Zum Schluss

Gespräch über Kindheit und Politik

Zum Schluss

  1. Einleitung
  2. Destruktivität
  3. Sadismus
  4. Der private Wahn
  5. Folgen für jede Gesellschaft
  6. Zum Schluss

1977 erhielt in der deutschsprachigen Öffentlichkeit ein Manuskript starke Beachtung, das sein Verfasser unter dem Pseudonym Fritz Zorn publiziert hatte. Der Titel dieses Buches war ebenso beziehungsreich wie plakativ: „Mars“. Der Autor erlebte das Erscheinen seines Buches nicht mehr; er erfuhr noch, dass die Publikation mit Hilfe des Schweizer Schriftstellers Adolf Muschg ermöglicht werden würde. Kurz darauf starb er qualvoll an einer Krebserkrankung, im Alter von 32 Jahren.
Das Buch erzählt vom „Krieg“ eines jungen Mannes, der als Kind einer Millionärsfamilie in der Schweiz aufwuchs. Dieser Herkunft gilt sein ganzer Hass, der sich auf die Gesellschaft überträgt, die von der sozialen Schicht der Steinreichen, der er entstammt, entscheidend geprägt wird. Durch das Schreiben seines Buches versucht sich der Verfasser frei zu machen von den Bindungen an eine Gesellschaft, eine Abstammung, die ihn zutiefst anekelt. Doch er stirbt an Krebs, obwohl er lange Zeit eine Psychoanalyse absolviert. Er verliert einen Krieg, den offenbar zuletzt der Körper austragen musste. Der Kampf, die Auflehnung gegen „das System“ war eine Art Stellvertreter-Schauplatz.
In wenigen Passagen beschreibt Fritz Zorn seine Kindheit, seine Eltern, den Zustand absoluter Nicht-Kommunikation zwischen Eltern und Kind, das Abwürgen jeder Lebendigkeit, jeglicher Kreativität, jeder Freude. Zaghaft wird ein hoch begabtes Kind sichtbar, das an den Schablonen und Konventionen, an der Idiotie seiner Eltern erstickt und schließlich zugrunde geht. Bis zum Ende wird das Leben des Fritz Zorn von den Verboten der Eltern diktiert: Er hat niemals eine sexuelle Beziehung und kann keine Freunde finden. Der Hass des jungen Mannes ist ebenso groß wie berechtigt, aber er trifft ausdrücklich nicht die Eltern, wohl aber die Schweiz, das Großbürgertum, die Industriellen. Ähnlich, wenngleich vor einem anderen Hintergrund, verläuft das Schicksal Bernward Vespers (vgl. Teil IV).
In beiden Büchern wird die Verschränkung zwischen den Erfahrungen eines Kindes bei den Eltern und denen des Erwachsenen innerhalb der Gesellschaft, eines politischen Systems deutlich. Der Kampf des Kindes wiederholt sich bei den erwachsenen Männern als Kampf gegen die Gesellschaft. Der Abscheu vor einem politischen Gefüge, das Perspektiven nicht zulässt, das nur im Schein, im Glamour funktioniert, ist in meinen Augen sehr verständlich und berechtigt. Aber muss sich das Schicksal des Kindes zwangsläufig beim Erwachsenen in seiner Haltung zur Gesellschaft wiederholen? Gäbe es keine konstruktivere Lösung als das Scheitern, den Tod? Beide Bücher machen für mich deutlich, dass man ein individuelles Schicksal nicht ohne die Geschichte des Kindes verstehen kann. Beide Bücher zeigen aber auch, dass dieser ganz persönliche Kampf, von dem sie berichten, in den Bereich des Politischen hineingetragen wird.
Die Destruktivität des Einzelnen findet sich darüber hinaus wieder in selbstzerstörerischen Tendenzen der gesamten Gesellschaft, die in ihrer Lähmung einen Krieg gegen sich selbst führt oder gegen Bevölkerungsgruppen, dann meistens „von oben nach unten“.

Die amerikanische Historikerin Barbara Tuchman schreibt in ihrem umfangreichen Buch „Die Torheit der Regierenden“:
„Weniger bewusst ist uns, dass die Macht häufig auch dumm macht und Torheit erzeugt; dass die Macht, Befehle zu erteilen, häufig dazu führt, das Denken einzustellen; dass die Verantwortlichkeit der Macht in dem Maße schwindet, wie ihr Handlungsspielraum wächst. Die umfassende Verantwortlichkeit der Macht besteht darin, so vernünftig wie irgend möglich im Interesse des Staates und seiner Bürger zu regieren. Dazu gehört auch die Pflicht, sich gut zu unterrichten; Informationen zu beachten, Sinne und Urteilsvermögen offen zu halten und der hinterhältigen Lockung der Engstirnigkeit zu widerstehen.“

Ich vermute, dass zahlreiche Menschen, die Aktionen von Politikern mit Skepsis beobachten. Vielleicht stellen sie sich gelegentlich die Frage, warum Entscheidungen getroffen werden, von denen absehbar ist, dass sie ein Chaos oder eine Gemengelage herbeiführen, die eine produktive Entwicklung des Gemeinwesens hemmt und den Zusammenbruch von existentiellen Strukturen vorprogrammiert. Wie Barbara Tuchman mögen dann einige von der Dummheit oder „Torheit der Regierenden“ sprechen. Tatsächlich lässt sich immer wieder eine große Kluft zwischen Macht und Intelligenz, Macht und Bildung beobachten. Aber ist Tuchman’s Überlegung zutreffend, dass Macht und Regierungsfunktionen allein oder zwangsläufig Dummheit hervorbringen, dazu verführen?

In der gegenwärtigen Gesellschaft ist es oft schwer, diejenigen auszumachen, die tatsächlich über Macht verfügen. Sind es die von uns gewählten Politiker oder die Interessengruppen, die eben diese Politiker sehr oft als Marionetten gebrauchen, denen sich jene Politiker andienen, auch unterwerfen müssen, um ihre Funktion behalten zu können? Diese undurchsichtige, anonyme Struktur spült im Rahmen der Politik, der Ökonomie und der Medien genau die Menschen nach oben, die sie braucht, und unterdrückt vielfach die Entwicklung derjenigen, die sie aufgrund ihrer Kompetenzen womöglich fürchten muss.
Was aber sind das für Menschen, die die tatsächliche oder scheinbare Macht benötigen, wie die Luft zum atmen? Und wenn diese angebliche Macht ein Lebenselixier für sie ist, warum treffen diese Menschen häufig Entscheidungen, mit der sie die so mühsam erkämpfte Position letztendlich gefährden?
Dasselbe Muster findet sich in der Ökonomie: Ein Manager richtet sein ganzes Leben darauf aus, möglichst viel Geld zu verdienen. Er macht Karriere und erwirbt so viel Vermögen, dass er es in seinem Leben nicht mehr ausgeben kann. Er will aber noch mehr, immer mehr muss er haben. Viele Menschen sprechen dann ganz zutreffend von Habgier, einer angeblich „menschlich-allzumenschlichen“ Eigenschaft. Jedoch: Wie kommt eine Habgier zustande, die dem Betreffenden mindestens langfristig selbst die Existenzgrundlage abgräbt oder seinen Kindern, indem sie ihn zu fatalen Fehlentscheidungen treibt? Welche Leere muss zugedeckt werden, welcher Hunger verdrängt? Warum können Menschen nicht „den Hals voll“ bekommen, selbst wenn sie an dem, was sie horten, mittlerweile ersticken? Naive Fragen?

Der gesunde Menschenverstand möchte glauben, dass Macht- und Geldgeilheit spätestens dann Grenzen gesetzt sind, wenn nicht nur die Allgemeinheit, sondern der Betreffende selbst geschädigt ist. Auffälligerweise ist dies aber oft nicht der Fall und die Selbstzerstörung gewinnt Oberhand. Dieses Phänomen lässt sich mit der Untersuchung von politischen und ökonomischen Zusammenhängen, die ohne Zweifel von zentraler Bedeutung sind, allein nicht mehr erklären. Schon der Marxismus wies darauf hin, dass die Familie die Keimzelle der Gesellschaft darstelle. Nur berührte diese Ideologie nicht die Tiefenstruktur, die unverzichtbar ist, um die Geschichte eines Einzelnen, aber auch einer Gesellschaft verstehen zu können. Die Deformationen vieler Individuen prägen die Gesellschaft, deren Strukturen wiederum die Beschädigungen ihrer Mitglieder forcieren und potenzieren.
Menschen, die von Beginn ihres Lebens an niemals in Kontakt mit ihren authentischen lebensbejahenden Bedürfnissen kommen durften, müssen sich auf die Jagd nach Ersatzbefriedigungen begeben und können nicht realisieren, dass sie sich in einem Kreislauf der Selbstzerstörung bewegen. Sie bleiben notwendigerweise blind für Fakten, für die Realität, und werden jene meiden, die sie auf die Tatsachen hinweisen könnten.
Die Diktaturen des 20. Jahrhunderts verdeutlichen scharf den Kreislauf der Destruktivität, der in den westlichen Demokratien ebenfalls anzutreffen ist, nur über einen längeren Zeitraum stärker abgefedert wird. Vieles spricht dafür, dass dem destruktiven Moment unserer Gesellschaft inzwischen keine Grenzen mehr gesetzt sind.

Barbara Tuchman liest die Sage vom Trojanischen Krieg als Symbol für die Blindheit der Mächtigen. Als die Trojaner ihre Stadtmauern einreißen, um das hölzerne Pferd (in dem sich die griechischen Soldaten verbergen) in die Stadt bringen zu können, ignorieren sie geradezu zwanghaft alle Zeichen und Warnungen, die die Katastrophe andeuten. Stattdessen wird gefeiert und bis zum Vollrausch getrunken. Das Ende ist bekannt.

—Thomas Gruner, Oktober 2004

Literaturangaben zu „Gespräch über Kindheit und Politik“:

  • Accoce, Pierre / Rentchnick, Pierre, Dr.: „Kranke machen Weltgeschichte – Hintergründe politischer Entscheidungen“, Econ Verlag, Düsseldorf 1978
  • Chamberlain, Sigrid: „Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, Psychosozial Verlag 1997
  • Chandler, David P.: „Brother Number One – A Political Biography of Pol Pot“; Westview Press, Boulder, San Francisco, Oxford 1992
  • Goldhagen, Daniel Jonah: „Hitlers willige Vollstrecker: Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust“, Goldmann Verlag, München 2000
  • Grimm, Tilemann: „Mao Ttse-Tung“, Rowohlt Monographie, Reinbek bei Hamburg 1987
  • Johnson, Bob: „Emotional Health“; James Naylor Foundation, York, UK 2002
  • Liedloff, Jean: „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“, Verlag Ch. Beck, München 1987
  • Maurel, Olivier: „La Fessée“, Editions La Plage 2004
  • Post, Jerrold M.: „Leaders and Their Followers in a Dangerous World“, Cornell University Press 2004
  • Reich-Ranicki, Marcel: „Mein Leben“, dtv, München 2003
  • Tuchman, Barbara: „Die Torheit der Regierenden: Von Troja bis Vietnam“, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 1989
  • Vesper, Bernward: „Die Reise“, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1983
  • Zorn, Fritz (Pseudonym): „Mars“, Fischer Taschenbuch, Frankfurt a.M. 1982