
  5. Die Gesellschaft steht auf der Seite des Erwachsenen und beschuldigt das Kind für das, was ihm angetan worden ist.
  6. Die Tatsache der Opferung des Kindes wird nach wie vor geleugnet.
  7. Die Folgen dieser Opferung werden daher übersehen.
  8. Das von der Gesellschaft allein gelassene Kind hat keine andere Wahl, als das Trauma zu verdrängen und den Täter zu idealisieren.
  9. Verdrängung führt zu Neurosen, Psychosen, psychosomatischen Störungen und zum Verbrechen.
  10. In der Neurose werden die eigentlichen Bedürfnisse verdrängt und verleugnet und statt dessen Schuldgefühle erlebt.
  11. In der Psychose wird die Misshandlung in eine Wahnvorstellung verwandelt.
  12. In der psychosomatischen Störung wird der Schmerz der Misshandlung erlitten, doch die eigentlichen Ursachen des Leidens bleiben verborgen.
  13. Im Verbrechen werden die Verwirrung, die Verführung und die Misshandlung immer wieder neu ausagiert.
  14. Therapeutische Bemühungen können nur dann erfolgreich sein, wenn die Wahrheit über die Kindheit des Patienten nicht geleugnet wird.
  15. Die psychoanalytische Lehre der “infantilen Sexualität” unterstützt die Blindheit der Gesellschaft und legitimiert den sexuellen Missbrauch des Kindes. Sie beschuldigt das Kind und schont den Erwachsenen.
  16. Phantasien stehen im Dienste des Überlebens; sie helfen, die unerträgliche Realität der Kindheit zu artikulieren und sie zugleich zu verbergen, bzw. zu verharmlosen. Ein sogenanntes “erfundenes, phantasiertes” Erlebnis oder Trauma deckt immer ein reales Trauma zu.
  17. In Literatur, Kunst, Märchen und Träumen kommen oft verdrängte frühkindliche Erfahrungen in symbolischen Formen zum Ausdruck.
  18. Aufgrund unserer chronischen Ignoranz hinsichtlich der wirklichen Situation des Kindes werden diese symbolischen Zeugnisse von Qualen in unserer Kultur nicht nur toleriert, sondern sogar hochgeschätzt. Würde der reale Hintergrund dieser verschlüsselten Aussage verstanden, würde sie von der Gesellschaft abgelehnt werden.
  19. Die Folgen eines begangenen Verbrechens werden nicht dadurch aufgehoben, dass Täter und Opfer blind und verwirrt sind.
  20. Neue Verbrechen können verhindert werden, wenn die Opfer zu sehen beginnen; damit wird der Wiederholungszwang aufgehoben oder abgeschwächt.
  21. Indem sie die im Geschehen der Kindheit verborgene Quelle der Erkenntnis unmissverständlich und unwiderruflich freilegen, können die Berichte Betroffener der Gesellschaft im allgemeinen und insbesondere der Wissenschaft helfen, ihr Bewusstsein zu verändern.