Gespräch über Kindheit und Politik
Destruktivität
- Einleitung
- Destruktivität
- Sadismus
- Der private Wahn
- Folgen für jede Gesellschaft
- Zum Schluss
Als Sie sich 1980 in “Am Anfang war Erziehung” mit der Kindheit Adolf Hitlers beschäftigten und nachwiesen, dass der spätere Sadismus des Führers sehr wohl auf seine Erlebnisse mit dem Vater zurück geführt werden kann, wurde Ihnen entgegnet, diese Argumentation sei monokausal. Ich selbst denke, dass Hitler eben kein singuläres Phänomen darstellt und dass es nach wie vor Menschen mit seinem Charakter, mit seinen Störungen und seinen Perversionen gibt. Natürlich bekommen nicht alle diese Leute politische Macht. Sie kommen an die Macht, wenn ihnen (wie im Falle Hitlers) aufgrund politischer und ökonomischer Interessen die Möglichkeit dazu gegeben, wenn ihnen also gleichsam die Macht vor die Füße gelegt wird. Nur kann man den speziellen Charakter des damals von den meisten Deutschen so sehr vergötterten Führers schwerlich allein aus ökonomischen oder politischen Verhältnissen heraus erklären. Diese Verhältnisse prägen das Leben der Menschen, aber die Grundlage für den späteren Hass, den Sadismus, die Wahnvorstellungen erwerben Menschen wie Hitler sehr früh bei den Eltern.
Man muss sich einfach vor Augen halten, dass noch eine im Jahre 2000 von UNICEF unterstützte Untersuchung über Gewalt gegen Kinder die Hochrechnung erlaubt, dass weltweit 80 bis 90 Prozent aller Kinder in der elterlichen und schulischen Erziehung teilweise massiver Gewalt ausgesetzt sind. Darauf weist auch der Professor für Literatur Olivier Maurel in Frankreich immer wieder hin. Das ist der Hintergrund der Themen, die wir diskutieren, den man nicht vergessen darf.
Sie sind in Ihren Büchern neben Hitler auch immer wieder auf andere Diktatoren des vergangenen Jahrhunderts wie Stalin oder Ceausescu eingegangen und haben ein Muster sichtbar gemacht: Was in den Familien geschieht, kann unter speziellen Konstellationen auf die gesamte Gesellschaft zurückschlagen. Diese Diktaturen gehören der Vergangenheit an. Wir rühmen uns heute der Freiheit und Demokratie, wobei die jüngsten Ereignisse im Irak eine etwas bizarre Vorstellung von Freiheit enthüllten, der die westlichen Gesellschaften offenbar anheim gefallen sind. Was ist also heute an der Figur Hitler noch bedeutsam? Ich meine immer, dass Menschen mit einem Charakter, wie Hitler ihn hatte, im Familienverband weiterhin ihre Kinder terrorisieren und tyrannisieren und sie auch einem (totalitären) Regime unterwerfen können, wie Hitler dies mit den Deutschen tat.
Es ist wahr, dass diese Systeme in Deutschland und auch anderswo immer noch funktionieren, dass ein Patriarch sich alle anderen in der Familie unterwirft und so unter Umständen einen Tyrannen produzieren könnte, der später bewundert wird. Aber ich würde meinen, dass seit einigen Jahren die Erziehung der Kinder doch nicht die gleiche Form behalten hat; es genügt heute nicht mehr, dass einer einem Angst macht, und schon hat er die ganze Macht. Ich habe den amerikanischen Film von Winkler über Hitler gesehen, der vor etwa einem Jahr gedreht wurde (deutscher Titel: “Der Aufstieg des Bösen”). Ich glaube, es wurde sehr realitätsgerecht gezeigt, wie Hitler durch seine Wutausbrüche die anderen sofort zum Schweigen brachte und wie sie in Angst vor ihm erstarrten, wenn er sich so gebärdete wie sein Vater einst mit ihm. Da kann ich mir vorstellen, dass heute, 70 Jahre später, diese Angst vielleicht nicht mehr geschlossen auftreten, sondern dass er auf mehr Menschen lächerlich wirken würde, die eben toleranter und freizügiger aufgewachsen sind. Das ist heute anders. Ich würde meinen, dass jenes Auftreten eines brutalen Vaters, wie es Hitler der deutschen Bevölkerung vorführte und in Erinnerung rief, heute nicht mehr auf diese Art und Weise möglich wäre. Die Skinheads und die Rechtsradikalen haben ja auch diese zackigen Manieren, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass heute ein ganzes Volk hinter denen hermarschieren würde. Oder was meinen Sie dazu?
Ich denke auch, dass inzwischen viele Kinder weniger brutal oder weniger gewalttätig erzogen werden, aber es gibt immer noch genug Kinder, die so eine Diktatur privat in ihrem Elternhaus erleben. Daraus bilden sich Charaktere, die zu allem Ja und Amen sagen, die gehorchen, weil sie ihr ganzes Leben lang von Angst beherrscht werden, oder die buchstäblich nur auf einen Anlass warten, an dem sie zuschlagen können. Das beweisen zum Beispiel die Skinheads. Sie sind völlig verwahrloste junge Männer und Frauen, die in ihrer Kindheit mit Sicherheit nicht die geringste Zuwendung und Aufmerksamkeit erfahren haben. Allerdings tut sich die deutsche Gesellschaft schwer, diese Gewalttäter entsprechend zu bekämpfen.
Natürlich sind die politischen Verhältnisse heute anders, man braucht derzeit keinen Hitler. Es geht mir nicht darum, ob in Kürze in Europa ein Hitler an die Macht kommt, aber dieser Charakter, den man einen autoritären, deformierten Charakter nennen kann, gibt es nach wie vor. Vor allem aber gibt es im ganzen nicht so viel Widerspruch, wenn politische Entscheidungen getroffen werden, die absurd oder destruktiv sind, die die Gesellschaft ganz offensichtlich an den Rand ihrer Existenzfähigkeit treiben. Dass man Autoritäten zu gehorchen hat, ist eigentlich selbstverständlich. Was mich am meisten beschäftigt, ist die Frage, warum Menschen destruktive, selbstzerstörerische Entscheidungen treffen, die dann auf der politischen Ebene Konsequenzen für die ganze Gesellschaft haben.
Aber es gibt doch sehr viel Kritik auch an den Politikern in Deutschland, oder mache ich mir da etwas vor? Ich sehe, dass etwa der Bundeskanzler doch in Frage gestellt wird. Das war früher gar nicht möglich. Man hört immer wieder von Skandalen und von Missbräuchen, aber man hört etwas darüber, man kann etwas darüber sagen und schreiben, das war undenkbar in der Hitlerzeit, in einem totalitären Regime. Da durfte man überhaupt nichts sagen. Man konnte sich nur unterwerfen oder in Dachau sterben oder gequält werden.
Was ich heute sehe, ist eher eine Unsicherheit im Erkennen von Missbrauchsmustern. Weil das Erziehungssystem von Missbrauch durchdrungen ist, können auch Erwachsene das nicht durchschauen. Und dann kommt es zu diesen Missbräuchen, auch finanziellen Skandalen, die dann in der Presse erscheinen, und es wird ironisch darüber geschrieben. Doch die klare Empörung über solche Missbräuche, die fehlt in der Öffentlichkeit immer noch, würde ich meinen.
Ich stimme Ihnen zu, frage mich aber, ob die Form der Pressefreiheit, die wir haben, nicht allein deshalb existiert, weil sie selten konsequent genutzt wird und entsprechende Veröffentlichungen durch das Ausbleiben der Empörung eben meist folgenlos bleiben. Vor allem gibt es noch genügend Menschen, die zeigen, dass sie Lust an der Zerstörung empfinden.
Genau, das ist richtig. Und darum bleibt es für mich wichtig, herauszufinden, wie solche Menschen entstehen. Wie war es möglich, dass ein Hitler Millionen Menschen für sich einnehmen konnte, obwohl er letztlich nichts Anderes zu bieten hatte, als die Idee, man müsse das jüdische Volk vernichten, damit er sich zufrieden und frei in der Welt fühlen könne. Und sehr ähnlich funktionieren auch die gegenwärtigen Terroristen. Sie leben immer mit der Idee, dass die Zerstörung der Anderen und sogar die Selbstzerstörung zu einem Paradies auf Erden führe. Da haben wir noch eine riesige Arbeit vor uns, zu zeigen, dass das, was irrational aussieht, eigentlich die Folge von einer Situation ist, die tatsächlich real für das Kind war, aber noch nie benannt wurde. Weder in der Gesellschaft, noch in der Familie, noch in der Kindheit. Das ist zum Beispiel die Situation eines kleinen Kindes, das man schlägt und dies Korrektur oder Disziplin nennt, eines Kindes, das in einer religiösen Schule mit drei oder vier Jahren lernen muss, den Koran auswendig herunterzuplappern, und wenn es einen Fehler macht, bekommt es jedes Mal einen Schlag mit der Rute. Diese Situation ist absolut absurd, und trotzdem wird sie verinnerlicht von diesen Menschen. Was im Koran steht, spielt eigentlich keine Rolle für sie, sondern dass sie für jeden Fehler geschlagen wurden. Das geht beim Erwachsenen weiter. Er wird immer wieder das wiederholen, was mit ihm passiert ist. Er wird womöglich die einzige Lust im Leben darin sehen, sich dafür zu rächen. Das sehen wir bei den Diktatoren, aber auch bei den einfachen Menschen, die sich Organisationen wie Al Quaida anschließen, sogar gerne anschließen. Ich sehe meine Rolle darin, dass ich die verborgene Logik im Irrationalen aufdecken will. Und die sehe ich nur in der Kindheit, die total absurd ist. Wie kann ein drei- oder vierjähriges Kind verstehen, was man ihm da im Koran sagen will? Der Koran ruft ja nicht zum Mord auf. Doch ein Kind lernt genau, was es körperlich erfahren hat, nämlich Schläge, und es hat gelernt, dass man den anderen nicht respektieren soll, dass man Absurditäten annehmen muss, dass man sich alles gefallen lassen muss, dass man nicht dagegen rebelliert, wenn man wie ein Hund behandelt wird. Und dies wird in die Gesellschaft weitergetragen.
Sie meinen also, destruktive Verhaltensweisen werden erlernt, indem das Kind sehr früh, wahrscheinlich am Anfang seines Lebens, mit destruktiven Verhaltensweisen seiner Eltern und später der Lehrer konfrontiert wird? Es wird angeschrieen, geschlagen, in bestimmter Weise manipuliert, seine Bedürfnisse werden nicht befriedigt.
Ja, dieser Zustand der Frustration, dass seine ganz normalen biologischen Bedürfnisse nicht befriedigt werden, bewirkt ja eine enorme Wut, die nie artikuliert werden darf, weil das verboten ist. Das Kind soll gehorchen. Diese Wut wird dann gespeichert und kann sehr lange überdauern, bis der Erwachsene die Möglichkeit hat, sie in Racheakten auszudrücken. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Menschen auf die Welt kommen, vom “Lieben Gott” geschickt, mit dem Bedürfnis, das “World Trade Center” in New York zu zerstören. Das ist doch völliger Unsinn. Dennoch denken viele, Terroristen sind mit schlechtem Erbgut auf die Welt gekommen. Es gehört eine ganze Lebensgeschichte dazu, andere zerstören und genau so unglücklich machen zu wollen, wie man selbst als Kind unglücklich gemacht wurde.
Man kann sagen, dass sich in der Kindheit unter bestimmten extremen Verhältnissen in einem Menschen ein Hass entwickelt, eigentlich im Grunde auf die Eltern, der aber nicht bewusst auf die Eltern gerichtet werden darf und sich darum gegen andere richtet. Sobald solche Leute die Möglichkeit haben, an destruktiven Aktionen teilzunehmen, werden sie diese nutzen. Sie können dort ihre Rache ausüben, die im Grunde den Eltern gilt, aber die werden weiterhin geschont und bleiben gefürchtet.
Ja, und da ist noch ein weiterer Aspekt. Solche Menschen haben meist nicht den Mut, das allein zu machen, sondern sie schließen sich Gruppen an. Die Gruppen legalisieren das Verhalten. Es wird ihnen gesagt, sie dürfen hassen, und es sei nötig, dass sie hassen. Die Serben waren davon überzeugt, dass es gut war, was sie mit den Kroaten und den bosnischen Muslimen gemacht haben. Es ist so deutlich, dass alle diese Gruppen mit ethnischen oder antisemitischen Ideologien, sich davon nähren, dass ihre Anhänger ehemals frustrierte, geschlagene, gedemütigte Kinder sind, die Racheobjekte suchen. Man kann ihnen das nicht verbieten. Man kann sie in Gefängnisse stecken, aber wie lange können wir fortfahren, Gefängnisse zu bauen, und Leute auszubilden, die diese Menschen dann in den Gefängnissen bewachen. Wir müssen auch diese Leute noch ernähren, das ist eine absurde Situation, denn wenn wir uns noch länger weigern zu verstehen, woher diese Delinquenz, woher dieses Bedürfnis nach Rache, nach Mord und Zerstörung kommt, können wir dies nicht ändern. Es wird immer schlimmer werden. Die jungen Leute bekommen Kinder, und die Kinder werden immer noch zu oft misshandelt oder “nur” total vernachlässigt. Ich erzähle manchmal von dem Fall eines sechsjährigen Jungen, der zur Nachbarin ging und das Baby umgebracht hat. Weil die Mutter für den Sechsjährigen nie Zeit hatte, sie hat mit Drogen gehandelt und war überhaupt nie da. Es fängt schon sehr früh an, und es ist sehr, sehr deutlich, wie das Bedürfnis entsteht, andere zu quälen, anderen weh zu tun und Schmerzen zu bereiten. Das liegt nicht in der Natur des Menschen. Das Neugeborene hat doch nicht das Bedürfnis, jemanden umzubringen. Das muss man sich vorstellen, jeder kann das beobachten. Es schreit, wenn es Hunger hat, es schreit, wenn es falsch behandelt wird, aber ein Neugeborenes trägt keine Gene in sich, die es später dazu zwingen, andere zu töten. Das entsteht in einer total absurden und perversen Lebensgeschichte.
Bislang wird einfach immer wieder davon ausgegangen, dass es völlig normal und selbstverständlich ist, eben in der Natur des Menschen liege, andere zu töten oder zu benachteiligen aufgrund von Profitgier zum Beispiel. Man müsste eben sehr genau fragen, wie das kleine Kind von Mutter und Vater behandelt wurde, wie die Erziehung die Entwicklung destruktiver Tendenzen beförderte. Zum einen wird das Nachahmung sein, zum anderen sind es eben auch die aufgestaute Wut und die Verzweiflung des Kindes, die bei den Eltern nicht artikuliert werden durften. Es ist ja auch ein Bedürfnis des Körpers, sich von diesem starken Druck zu befreien. Es entsteht überdies eine Toleranz für Brutalität und für sinnlose autoritäre Entscheidungen; man erduldet auch als Erwachsener, was man schon bei den Eltern ertragen musste.
Ja, ganz genau. Es ist das Dulden der Brutalität und die Glorifizierung der Gewalt. Weil man zum Beispiel, wie jedes Kind, den Vater bewundert und geliebt hat, fand man alles in Ordnung, was er machte. Und später wiederholt man das. Man fügt sich Führern oder Gurus, die sich ähnlich benehmen, und man ist blind für deren Schwächen. Genau so, wie man als Kind blind für die Schwächen der Eltern war. Wenn ein Mensch sich später von dieser Blindheit befreien kann, wird er erst wirklich erwachsen, weil er die Angst vor der alten Bedrohung verloren hat. Aber die Angst des Kindes bleibt bei allen diesen Leuten, die Gewalt suchen und durchführen, vollständig erhalten und unbewusst. Es muss eine enorm starke Angst vor dem gewalttätigen Vater sein, daher die Unfähigkeit, produktiv zu denken, und sein Leben oder das der ganzen ethnischen oder sozialen Gruppe produktiv zu organisieren, anstatt “den Feind” zu zerstören. Es wird nie bewusst, dass der Hass im Grunde die Eltern meint. Sich dieser Mechanismen hingegen bewusst zu werden, öffnet ganz neue Wege, weil die Realität der Kindheit nicht länger verschleiert bleibt. Sobald wir sie voll und ganz wahr- und ernst nehmen können, wird es (ohne andere zu zerstören) möglich, uns die Würde zurückzunehmen, die man uns gestohlen hat, als man uns wie Objekte benutzte und nicht wie Menschen behandelte.
Dann könnte man formulieren, dass die Unfähigkeit sich einer gesellschaftlichen Realität zu stellen, auch eine Ursache letztlich in der Angst des Kindes hat, die Eltern real wahrzunehmen. Es mag auch sein, dass sich ein Kind, um sich vor der Enttäuschung zu schützen, vollkommen mit den Eltern identifiziert. Wer bereits als Kind die Realität seines Lebens, seiner Umgebung nicht wahrnehmen durfte, sich in Beschönigungen und Selbstlügen flüchten musste, wird diese Überlebensstrategie oftmals für immer beibehalten.
Die Blindheit für das absurde, perverse Verhalten mancher Eltern rettet dem Kind das Überleben, weil diese Wahrheit (der Schmerz und der Zorn) vom Kind nicht zu ertragen wäre. Der Körper registriert zwar die Grausamkeit, aber das Bewusstsein kann dieses Wissen nicht zulassen. Anders ist es beim Erwachsenen. Er könnte an sich die emotionalen Blockierungen aufgeben und müsste sich nicht an seine kindliche Blindheit klammern. Aber viele fürchten diesen Weg, besonders, wenn sie keine Begleitung für diesen Weg finden. Einige gehen ihn dennoch, wenn sie begriffen haben, dass das in ihnen eingesperrte Wissen sie krank macht, wenn es sie nicht sogar zu Kriminalität, zur Sucht und zum Ausagieren des Hasses auf Unschuldige treibt. Auch die Unterwerfung unter Gurus und Ideologien gehört zu den verheerenden Folgen der emotionalen Blindheit, die mit einer massiven Verdrängung einhergeht. Wir haben solche Folgen z.B. in Ruanda miterleben können und sind vor Wiederholungen nicht gefeit. Daher halte ich Hitlers Kindheitsgeschichte und deren politische Auswirkungen für sehr lehrreich und höchst aktuell auch noch in unserer Gegenwart.
Wie stellen Sie sich eine Gesellschaft vor, in der eine große Mehrheit früh gelernt hat, die eigenen lebenserhaltenden Bedürfnisse zu respektieren. Wäre sie das Paradies, wie es die Primärtherapeuten oder Autoren wie Jean Liedloff versprachen? Liedloff sieht das Leben der indigenen Völker wenigstens zum Teil als Ideal, geht davon aus, dass es für die Menschen einmal einen gewaltfreien, paradiesischen Zustand gegeben habe, den sie verloren im Verlauf eines Vorgangs der Zivilisation.
Ich erwarte kein Paradies, aber es scheint mir logisch, dass Menschen, die nicht geschlagen wurden und ihre Bedürfnisse respektieren durften, weniger unbewusste, verdrängte Wut gespeichert haben und daher keine Racheakte verüben werden. So wird die blinde, auf Sündenböcke gerichtete Gewalt sicherlich abnehmen. Wenn diese Menschen in ihrer Kindheit ihre Eltern auch in Frage stellen durften, sie nicht idealisieren mussten, werden sie auch viel realistischer gefährliche Politiker und Sektengurus einschätzen können.
Sie werden gegen Lügen und Heuchelei anderer mehr immun bleiben und selber weniger lügen als die Menschen von heute, die mit Lügen aufgewachsen sind. Wenn sie hingegen mit Versicherungen der Liebe gefüttert wurden, die nie mit Taten bestätigt worden sind, warten diese Menschen oft ihr Leben lang auf die Erfüllung der erhaltenen Versprechen, die nicht kommt. Viele geraten dann in blanke Wut, wenn die Ersatzpersonen (ihre eigenen Kinder zum Beispiel) ihnen das nicht geben und nicht geben können, was die Eltern ihnen schuldig geblieben sind.
Was ich hier schildere, ist natürlich von den religiösen Vorstellungen vom Paradies weit entfernt. Diese entsprechen nämlich den kindlichen Wünschen. In solchen Vorstellungen sitzt Gottvater im Zentrum und schenkt allen gottergebenen Menschen seine Liebe, in deren Schutz man sich glücklich und erlöst fühlt. So haben wir uns vielleicht als kleine misshandelte Kinder die Erlösung von unserer Folter vorgestellt. Aber als Erwachsene brauchen wir solche Bilder nicht zum Leben, wir brauchen vielmehr Mitmenschen, mit denen wir kommunizieren können, wir brauchen nicht Konflikte zu fürchten und vor ihnen auf den Schoß von Gottvater zu flüchten.
Gäbe es außer den psychologischen nicht auch soziale Veränderungen?
Natürlich, das wären dann die Konsequenzen. Die Verminderung der emotionalen Blindheit wird vermutlich die Zahl der Gefängnisinsassen verringern. Die meisten von ihnen behaupten, sie hätten eine gute Kindheit gehabt, und wissen nicht, weshalb sie zugeschlagen und getötet haben. Ich erhielt kürzlich einen Brief von einem jungen Mann, der im Alter von siebzehn Jahren seinen Vater ermordet hat. Er schreibt, dass er seit einigen Jahren seine Strafe verbüßt und den Verlust seines Vaters betrauert. Leider würde ihm das nicht helfen, seine Tat zu verstehen. Er hätte im Gefängnis meine Bücher zu lesen bekommen, und bittet mich um Hilfe, seine Motive zu begreifen. Er könne sie nämlich nicht finden und suche eine Erklärung: Sein Vater hätte ihn nur selten geschlagen und dies nur, um ihm zu helfen. Er liebte seinen Vater und der Vater auch ihn. Dieser Mann durfte offenbar niemals an seine unterdrückte Wut und Verzweiflung herankommen und kann daher deren Ursachen nicht verstehen. Deshalb der Mord und die heutige Verwirrung, die in den Therapien meist nicht geklärt wird, um – aus sogenannten moralischen Gründen – das Bild des Vaters zu schonen.
Ähnliches würden vermutlich andere Gefangene erzählen, wenn man sie nach ihrer Kindheit befragen würde, was leider selten geschieht. Nachdem der britische Psychiater Bob Johnson einige Jahre lang als Gefängnistherapeut doch mit dem Konzept der Kindheit erfolgreich gearbeitet und einen starken Rückgang der Gewalt im Gefängnis und viel Einsicht in ihre Lebenssituation bei den Delinquenten bewirkt hatte, wurde ihm vom Staat die Stelle gekündigt. Weil die perversen Taten der Eltern der Kriminellen offenbar nicht gesehen und nicht enthüllt werden dürfen. Sie bleiben geschützt hinter dem “eisernen Vorhang”, und die Gesellschaft (die Richter, das Personal im Strafvollzug, die Gefangenen, die Therapeuten) spielt weiter das Spiel “blinde Kuh”. Die Kriminellen werden offenbar vom Himmel heruntergeschickt, offenbar zu unschuldigen Eltern – das ist die heute gültige Auffassung über die Entstehung der Kriminalität. Ich habe in meinen Büchern versucht, diese Sicht zu vertiefen und die offensichtliche Kausalität aufzuzeigen, indem ich die Rolle der misshandelnden Eltern bei der Entstehung der Kriminalität und der Krankheiten deutlich benenne.
Bob Johnson hat ja auch ein Buch verfasst: “Emotional Health”. Dort ruft er geradezu beschwörend aus: “Let’s exculpate parents”. Johnson ist also der Auffassung, dass misshandelnde und missbrauchende Eltern zwar schwerwiegende, oft lebenslange Folgenschäden bei ihren Kindern produzieren, aber deren Taten dennoch von den dann erwachsenen Kindern nicht verurteilt werden dürfen. Trotzdem untersagte man die Fortsetzung seiner Arbeit, obwohl diese Tätigkeit helfen könnte, immense Kosten einzusparen. Sie wenden sich in Ihren Büchern ja an den erwachsenen Leser und vermitteln eigentlich sehr kompromisslos die Botschaft: Misshandelnde Eltern ruinieren sehr oft das Leben ihrer Kinder. Deshalb dürfen die (erwachsenen) Kinder ihre Eltern verurteilen, um die Fähigkeit entwickeln zu können, sich für ihr Leben einzusetzen. Damit ist ja nicht eine lebenslange Anklage gemeint, sondern vielmehr die Erarbeitung einer inneren Haltung gegenüber den elterlichen Misshandlungen, die helfen könnte, frühe und gegenwärtige Abhängigkeiten zu durchschauen, aufzulösen und von inneren Impulsen nicht mehr blind gejagt zu werden. Es wäre sehr interessant, wenn Menschen berichten würden, wie sie diesen Prozess bei sich erlebt haben.
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