DIE KINDHEIT ADOLF HITLERS

DIE KINDHEIT ADOLF HITLERS VOM VERBORGENEN ZUM MANIFESTEN GRAUEN

“Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muß weggehämmert werden. In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. Jugend muß das alles sein. Schmerzen muß sie ertragen. Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muß erst wieder aus ihren Augen blitzen. Stark und schön will ich meine Jugend. . . So kann ich das Neue schaffen.”
—Adolf Hitler

Einleitung

Der Wunsch, über Adolf Hitlers Kindheit Näheres zu erfahren,
tauchte bei mir erst beim Schreiben dieses Buches auf und überraschte
mich nicht wenig. Der unmittelbare Anlaß dazu war der Gedanke, daß
meine auf Grund der analytischen Behandlungen gewonnene Überzeugung
von der reaktiven (und nicht angeborenen) Herkunft der menschlichen Destruktivität
am Fall von Adolf Hitler gegebenenfalls eine Bestätigung erführe
oder, wenn Erich Fromm u. a. recht behalten sollten, völlig in Frage
gestellt werden müßte. Das Ziel war für mich wichtig genug,
um diesen Schritt zu machen, obwohl ich zunächst sehr daran gezweifelt
habe, daß es mir möglich sein würde, diesem Menschen,
den ich für den größten mir bekannten Verbrecher halte,
mit Empathie zu begegnen. Die Empathie, d. h. hier der Versuch, ein Kinderschicksal
vom kindlichen Erlebnis heraus nachzufühlen und es nicht mit den
Augen der erzogenen Erwachsenen zu beurteilen, ist mein einziges Instrument
des Verstehens, und ohne sie wäre die ganze Untersuchung sinn- und
zwecklos. Ich war froh, als ich merkte, daß es mir gelungen ist,
der Sache zuliebe dieses Instrument nicht zu verlieren und Hitler als
Menschen zu sehen.

Dabei mußte ich mich von der überlieferten, idealisierenden
und auf Abspaltung und Projektion des Bösen beruhenden Kategorie
des “Menschlichen” befreien und einsehen, daß Menschsein
und “Bestie” einander nicht ausschließen (vgl. Fromm-Zitat
S. 208). Kein Tier steht unter dem tragischen Zwang, noch nach Jahrzehnten
früh erfahrene, narzißtische Kränkungen rächen zu
müssen, wie wir das z. B. am Leben Friedrichs des Großen beobachten
können. Jedenfalls sind mir das Unbewußte und die Geschichtlichkeit
des Tieres nicht genug bekannt, um darüber Aussagen zu machen. Mir
ist die extremste Bestialität bisher nur im menschlichen Bereich
begegnet, daher kann ich nur in diesem Bereich ihren Spuren nachgehen
und nach den Gründen fragen. Auf dieses Fragen kann ich aber nicht
verzichten, solange ich mich nicht zum Instrument der Grausamkeit, d.
h. zu ihrem ahnungslosen (und daher zwar schuldfreien, aber blinden) Träger
und Vermittler machen lassen will.

Wenn wir dem Unfaßbaren den Rücken kehren und es entrüstet
als “unmenschlich” bezeichnen, versagen wir uns dessen Kenntnis.
So kommen wir leichter in Gefahr, es beim nächstenmal in aller Unschuld
und Naivität wieder zu unterstützen.

In den letzten 35 Jahren erschienen unzählige Publikationen über
das Leben Adolf Hitlers. Ich habe zweifellos mehrere Male gehört,
daß Hitler von seinem Vater geschlagen wurde, habe es auch vor einigen
Jahren in der Monographie von Helm Stierlin gelesen, ohne daß mich
diese Information näher berührt hätte. Seitdem ich mich
aber für die Erniedrigungen des Kindes in den ersten Lebensjahren
sensibilisiert habe, bekam die frühere Information ein viel größeres
Gewicht für mich. Ich stellte mir die Frage: Wie war die Kindheit
dieses Menschen beschaffen, eines Menschen, der sein ganzes Leben vom
Haß besessen war und dem es so leicht gelungen ist, andere Menschen
in diesen Haß hineinzuziehen? Dank der Lektüre der Schwarzen
Pädagogik und den Gefühlen, die in mir dadurch wach wurden,
konnte ich mir plötzlich vorstellen und konnte fühlen, was sich
in der Wohnung der Familie Hitler abgespielt hat, als Adolf Hitler ein
kleines Kind war. Der frühere Schwarzweiß-Film verwandelte
sich in einen farbigen, der sich allmählich mit meinen eigenen Erlebnissen
des letzten Weltkrieges so verwob, daß er aufhörte, ein Film
zu sein, und zum Leben wurde, zu einem Leben, das nicht nur irgendwo und
irgendwann einmal stattgefunden hat, sondern in seinen Konsequenzen und
der Möglichkeit der Wiederholungen uns alle, so scheint es mir, auch
hier und jetzt betrifft. Denn die Hoffnung, daß es auf die Dauer
gelingen sollte, den nuklearen Untergang der Menschheit mit Hilfe von
vernünftigen Abkommen abzuwenden, entspricht im Grunde einem irrationalen
Wunschdenken und widerspricht jeglicher Erfahrung. Spätestens im
Dritten Reich, wenn nicht schon wiederholt früher, konnten wir erleben,
daß die Vernunft nur ein kleiner Teil des Menschen ist und nicht
einmal der stärkste. Es genügte der Wahn eines Führers,
es genügten einige Millionen gut erzogener Bürger, um in wenigen
Jahren das Leben unzähliger unschuldiger Menschen auszulöschen.
Wenn wir nicht alles tun, um das Entstehen dieses Hasses zu verstehen,
werden uns auch die kompliziertesten strategischen Abkommen nicht retten
können. Die Ansammlung von Nuklearwaffen ist nur ein Symbol für
die aufgestauten Haßgefühle und die damit zusammenhängende
Unfähigkeit, die echten Bedürfnisse wahrzunehmen und zu artikulieren.

Am Beispiel der Kindheit von Adolf Hitler läßt sich die Entstehungsgeschichte
eines Hasses untersuchen, unter dessen Auswirkungen Millionen von Menschen
zu leiden hatten. Die Qualität dieses zerstörerischen Hasses
ist den Psychoanalytikern längst bekannt, doch wird man von der Psychoanalyse
vergeblich Hilfe erwarten, solange diese ihn als Ausdruck des Todestriebes
versteht. Auch die Nachfolger von Melanie Klein, die den frühkindlichen
Haß zwar sehr genau beschreiben, aber ihn als angeboren (triebhaft)
und nicht reaktiv deuten, bilden hier keine Ausnahme. Am ehesten nähert
sich Heinz Kohut dem Phänomen dieses Hasses – mit seinem Begriff
der narzißtischen Wut, den ich mit der Reaktion des Säuglings
auf die Nichtverfügbarkeit des primären Objektes in Zusammenhang
gebracht habe (1979).
Aber um die Entstehung eines lebenslangen, unersättlichen Hasses,
wie er Adolf Hitler beherrschte, zu verstehen, muß man einen Schritt
weiter gehen. Man muß den vertrauten Boden der Triebtheorie verlassen
und sich der Frage öffnen, was sich in einem Kind abspielt, das einerseits
von seinen Eltern gedemütigt und erniedrigt wird und andererseits
unter dem Gebot steht, die Person, die ihm das antut, zu respektieren,
zu lieben und seine Schmerzen auf keinen Fall zum Ausdruck zu bringen.
Obwohl man etwas dergleichen Absurdes kaum von einem Erwachsenen erwarten
würde (außer in ausgesprochen sado-masochistischen Beziehungen),
erwarten Eltern gerade das in den meisten Fällen von ihren Kindern,
und sie wurden in den früheren Generationen selten in dieser Erwartung
enttäuscht. In diesem ersten Lebensalter ist es noch möglich,
die schlimmsten Grausamkeiten zu vergessen und den Angreifer zu idealisieren.
Doch die Art der späteren Inszenierung verrät, daß die
ganze Geschichte der frühkindlichen Verfolgung irgendwo aufgespeichert
wurde, sie entfaltet sich nun vor den Zuschauern mit einerunerhörten
Präzision, nur unter anderen Vorzeichen: das einst verfolgte Kind
wird in der Neuinszenierung selber zum Verfolger. In der psychoanalytischen
Behandlung spielt sich die Geschichte innerhalb der Übertragung und
Gegenübertragung ab.

Wenn sich die Psychoanalyse einmal von ihrer Bindung an die Annahme des
Todestriebes befreien würde, könnte sie dank dem vorhandenen
Material über die frühkindliche Konditionierung sehr viel Wesentliches
zur Friedensforschung beitragen. Doch leider zeigen die meisten Psychoanalytiker
kein Interesse für die Frage, was Eltern mit ihren Kindern taten
und überlassen diese Frage den Familientherapeuten. Da diese wiederum
nicht mit der Übertragung arbeiten und sich vor allem auf Änderungen
in der Interaktion zwischen den Familienmitgliedern konzentrieren, erreichen
sie selten den Zugang zu dem frühkindlichen Geschehen.

Um zu zeigen, wie sich die frühe Erniedrigung, Mißhandlung
und psychische Vergewaltigung eines Kindes in seinem ganzen späteren
Leben äußern, würde es genügen, die Geschichte einer
einzigen Analyse ganz minuziös nachzuerzählen. Doch dies ist
aus Diskretionsgründen eher unmöglich. Hitlers Leben wurde indessen
bis auf den letzten Tag von sehr vielen Zeugen so genau beobachtet und
protokolliert, daß man an diesem Material unschwer die Inszenierungen
der frühen Kindheitssituation aufweisen kann. Außer den Zeugenaussagen
und den historischen Taten, in denen sich sein Handeln dokumentierte,
hat sich sein Denken und Fühlen, wenn auch verschlüsselt, in
den zahlreichen Reden und in seinem Buch Mein Kampf artikuliert. Es wäre
eine ungemein aufschlußreiche und lohnende Aufgabe, Hitlers ganze
politische Aktivität im Zusammenhang mit seiner frühkindlichen
Verfolgungsgeschichte verständlich zu machen. Doch diese Aufgabe
würde den Rahmen dieses Buches sprengen, weil es mir hier nur um
Beispiele für die Wirksamkeit der “Schwarzen Pädagogik”
geht. Deshalb werde ich mich auf einige wenige Punkte dieser Lebensgeschichte
beschränken, wobei ich bestimmten Erlebnissen aus der Kindheit, die
bisher von Biographen wenig beachtet wurden, eine ganz besondere Bedeutung
beimesse. Da sich die Historiker von Berufs wegen mit äußeren
Tatsachen und die Psychoanalytiker mit dem Ödipuskomplex befassen,
scheinen sich bisher wenige ernsthaft die Frage gestellt zu haben: Was
hat dieses Kind empfunden, was hat es in sich gespeichert, als es von
klein auf täglich von seinem Vater geschlagen und erniedrigt wurde?

Aufgrund der vorhandenen Dokumente kann man sich unschwer ein Bild von
der Atmosphäre machen, in der Adolf Hitler aufgewachsen ist. Die
Struktur seiner Familie ließe sich wohl als Prototyp des totalitären
Regimes charakterisieren. Sein einziger, unumstrittener, oft brutaler
Herrscher ist der Vater. Die Frau und die Kinder sind seinem Willen, seinen
Stimmungen und Launen total unterworfen, müssen Demütigungen
und Ungerechtigkeiten fraglos und dankbar hinnehmen; Gehorsam ist ihr
wichtigstes Lebensprinzip. Die Mutter hat zwar ihren Bereich im Haushalt,
in dem sie, wenn der Vater nicht zu Hause ist, den Kindern gegenüber
Herrscherin ist, d. h. sich teilweise für die erlittenen Demütigungen
an noch Schwächeren entschädigen kann. Im totalitären Staat
kommt diese Funktion etwa der Sicherheitspolizei zu, es sind die Sklavenwächter,
die selber Sklaven sind, die die Wünsche des Diktators ausführen,
ihn in seiner Abwesenheit repräsentieren, in seinem Namen Angst einflößen,
Strafen erteilen, sich zu Herrschern der Rechtlosen aufspielen.

Die Rechtlosen sind die Kinder. Falls nach ihnen kleinere kommen, gibt
es da noch ein Feld, wo die eigenen Demütigungen abreagiert werden
können. Sobald noch schwächere, noch hilflosere Wesen vorhanden
sind, ist man nicht der letzte Sklave. Manchmal aber, wie im Falle von
Christiane F., steht man als Kind weit unter dem Hund, denn der Hund braucht
nicht geschlagen zu werden, wenn doch schon das Kind dafür da ist.
Diese Rangordnung, wie wir sie z. B. an der Organisation der KZ-Lager
(mit Wärtern, Kapos usw.) genau studieren können, von der “Schwarzen
Pädagogik” völlig legitimiert, wird vielleicht immer noch
in manchen Familien eingehalten. Was sich daraus bei einem begabten Kind
ergeben kann, läßt sich am Fall von Adolf Hitler an vielen
Einzelheiten verfolgen.

Der Vater – sein Schicksal und die Beziehung zum Sohn

Über die Herkunft und das Leben Alois Hitlers vor Adolfs Geburt
berichtet Joachim Fest folgendes:

Im Hause des Kleinbauern Johann Trummelschlager in Strones Nr. 13 brachte
die ledige Magd Maria Anna Schicklgruber am 7. Juni 1837 ein Kind zur
Welt, das noch am gleichen Tag auf den Namen Alois getauft wurde. Im Geburtenbuch
der Gemeinde Döllersheim blieb die Rubrik, die über die Person
des Kindesvaters Auskunft gibt, unausgefüllt. Daran änderte
sich auch nichts, als die Mutter fünf Jahre später den stellungslosen,
“vazierenden” (? AM) Müllergesellen Johann Georg Hiedler
heiratete. Vielmehr gab sie ihren Sohn im gleichen Jahr zum Bruder ihres
Mannes, dem Bauern Johann Nepomuk Hüttler aus Spital vermutlich nicht
zuletzt, weil sie fürchtete, das Kind nicht gehörig aufziehen
zu können; jedenfalls waren die Hiedlers, der Überlieferung
nach, so verarmt, daß sie “schließlich nicht einmal mehr
eine Bettstelle hatten, sondern in einem Viehtrog schliefen”.

Mit den beiden Brüdern, dem Müllergesellen Johann Georg Hiedler
und dem Bauern Johann Nepomuk Hüttler, sind zwei der mutmaßlichen
Väter Alois Schicklgrubers benannt. Der dritte ist, einer eher abenteuerlichen,
immerhin aus der engeren Umgebung Hitlers stammenden Versicherung zufolge,
ein Grazer Jude namens Frankenberger, in dessen Haushalt Maria Anna Schicklgruber
tätig gewesen sein soll, als sie schwanger wurde. Jedenfalls hat
Hans Frank, Hitlers langjähriger Anwalt und späterer Generalgouverneur
in Polen, im Rahmen seines Nürnberger Rechenschaftsberichts bezeugt,
Hitler habe im Jahre 1930 von einem Sohn seines Halbbruders Alois in möglicherweise
erpresserischer Absicht einen Brief erhalten, der sich in dunklen Andeutungen
über “sehr gewisse Umstände” der hitlerschen Familiengeschichte
erging. Frank erhielt den Auftrag, der Sache vertraulich nachzugehen,
und fand einige Anhaltspunkte für die Vermutung, daß Frankenberger
der Großvater Hitlers gewesen sei. Der Mangel an nachprüfbaren
Belegen läßt diese These freilich überaus fragwürdig
erscheinen, wie wenig Anlaß Frank auch gehabt haben mag, Hitler
von Nürnberg aus einen jüdischen Vorfahren zuzuschreiben; jüngere
Untersuchungen haben die Glaubwürdigkeit seiner Versicherung weiter
erschüttert, so daß die These der ernsthaften Erörterung
kaum noch standhält. Ihre eigentliche Bedeutung liegt denn auch weniger
in ihrer objektiven Stichhaltigkeit; weit entscheidender und psychologisch
von Bedeutung war, daß Hitler seine Herkunft durch die Ergebnisse
Franks in Zweifel gezogen sehen mußte. Eine erneute Nachforschungsaktion,
im August 1942 von der Gestapo im Auftrag Heinrich Himmlers unternommen,
blieb ohne greifbaren Erfolg, und nicht viel gesicherter als alle übrigen
Großvaterschaftstheorien, wenn auch von einigem kombinatorischen
Ehrgeiz zeugend, ist die Version, die Johann Nepomuk Hüttler “mit
an absolute Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit” als Vater Alois
Schicklgrubers bezeichnet. Zuletzt endet die eine wie die andere dieser
Thesen im Dunkel verworrener, von Not, Dumpfheit und ländlicher Bigotterie
geprägter Verhältnisse: Adolf Hitler wußte nicht, wer
sein Großvater war. Neunundzwanzig Jahre, nachdem Maria Anna Schicklgruber
an Auszehrung infolge Brustwassersucht in Klein-Motten bei Strones verstorben
war, und neunzehn Jahre nach dem Tode ihres Mannes erschien dessen Bruder
Johann Nepomuk zusammen mit drei Bekannten beim Pfarrer Zahnschirm in
Döllersheim und beantragte die Legitimierung seines inzwischen nahezu
vierzigjährigen “Ziehsohnes”, des Zollbeamten Alois Schicklgruber;
allerdings sei nicht er selber, sondern sein verstorbener Bruder Johann
Georg der Vater, dieser habe das auch zugestanden, seine Begleiter könnten
den Sachverhalt bezeugen. Tatsächlich ließ sich der Pfarrer
täuschen oder überreden. In dem alten Standesbuch ersetzte er
unter der Eintragung vom 7. Juni 1837 kurzerhand den Vermerk “unehelich”
durch “ehelich”, füllte die Rubrik zur Person des Vaters
wie gewünscht aus und notierte am Rande fälschlich: “Daß
der als Vater eingetragene Georg Hitler, welcher den gefertigten Zeugen
wohl bekannt, sich als der von der Kindesmutter Anna Schicklgruber angegebene
Vater des Kindes Alois bekannt und um die Eintragung seines Namens in
das hiesige Taufbuch nachgesucht habe, wird durch die Gefertigten bestätigt
+ + + Josef Romeder, Zeuge; + + + Johann Breiteneder, Zeuge; + + + Engelbert
Paukh.” Da die drei Zeugen nicht schreiben konnten, unterzeichneten
sie mit drei Kreuzen, und der Pfarrer setzte ihre Namen hinzu. Doch versäumte
er es, das Datum einzutragen, auch fehlten die eigene Unterschrift sowie
die der (lange verstorbenen) Eltern. Wenn auch gesetzwidrig, war die Legitimierung
doch wirksam; vom Januar 1877 an nannte Alois Schicklgruber sich Alois
Hitler.

Der Anstoß zu dieser dörflichen Intrige ist zweifellos von
Johann Nepomuk Hüttler ausgegangen; denn er hatte Alois erzogen und
war begreiflicherweise stolz auf ihn. Alois war gerade erneut befördert
worden, er hatte geheiratet und es weiter gebracht als je ein Hüttler
oder Hiedler zuvor: nichts war verständlicher, als daß Johann
Nepomuk das Bedürfnis empfand, den eigenen Namen in dem seines Ziehsohnes
zu erhalten. Doch auch Alois mochte ein Interesse an der Namensänderung
reklamieren; denn immerhin hatte er, ein energischer und pflichtbedachter
Mann, inzwischen eine bemerkenswerte Karriere gemacht, so daß sein
Bedürfnis einleuchtete, ihr durch einen “ehrlichen” Namen
Gewähr und festen Grund zu verschaffen. Erst dreizehn Jahre alt,
war er nach Wien zu einem Schuhmacher in die Lehre gegangen, hatte dann
jedoch entschlossen das Handwerk aufgegeben, um in den österreichischen
Finanzdienst einzutreten. Er war rasch avanciert und am Ende als Zollamtsoberoffizial
in die höchste Rangklasse befördert worden, die ihm aufgrund
seiner Vorbildung überhaupt offenstand. Mit Vorliebe zeigte er sich
als Repräsentant der Obrigkeit, bei öffentlichen Anlässen
und legte Wert darauf, mit seinem korrekten Titel angesprochen zu werden.
Einer seiner Zollamtskollegen hat ihn als “streng, genau, sogar pedantisch”
bezeichnet, und er selber hat einem Verwandten, der ihn um Rat bei der
Berufswahl seines Sohnes bat, erklärt, der Finanzdienst verlange
absoluten Gehorsam, Pflichtbewußtsein und sei nichts für “Trinker,
Schuldenmacher, Kartenspieler und andere Leute mit unmoralischer Lebensführung”.
Die photographischen Porträts, die er meist aus Anlaß seiner
Beförderungen anfertigen ließ, zeigen unverändert einen
stattlichen Mann, der unterm mißtrauischen Amtsgesicht rauhe, bürgerliche
Lebenstüchtigkeit und bürgerliche Repräsentationslust erkennen
läßt: nicht ohne Würde und Selbstgefallen stellt er sich,
mit blitzenden Uniformknöpfen, dem Betrachter. (J. Fest, 1978, S.
31.)

Zu diesem Bericht ist noch hinzuzufügen, daß Maria Schicklgruber
nach der Geburt ihres Sohnes von dem bei Fest genannten jüdischen
Kaufmann 14 (vierzehn) Jahre lang Alimente erhalten hat. Den genauen Wortlaut
von Franks Bericht zitiert Fest in seiner Hitler-Biographie von 1973 nicht
mehr, wohl aber in seinem früheren, 1963 erstmals erschienenen, Buch.
Dieser lautet:
Der Vater Hitlers war das uneheliche Kind einer in einem Grazer Haushalt
angestellten Köchin namens Schickelgruber aus Leonding bei Linz .
. . Diese Köchin Schickelgruber, Großmutter Adolf Hitlers,
war in einem jüdischen Haushalt mit Namen Frankenberger bedienstet,
als sie ihr Kind gebar (müßte richtig heißen: als sie
in die Hoffnung kam; der Verf.). Und dieser Frankenberger hat für
seinen damals – die Sache spielt in den dreißiger Jahren des vorigen
Jahrhunderts – etwa neunzehnjährigen Sohn (der die Köchin geschwängert
hatte – AM), mit der Geburt beginnend, bis in das vierzehnte Lebensjahr
dieses Kindes der Schickelgruber Alimente bezahlt. Es gab auch einen jahrelangen
Briefwechsel zwischen diesen Frankenbergers und der Großmutter Hitlers,
dessen Gesamttendenz die stillschweigende gemeinsame Kenntnis der Beteiligten
war, daß das Kind der Schickelgruber unter den Frankenberger alimentenpflichtig
machenden Umständen gezeugt worden war… (J. Fest, 1963, S. 18).

Wenn diese Tatsachen im Dorf so gut bekannt waren, daß sie nach
100 Jahren noch erzählt wurden, ist es undenkbar, daß Alois
nichts davon gewußt hätte. Es ist auch nicht gut denkbar, daß
Menschen in seiner Umgebung an eine derart unbegründete Großzügigkeit
geglaubt hatten. Wie es auch tatsächlich gewesen sein mag, es lastete
auf Alois eine mehrfache Schmach

  1. der Armut;
  2. der unehelichen Geburt;
  3. der Trennung von der leiblichen Mutter im Alter von 5 Jahren und
  4. des jüdischen Blutes.

Über die ersten drei Punkte bestand Gewißheit, der vierte mag
bloß ein Gerücht gewesen sein, das machte die Lage nicht leichter.
Wie will man sich gegen ein Gerücht wehren, mit dem niemand offen
herausrückt, über das nur getuschelt wird? Mit Gewißheiten
kann man besser leben, auch mit den schlimmsten. Man kann sich z. B. beruflich
so hoch hinaufarbeiten, daß von Armut keine Spur mehr bleibt. Das
ist auch Alois gelungen. Es ist ihm auch gelungen, seine zwei späteren
Ehefrauen vorehelich zu schwängern, um das erlittene Schicksal seiner
unehelichen Geburt an seinen Kindern aktiv zu wiederholen und es unbewußt
zu rächen. Aber die Frage nach der eigenen Herkunft blieb sein ganzes
Leben unbeantwortet.

Die Ungewißheit über die eigene Herkunft, wenn nicht bewußt
erlebt und betrauert, kann einen Menschen in eine große Unruhe und
Unrast bringen, besonders aber, wenn sie, wie im Fall von Alois, mit einem
ominösen Gerücht, das weder nachweisbar noch je vollständig
widerlegbar war, verbunden ist.

Ich hörte kürzlich von einem beinahe 80jährigen Mann,
Einwanderer aus Osteuropa, der seit 35 Jahren mit Frau und erwachsenen
Kindern in Westeuropa lebt. Zu seinem größten Erstaunen erhielt
dieser Mann vor kurzem einen Brief von seinem jetzt 53 jährigen,
unehelichen Sohn aus der Sowjetunion, von dem er seit 50 Jahren glaubte,
er wäre tot. Das damals dreijährige Kind befand sich gerade
bei seiner Mutter, als diese erschossen wurde. Der Vater des Kindes kam
anschließend als politischer Häftling ins Gefängnis, und
es ist ihm später nie eingefallen, diesen Sohn zu suchen, so sehr
war er von dessen Tod überzeugt. Der Sohn aber, der den Namen der
Mutter trug, schrieb in seinem Brief, daß er seit 50 Jahren keine
Ruhe gehabt hätte und, von einer Information zur anderen geleitet,
immer wieder neue Hoffnungen geschöpft habe, die sich immer wieder
zerschlugen. Aber er hat es fertig gebracht, seinen Vater nach 50 Jahren
zu finden, obwohl er zunächst nicht einmal seinen Namen kannte. Man
kann sich vorstellen, wie stark dieser Mann seinen unbekannten Vater idealisiert
hat, welche Hoffnungen er an das Wiedersehen geknüpft hat. Denn es
mußten ungeheure Energiemengen dafür verwendet werden, um von
einer kleinen Provinzstadt in der Sowjetunion aus einen Mann in Westeuropa
ausfindig zu machen.

Diese Geschichte zeigt, wie lebensnotwendig es für einen Menschen
sein kann, die ungelöste Frage seiner Herkunft zu klären und
dem unbekannten Elternteil zu begegnen. Es ist unwahrscheinlich, daß
Alois Hitler bewußt solche Bedürfnisse hätte erleben können,
außerdem war es ihm nicht möglich, den unbekannten Vater zu
idealisieren, wenn das Gerücht umging, daß dieser ein Jude
gewesen war, was in seiner Umgebung Schmach und Isolierung bedeutete.
Der von Joachim Fest beschriebene, an Fehlleistungen reiche Akt der Änderung
des Namens im Alter von 40 Jahren zeigt, wie bedeutsam, aber auch wie
konfliktreich die Frage der Herkunft für Alois war.

Doch emotionale Konflikte lassen sich nicht mit offiziellen Dokumenten
aus der Welt schaffen. Das ganze Gewicht dieser mit Leistungen, Beamtenstelle,
Uniform und protzigem Verhalten abgewehrten Unruhe bekamen seine Kinder
zu spüren.
John Toland berichtet:

Er war streitsüchtig und reizbar geworden. Zum Hauptobjekt der väterlichen
Mißstimmung wurde Alois jr. Zeitweise lag der Vater, der absoluten
Gehorsam verlangte, mit diesem Sohn in dauerndem Streit, weil der Junge
sich weigerte, diese Fügsamkeit zu zeigen. Später beklagte Alois
jr. sich bitter darüber, daß sein Vater ihn häufig “unbarmherzig
mit der Nilpferdpeitsche geschlagen” habe, aber im damaligen Österreich
waren schlimme körperliche Züchtigungen von Kindern keinesfalls
unüblich; man erachtete eine solche Behandlung als günstig für
die seelische Entwicklung des Kindes. Als der Junge einmal an drei Tagen
nicht zur Schule gegangen war, weil er ein Spielzeugboot fertigstellen
wollte, wurde er wieder von seinem Vater, der ihn durchaus zu diesem Hobby
ermutigt hatte, mit der Peitsche traktiert und dann so lange mißhandelt,
bis er das Bewußtsein verlor. Einigen Erzählungen zufolge wurde
auch Adolf – wenn auch nicht so häufig – mit der Peitsche gezüchtigt,
und den Hund schlug der Herr des Hauses “so lange, bis er sich krümmte
und den Fußboden näßte”. Gewalttätigkeiten
dieser Art mußte, Alois Hitler jr. zufolge, sogar die duldsame Ehefrau
Klara Hitler ertragen; wenn diese Angaben stimmen, so müssen solche
Auftritte bei Adolf Hitler einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen
haben (J. Toland, 1977, S. 26).

Interessanterweise schreibt Toland: “wenn diese Angaben stimmen”,
obwohl er selber eine Information von Adolfs Schwester Paula besitzt,
die er zwar in seinem Buch nicht veröffentlicht, die aber in der
Monographie von Helm Stierlin mit dem Hinweis auf die Toland Collection
zitiert wird. Sie lautet:

Es war vor allem Bruder Adolf, der meinen Vater zu extremer Härte
provozierte und jeden Tag sein gehöriges Maß an Prügel
bekam. Er war ein etwas unflätiger kleiner Lausbub, und alle Versuche
seines Vaters, ihm die Frechheit auszuprügeln und ihn dazu zu bringen,
den Beruf eines Staatsbeamten zu wählen, waren vergeblich. (H. Stierlin
1975, S. 23).

Wenn die Schwester Paula John Toland persönlich erzählte, daß
ihr Bruder Adolf jeden Tag “sein gehöriges Maß an Prügel”
vom Vater bekam, besteht kein Grund, daran zu zweifeln. Es ist aber bezeichnend
für alle Biographen, daß sie Mühe haben, sich mit dem
Kind zu identifizieren und ganz unbewußt die Mißhandlungen
der Eltern bagatellisieren. Sehr aufschlußreich ist die folgende
Stelle von Franz Jetzinger:

Man schrieb auch, daß der Bub vom Vater arg geschlagen worden sei.
Man beruft sich dabei auf einen angeblichen Ausspruch der Angela, die
gesagt haben soll: “Adolf, denk daran, wie ich und die Mutter den
Vater am Uniformrock zurückhielten, wenn er dich schlagen wollte!”
Dieser angebliche Ausspruch ist sehr verdächtig. Der Vater trug seit
der Hafelder Zeit keine Uniform mehr; das letzte Jahr, da er noch die
Uniform trug, lebte er nicht bei der Familie; diese Szenen hätten
sich also abspielen müssen zwischen 1892 und 1894; da war Adolf erst
vier Jahre, und die Angela erst zwölf Jahre, da hätte sie es
nie gewagt, den so strengen Vater am Uniformrock zurückzuhalten.
Das hat einer erfunden, der in der Zeitrechnung schlecht beschlagen war!
Der “Führer” selber erzählte seinen Sekretärinnen,
denen er überhaupt gern Mätzchen vormachte, der Vater habe ihm
einmal dreißig Schläge auf das verlängerte Rückgrat
appliziert, aber der Führer erzählte in diesem Kreis manches,
was nachweisbar unrichtig ist, und gerade diese Erzählung verdient
um so weniger Glauben, weil er sie im Zusammenhang mit Indianergeschichten
erzählte und sich brüstete, er habe bei dieser Prozedur nach
Indianerart nicht einen einzigen Laut von sich gegeben. Es mag schon sein,
daß der recht unfolgsame und widerborstige Bub ab und zu eine appliziert
bekam, verdient hätte er es redlich, aber zu den “verprügelten
Kindern” gehörte er auf keinen Fall; sein Vater war ein durch
und durch fortschrittlich gesinnter Mann. Mit solch erkünstelten
Theorien löst man das Rätsel Hitler nicht, kompliziert es nur!

Es hat im Gegenteil weit mehr den Anschein, daß der Vater Hitler,
der doch zur Leondinger Zeit schon mehr als 61 Jahre alt war, beim Buben
alle fünf grad sein ließ und sich um seine Erziehung überhaupt
nicht viel kümmerte. (Jetzinger, 1957, S.94.)

Wenn Jetzingers historische Belege stimmen, und es besteht kein Grund,
daran zu zweifeln, so bestätigt er mit seiner “Beweisführung”
meine feste Überzeugung, daß Adolf nicht erst als großer
Junge, sondern bereits als sehr kleines Kind, nämlich unter vier
Jahren, geschlagen wurde. Eigentlich bedarf es dieser Beweise nicht, denn
das ganze Leben Adolfs ist ein Beweis dafür. Er selber schreibt in
Mein Kampf nicht zufällig vom “sagen wir” dreijährigen
Kind. Jetzinger nimmt offenbar an, daß dies nicht möglich gewesen
wäre. Warum eigentlich nicht? Wie oft ist doch das kleine Kind der
Träger des im Erwachsenen abgewehrten Bösen.¹
In den Erziehungsschriften, die ich oben zitierte, und in den Büchern
des Dr. Schreber, die seinerzeit ungemein populär waren, wird ja
die Züchtigung des Säuglings eindringlich empfohlen. Immer wieder
wird darauf hingewiesen, daß man das Böse nie früh genug
austreiben könne, damit das “Gute ungestört wachse”.
Außerdem wissen wir aus Zeitungsberichten, daß Mütter
ihre Säuglinge schlagen, und wir wüßten vielleicht noch
viel mehr darüber, wenn Kinderärzte frei erzählen würden,
was sie täglich erleben, aber bis vor kurzem hat es ihnen die ärztliche
Schweigepflicht (zumindest in der Schweiz) sogar ausdrücklich verboten,
und jetzt schweigen sie vielleicht immer noch aus Gewohnheit oder “aus
Anstand”. Sollte also jemand an den frühen Züchtigungen
Adolf Hitlers zweifeln, so wäre für ihn die oben zitierte Stelle
aus Jetzingers Biographie eine objektive Information, obwohl Jetzinger
eigentlich das Gegenteil beweisen möchte – jedenfalls bewußt.
Unbewußt hat er einiges mehr wahrgenommen, was sich in dem offenen
Widerspruch zeigt. Denn entweder mußte Angela Angst haben vor dem
“strengen Vater”, dann war Alois nicht so gutmütig wie
Jetzinger ihn darstellt, oder er war so, dann hätte sie keine Angst
zu haben brauchen.

Ich habe mich so lange bei dieser Stelle aufgehalten, weil sie mir als
Beleg dafür dient, wie Biographien durch die Schonung der Eltern
entstellt werden. Bezeichnenderweise spricht Jetzinger von “Mätzchen”
da, wo Hitler seine bittere Wahrheit erzählt, behauptet, daß
er “auf keinen Fall” zu den “verprügelten Kindern”
gehörte und daß “der unfolgsame und widerborstige Bub”
seine Schläge “redlich verdiente”. Denn “sein Vater
war ein durch und durch (!) fortschrittlich gesinnter Mann”. Über
Jetzingers Begriff der fortschrittlichen Gesinnung ließe sich sicher
streiten, aber abgesehen davon gibt es Väter, die nach außen
tatsächlich fortschrittlich denken und nur bei ihren Kindern oder
sogar nur bei einem, dem dazu auserwählten, die Geschichte ihrer
Kindheit wiederholen.

Aus der pädagogischen Haltung, die ihre Hauptaufgabe im Schutz der
Eltern vor den Vorwürfen des Kindes sieht, ergeben sich die seltsamsten
psychologischen Interpretationen. So meint z. B. Fest, daß erst
Franks Bericht von 1938 über die jüdische Herkunft seines Vaters
bei Adolf Hitler Aggressionen gegen den Vater ausgelöst hätte.
Im Gegensatz zu meiner These, daß Adolf Hitlers begründeter
Kindheitshaß auf seinen Vater im Judenhaß ein Ventil gefunden
hatte, meinte Fest, daß Adolf Hitler als erwachsener Mann, im Jahre
1938, anfing, seinen Vater zu hassen, nachdem er durch Frank von dessen
jüdischer Abstammung erfahren hatte. Er schreibt:

Niemand vermag zu sagen, welche Reaktionen die Aufdeckung dieser Zusammenhänge
in seinem Sohn auslöste, der sich soeben zur Eroberung der Macht
in Deutschland anschickte; doch spricht einiges dafür, daß
die dumpfen Aggressionen, die er dem Vater gegenüber stets empfunden
hatte, nun in offenen Haß umschlugen. Schon im Mai 1938, wenige
Wochen nach dem Anschluß Österreichs, ließ er die Ortschaft
Döllersheim und deren weitere Umgebung in einen Truppenübungsplatz
umwandeln. Die Geburtsstätte des Vaters und die Grabstelle der Großmutter
wurden von den Panzern der Wehrmacht dem Erdboden gleichgemacht (J. Fest,
1963, S. 18).

Ein solcher Haß auf den Vater kann nicht dem bloßen Gehirn
eines erwachsenen Menschen entstammen, einer “intellektuell”
antisemitischen Haltung gewissermaßen; ein solcher Haß hat
erfahrungsgemäß tiefe Wurzeln im Dunkel der eigenen Kindheitserlebnisse.
Bezeichnenderweise meint auch Jetzinger, daß sich der “politische
Haß” gegen die Juden nach Franks Nachricht in einen “persönlichen
Haß” gegen den Vater und die Familienangehörigen “gewandelt”
hätte (vgl. Jetzinger, S. 54).

Nach dem Tod von Alois brachte die Linzer “Tagespost” vom 8.1.1903
einen Nachruf, in dem es hieß:

“Fiel auch ab und zu ein schroffes Wort aus seinem Munde, unter
einer rauhen Hülle barg sich ein gutes Herz. Für Recht und Rechtlichkeit
trat er jeder Zeit mit aller Energie ein. In allen Dingen unterrichtet,
konnte er überall ein entscheidendes Wort mitsprechen.” Der
Grabstein Alois Hitlers trägt ein Bild des einstigen Zollamts-Oberoffizials,
auf dem er den Blick entschlossen nach oben richtet (zitiert nach J. Toland,
S. 34).

Smith berichtet sogar, daß Alois einen “echten Respekt vor
den Rechten der Menschen und eine tiefe Sorge um ihr Wohlergehen zeigte”
(Stierlin, S. 20).

Was bei “Respektpersonen” als “rauhe Hülle” ankommt,
kann beim eigenen Kind die reinste Hölle sein. Dafür gibt auch
J. Toland ein Beispiel:

In einer besonders rebellischen Phase beschloß Adolf eines Tages,
davonzulaufen. Sein Vater erfuhr jedoch davon und schloß ihn in
einem der oberen Räume ein. In der Nacht versuchte der Junge durch
eine Fensteröffnung zu entkommen; und nachdem sie sich als zu eng
erwiesen hatte, entledigte er sich seiner Kleider. In diesem Augenblick
hörte er seinen Vater die Treppe heraufkommen; er gab seinen Versuch
auf und bedeckte seine Blößen hastig mit einem Tischtuch. Der
alte Herr griff diesmal nicht zur Peitsche; stattdessen brach er in Gelächter
aus und rief seine Frau; sie möge doch heraufkommen und sich den
“Togajüngling” ansehen. Dieser Spott traf den Sohn härter
als jede körperliche Züchtigung. Helene Hanfstaengl bekannte
er später, er habe “lange gebraucht, um über diese Episode
hinwegzukommen”.

Viele Jahre später erzählte Hitler einer seiner Sekretärinnen,
er habe einmal in einem Abenteuerroman gelesen, es sei ein Zeichen von
Mut, seinen Schmerz nicht zu zeigen. Und so “nahm ich mir vor, bei
der nächsten Tracht Prügel keinen Laut von mir zu geben. Und
als dies soweit war – ich weiß noch, meine Mutter stand draußen
ängstlich an der Tür -, habe ich jeden Schlag mitgezählt.
Die Mutter dachte, ich sei verrückt geworden, als ich ihr stolz strahlend
berichtete: ” Zweiunddreißig Schläge hat mir der Vater
gegeben! ” (Toland, S. 30).

Aus diesen und ähnlichen Stellen bekommt man den Eindruck, daß
Alois die blinde Wut über die Erniedrigungen seiner Kindheit immer
wieder in seinen Sohn hineingeschlagen hat. Offenbar stand er unter dem
Zwang, gerade diesem Kind die Erniedrigungen und die Schmerzen seiner
Kindheit zukommen zu lassen.

Eine Geschichte könnte hier helfen, die Hintergründe eines
solchen Zwanges zu verstehen. In einer amerikanischen Fernsehsendung wird
eine therapeutische Gruppe junger Mütter gezeigt, die berichten,
wie sie ihre Säuglinge mißhandelt haben. Eine der Mütter
erzählt, daß sie es einmal nicht mehr aushalten konnte, das
Schreien des Kindes zu hören, es plötzlich aus seinem Bettchen
gerissen und an die Wand geschlagen hätte. Sie vermittelte dem Zuschauer
sehr deutlich ihre damalige Verzweiflung und erzählte weiter, daß
sie, als sie sich nicht mehr zu helfen wußte, den Telefondienst
benutzte, den es in Amerika für diese Zwecke zu geben scheint. Die
Stimme am Telefon fragte, wen sie eigentlich hätte schlagen wollen.
Zu ihrer eigenen Überraschung hörte sie sich sagen: “mich
selbst” und brach schluchzend zusammen.

Mit dieser Geschichte möchte ich erklären, wie ich das Schlagen
von Alois verstehe. Das ändert aber nichts daran, daß Adolf,
der ja das alles als Kind nicht wissen konnte, in einer täglichen
Bedrohung, ja in einer Hölle lebte, in einer ständigen Angst
und im realen Trauma; daß er zugleich gezwungen war, alle diese
Gefühle zu unterdrücken und sogar nur so seinen Stolz retten
konnte; daß er den Schmerz nicht zeigte und ihn auch abspalten mußte.

Welch unbändigen, unbewußten Neid mußte der kleine Junge
schon mit seinem bloßen Dasein in Alois provoziert haben! Geboren
als “legales” eheliches Kind, dazu als Sohn eines Zollamtsoffizials,
bei einer Mutter, die ihn nicht wegen Armut anderen Leuten abgeben mußte,
und mit einem Vater, den er kannte (den er sogar täglich körperlich
zu spüren bekam, so deutlich und nachhaltig, daß er ihn das
ganze Leben nicht vergessen sollte). War es nicht genau das, was Alois
so schmerzlich entbehren mußte und was er trotz größter
Anstrengung seines ganzen Lebens nicht erreichen konnte, weil man das
Schicksal der Kindheit niemals ändern kann? Man kann es nur hinnehmen
und mit der Wahrheit der Vergangenheit leben oder aber es vollständig
verleugnen und dafür andere leiden lassen.

Es fällt vielen Menschen sehr schwer, die traurige Wahrheit hinzunehmen,
daß Grausamkeit meistens unschuldige Menschen trifft. Man lernt
ja schon als kleines Kind, alle Grausamkeiten der Erziehung als Strafen
für eigenes Verschulden anzusehen. Eine Lehrerin erzählte mir,
daß mehrere Kinder ihrer Klasse meinten, nachdem sie den Holocaust-Film
gesehen hatten: “Die Juden mußten doch schuld sein, sonst hätte
man sie nicht so bestraft”.
Von dort her sind auch die Bemühungen aller Biographen zu verstehen,
die dem kleinen Adolf alle möglichen Sünden zuschreiben, vor
allem Faulheit, Widerborstigkeit und Lügenhaftigkeit. Kommt denn
ein Kind als Lügner auf die Welt? Und ist die Lüge nicht manchmal
die einzige Chance, bei einem solchen Vater zu überleben und einen
Rest seiner Würde zu retten? In einer so totalen Auslieferung an
die Launen einer anderen Person, wie Adolf Hitler (und nicht nur er!)
sie erlebte, sind Verstellung und schlechte Schulzeugnisse manchmal die
einzige Möglichkeit, ein Stück Autonomie im Geheimen zu entwickeln.
Es ist daher eher anzunehmen, daß Hitlers spätere Schilderungen
eines offenen Kampfes mit dem Vater um die Berufswahl nachträgliche
Retouchen waren, aber nicht weil der Sohn “von Natur aus” feige
war, sondern weil dieser Vater keine Diskussionen zulassen konnte. Eher
wird die folgende Stelle aus Mein Kampf dem wahren Sachverhalt entsprechen:

Ich konnte mit meinen inneren Anschauungen etwas zurückhalten, brauchte
ja nicht immer gleich zu widersprechen. Es genügte mein eigener fester
Entschluß, später einmal nicht Beamter zu werden, um mich innerlich
vollständig zu beruhigen (zit. n. K. Heiden, 1936, S. 16).

Es ist bezeichnend, daß der Biograph, Konrad Heiden, der diese
Stelle zitiert, am Schluß bemerkt: “also ein kleiner Duckmäuser”.
Wir verlangen eben von einem Kind, daß es sich in einem totalitären
Regime offen und ehrlich verhält, zugleich aber aufs Wort gehorcht,
gute Noten heimbringt, dem Vater nicht widerspricht, immer seine Pflicht
erfüllt.

Auch der Biograph Rudolf Olden schreibt in seiner Biographie (1935) folgendes
über Hitlers Schulschwierigkeiten:

Unlust und Unfähigkeit steigern sich schnell. Mit der harten Hand
des Vaters, der plötzlich stirbt, fällt ein wichtiger Antrieb
(!) weg (R. Olden, 1935, S. 18).

Die Schläge des Vaters sollten also der Antrieb zum Lernen sein.
Das schreibt ausgerechnet der gleiche Biograph, der kurz zuvor über
Alois folgendes berichtet:

Er hatte auch als Verabschiedeter den typischen Beamtenstolz und verlangte,
daß man ihn Herr und mit seinem Titel anredete. Die Bauern und Häusler
sagen Du zueinander. Zum Spott gaben sie dem Ortsfremden die Ehren, die
er verlangte. In ein gutes Verhältnis kam er nicht zu seiner Umgebung.
Dafür hatte er im eigenen Haus eine familiäre Diktatur errichtet.
Die Frau sah zu ihm auf, für die Kinder hatte er eine harte Hand.
Besonders Adolf verstand er nicht. Er tyrannisierte ihn. Sollte der Junge
kommen, so pfiff der alte Unteroffizier auf zwei Fingern (Olden, S. 12).

Diese Szene, 1935 beschrieben, als noch viele Bekannte der Familie Hitler
in Braunau lebten und als es noch nicht so schwer war, Informationen zu
bekommen, findet sich meines Wissens nicht mehr in den Nachkriegsbiographien.
Das Bild des Mannes, der sein Kind mit einem Pfiff wie einen Hund hereinruft,
erinnert so stark an die Beschreibungen aus den KZ- Lagern, daß
man sich nicht wundern kann, wenn die heutigen Biographen das – aus einer
verständlichen Scheu – übersehen haben. Dazu kommt die in allen
Biographien zu findende Tendenz, die Brutalität des Vaters zu verharmlosen,
mit dem Hinweis, daß Schläge damals ganz normal waren, oder
sogar mit komplizierten Beweisen gegen solche ” Verleumdungen”
des Vaters, wie das z. B. Jetzinger tut. Traurigerweise sind gerade Jetzingers
sorgfaltige Nachforschungen eine wichtige Quelle der späteren Arbeiten.
Seine psychologischen Einsichten entfernen sich aber nicht weit von denen
eines Alois.

Wie Hitler als Kind seinen Vater wirklich erfahren haben muß, zeigte
er, indem er unbewußt dessen Verhalten übernahm und in der
Weltgeschichte aktiv spielte. Der zackige, uniformierte, etwas lächerliche
Diktator, wie Chaplin ihn in seinem Film dargestellt hat und wie ihn auch
die Feinde gesehen haben, das war Alois in den Augen seines kritischen
Sohnes. Der große, geliebte und bewunderte Führer des deutschen
Volkes, das war der andere Alois, der bewunderte und geliebte Mann der
unterwürfigen Mutter Klara, deren Ehrfurcht und Bewunderung der ganz
kleine Adolf zweifellos noch teilte. Diese beiden verinnerlichten Aspekte
seines Vaters lassen sich in Adolfs späteren Inszenierungen an vielen
Stellen so deutlich finden (denken wir doch nur an den Gruß “Heil
Hitler”, an die Huldigungen der Massen usw.), daß man den Eindruck
bekommt, seine künstlerische Begabung hätte ihn mit ungeheurer
Wucht dazu gedrängt, im ganzen späteren Leben die ersten, unbewußt
gebliebenen, aber tief eingeprägten Eindrücke vom tyrannischen
Vater in Szene zu setzen und darzustellen. Sie sind jedem Zeitgenossen
unvergeßlich geblieben, wobei ein Teil der Zeitgenossen den Diktator
im Entsetzen des mißhandelten und ein anderer ihn in der vollen
Hingebung und Bejahung des ahnungslosen Kindes erleben konnte. Jeder große
Künstler schöpft aus dem Unbewußten seiner Kindheit, und
Hitlers Werk hätte auch ein Kunstwerk werden können, wenn es
nicht Millionen das Leben gekostet hätte, wenn nicht so viele Menschen
seine ungelebten, in der Grandiosität abgewehrten Schmerzen hätten
ertragen müssen. Aber trotz der Identifikation mit dem Aggressor
gibt es Stellen in Mein Kampf, die auch direkt zeigen, wie Adolf Hitler
seine Kindheit erlebte.

“In einer Kellerwohnung, aus zwei dumpfen Zimmern bestehend, haust
eine sechsköpfige Arbeiterfamilie. Unter den Kindern auch ein Junge
von, nehmen wir an, drei Jahren [. . .] Schon die Enge und Überfüllung
des Raumes führt nicht zu günstigen Verhältnissen. Streit
und Hader werden sehr häufig schon auf diese Weise entstehen [ .
. . ] Wenn [ . . . ] dieser Kampf unter den Eltern selber ausgefochten
wird, und zwar fast jeden Tag, in Formen, die an innerer Rohheit oft wirklich
nichts zu wünschen übriglassen, dann müssen sich, wenn
auch noch so langsam, endlich die Resultate eines solchen Anschauungsunterrichtes
bei den Kleinen zeigen. Welcher Art sie sein müssen, wenn dieser
gegenseitige Zwist die Formen roher Ausschreitungen des Vaters gegen die
Mutter annimmt, zu Mißhandlungen im betrunkenen Zustand führt,
kann sich der ein solches Milieu eben nicht Kennende nur schwer vorstellen.
Mit 6 Jahren ahnt der kleine, zu bedauernde Junge Dinge, vor denen ein
Erwachsener nur Grauen empfinden kann. . . Was der kleine Kerl sonst zu
Hause hört, führt auch nicht zu einer Stärkung oder Achtung
vor der lieben Mitwelt [. . .]” “Übel aber endet es, wenn
der Mann von Anfang an seine eigenen Wege geht und das Weib, gerade den
Kindern zuliebe, dagegen auftritt. Dann gibt es Streit und Hader, und
in dem Maße, in dem der Mann der Frau nun fremder wird, kommt er
dem Alkohol näher. Kommt er endlich Sonntag oder Montag nachts selber
nach Hause, betrunken und brutal, immer aber befreit vom letzten Heller
und Pfennig, dann spielen sich oft Szenen ab, daß Gott erbarm.

In Hunderten von Beispielen habe ich dies alles erlebt [. . .]” (Stierlin,
1975, S. 24).
Obwohl die tiefe und nachhaltige Verletzung seiner Würde Adolf Hitler
nicht erlaubt hätte, die Situation dieses “nehmen wir an”
dreijährigen Jungen als die seine in der Ichform zu schildern, kann
am Erlebnisgehalt dieser Darstellung kein Zweifel bestehen.
Ein Kind, das von seinem Vater nicht mit seinem Namen gerufen, sondern
wie ein Hund herbeigepfiffen wird, hat in der Familie den gleichen rechtslosen
und namenlosen Status wie “der Jude” im Dritten Reich.

Es ist Hitler tatsächlich gelungen, aus dem unbewußten Wiederholungszwang
sein Familientrauma auf das ganze deutsche Volk zu übertragen. Durch
die Einführung der Rassengesetze wurde es für jeden Bürger
notwendig, seine Herkunft bis in die dritte Generation zurück legitimieren
zu müssen und die daraus resultierenden Konsequenzen zu tragen. Die
falsche oder unklare Herkunft konnte einem Menschen zuerst Schmach, Erniedrigung
und schließlich den Tod bedeuten – und das mitten im Frieden, mitten
im Staat, der sich ein Rechtsstaat nannte. Das ist ein Phänomen,
das nirgends sonst in der Geschichte anzutreffen ist, nirgends auch Vorbilder
hat. Denn die Inquisition z. B. verfolgte die Juden ihres Glaubens wegen,
sie ließ ihnen jedoch die Möglichkeit einer Taufe zum Überleben.
Im Dritten Reich haben aber kein Verhalten, keine Verdienste und Leistungen
geholfen – als Jude war man von der Herkunft her zur Erniedrigung und
später zum Tode verurteilt. Spiegelt sich hier nicht das Schicksal
Hitlers in zweifacher Weise?

  1. Es war ja auch für Hitlers Vater unmöglich, trotz aller Anstrengungen,
    Erfolge, beruflicher Aufstiege vom Schuster zum Zollamtsoberoffizial den
    “Schmutzfleck” in seiner Vergangenheit auszutilgen, wie es später
    den Juden verboten war, den Davidstern zu entfernen. Der “Schmutzfleck”
    blieb bestehen und bedrückte ihn sein ganzes Leben. Es mag sein,
    daß die vielen Umzüge (nach Fest elfmal) neben dem beruflichen
    auch diesen Grund gehabt haben – Spuren zu verwischen. Diese Tendenz ist
    ja auch in Adolfs Leben sehr deutlich: “Als ihm 1942 berichtet wurde,
    daß sich in dem Dorf Spital [der Herkunftsgegend seines Vaters –
    AM] eine Gedenktafel befände, bekam er einen seiner hemmungslosen
    Wutanfälle”, berichtet Fest.
  2. Zugleich bedeutete das Rassengesetz die Wiederholung des eigenen Kindheitsdramas.
    So wie der Jude jetzt keine Chance hatte, konnte einst das Kind Adolf
    den Schlägen seines Vaters nicht entgehen, denn die Ursache der Schläge
    waren ja die ungelösten Probleme des Vaters, die Abwehr seiner Trauer
    um die eigene Kindheit, nicht aber das Verhalten des Kindes. Solche Väter
    pflegen auch ihre schlafenden Kinder aus den Betten zu zerren, wenn sie
    mit einer Stimmung nicht fertig werden (sich vielleicht gerade irgendwo
    in der Gesellschaft klein und unsicher gefühlt haben), und ihr Kind
    zu verprügeln, um sich ihr narzißtisches Gleichgewicht wieder
    zu verschaffen (vgl. Christiane F., S. 19 f.).
    Diese Funktion hatte der Jude im Dritten Reich, das sich auf seine Kosten
    von der Schmach der Weimarer Republik erholen mußte, und diese Funktion
    hatte Adolf in seiner ganzen Kindheit. Er mußte es wehrlos hinnehmen,
    daß jeden Moment ein Gewitter über ihn losbrechen konnte, ohne
    daß er es mit irgendeinem Einfall, irgendeiner Leistung hätte
    von sich abwenden oder vermeiden können.

Weil Adolf mit seinem Vater keine Zärtlichkeiten verband (er nennt
ihn in Mein Kampf bezeichnenderweise “Herr Vater”), war der
aufsteigende Haß in ihm kontinuierlich und eindeutig. Anders ist
es bei Kindern, deren Väter Wutausbrüche haben und zwischendurch
wieder reizend mit den Kindern spielen können. Da kann der Haß
in dieser reinen Form gar nicht so kultiviert werden. Diese Menschen haben
es in einer anderen Art sehr schwer, suchen sich Partner mit einer ähnlich
zu Extremen neigenden Struktur, sind mit tausend Ketten an diese gebunden,
können die Partner nicht verlassen, leben immer in der Erwartung,
daß die gute Seite endlich von Dauer sein wird, verzweifeln bei
jedem neuen Ausbruch immer aufs Neue. Solche sado-masochistischen Bindungen,
die auf das doppelte Gesicht eines Elternteils zurückgehen, sind
stärker als eine Liebesbeziehung, sie sind nicht zu trennen und bedeuten
permanente Selbstzerstörung.

Dem Kind Adolf war die Kontinuität der Schläge gesichert. Was
er auch getan haben mochte, es konnte auf die täglichen Prügel
keinen Einfluß haben. Es blieb ihm nur die Verleugnung der Schmerzen,
also die Selbstverleugnung und die Identifikation mit dem Aggressor. Niemand
konnte ihm helfen, nicht einmal seine Mutter, die sonst in Gefahr geriet.
Denn auch sie wurde geschlagen (vgl. J. Toland, S. 26).
Diese ständige Bedrohung spiegelt sich im Schicksal der Juden im
Dritten Reich sehr genau wider. Versuchen wir uns eine Szene vorzustellen:
Ein Jude geht auf die Straße, vielleicht um Milch zu holen, da stürzt
sich ein Mensch mit der SA-Binde um den Arm auf ihn, ein Mensch, der das
Recht hat, alles mit ihm zu machen, was er will, was ihm seine Phantasie
gerade eingibt und was für sein Unbewußtes im Moment notwendig
ist. Auf all das kann der Jude jetzt keinen Einfluß nehmen- so wenig
wie einst das Kind Adolf. Wehrt sich der Jude, kann und darf er zu Tode
getrampelt werden, wie seinerzeit der 11jährige Adolf, als er mit
drei Kameraden verzweifelt von zu Hause weggelaufen war, um sich auf einem
selbstgebauten Floß den Fluß heruntertreiben zu lassen und
sich vor der Gewalt des Vaters zu retten. Für den bloßen Gedanken
an eine Flucht wurde er beinahe zu Tode geprügelt (vgl. H. Stierlin,
S. 23). Auch dem Juden steht jetzt keine Fluchtmöglichkeit zur Verfügung,
alle Wege sind abgeschnitten und führen in den Tod, wie das Bahngeleise,
das vor Treblinka und vor Auschwitz einfach endete, da hörte das
Leben auf. So fühlt sich doch jedes Kind, das täglich geschlagen
wird und wegen des Gedankens an Flucht fast umgebracht worden wäre.

In der von mir geschilderten Szene, die sich in vielen Varianten zwischen
1933 und 1945 unzählige Male abgespielt hat, muß der Jude alles
wie ein hilfloses Kind ertragen. Er muß es über sich ergehen
lassen, daß dieses schreiende, außer sich geratene, in ein
Monstrum verwandelte Geschöpf mit der SA-Binde ihm die Milch über
den Kopf gießt, andere herbeiruft, um sich zu amüsieren (wie
Alois über Adolfs Toga lachte), sich jetzt groß und stark fühlt
neben einem Menschen, der ganz ihm, ganz seiner Macht ausgeliefert ist.
Wenn dieser Jude das Leben liebt, wird er es jetzt nicht aufs Spiel setzen,
nur um sich Mut und Härte zu beweisen. Er verhält sich also
ruhig und ist innerlich voller Widerwillen und Verachtung für diesen
Menschen, genauso wie damals Adolf, der die Schwäche seines Vaters
mit der Zeit durchschaute und anfing, ihm mit seinem Schulversagen, das
den Vater kränkte, wenigstens ein bißchen zurückzuzahlen.

Joachim Fest meint, der Grund von Adolfs Schulversagen könne nicht
in seiner Beziehung zum Vater liegen, sondern in der Erschwerung der gestellten
Forderungen – in Linz, wo Adolf der Konkurrenz mit den aus bürgerlichen
Häusern stammenden Kameraden nicht mehr gewachsen war. Andererseits
schreibt Fest, Adolf sei “ein aufgeweckter, lebhafter und offenbar
begabter Schüler gewesen” (S. 37). Warum sollte ein solcher
Junge in der Schule versagen, wenn nicht aus dem Grund, den er selber
angibt, dem Fest aber mißtraut, weil er Adolf “einen Hang zur
Bequemlichkeit” und “ein schon frühzeitig hervortretendes
Unvermögen zu geregelter Arbeit” vorwirft (S. 37). So hätte
Alois reden können, aber daß der gründlichste Biograph,
der auf Tausenden von Seiten Hitlers spätere Leistungsfähigkeit
selber unter Beweis stellt, sich mit dem Vater gegen das Kind identifiziert,
wäre erstaunlich, wenn es nicht die Regel wäre. Fast alle Biographen
übernehmen fraglos die Wertmaßstäbe der Erziehungsideologie,
nach der die Eltern immer recht haben und die Kinder faul, verwöhnt,
“störrisch” und “launisch” (S. 37) sind, wenn
sie nicht unter allen Umständen wie gewünscht funktionieren.
Falls die Kinder etwas gegen die Eltern sagen, kommen sie oft in den Verdacht
der Lüge. Fest schreibt:

Ihn (den Vater) hat der Sohn später sogar, um einige effektvolle
Schwärze ins Bild zu bringen (als ob das noch nötig gewesen
wäre! AM) zum Trunksüchtigen gemacht, den er bettelnd und schimpfend,
in Szenen “gräßlicher Scham” aus “stinkenden,
rauchigen Kneipen” nach Hause zerren mußte (Fest 1978, S. 37).

Warum ist das effektvolle Schwärze? Weil sich die Biographen einig
darüber sind, daß der Vater zwar gern im Wirtshaus trank und
anschließend zu Hause Szenen machte, aber “kein Alkoholiker
war”. Mit der Diagnose “kein Alkoholiker” kann alles, was
der Vater tat, weggewischt werden und dem Kind die Bedeutung seines Erlebnisses,
nämlich der Schmach und Scham im Anblick der furchtbaren Szenen,
vollständig ausgeredet werden.

Ähnliches geschieht, wenn Menschen während ihrer Analyse bei
entfernten Familienangehörigen über ihre verstorbenen Eltern
nachfragen. Die zu Lebzeiten fehlerlosen Eltern avancieren mit ihrem Tode
mühelos zu Engeln und hinterlassen ihre Kinder in einer Hölle
von Selbstvorwürfen. Da kaum ein Mensch in der Umgebung die einstigen
Wahrnehmungen dieser Kinder bestätigen wird, bleiben sie mit ihnen
isoliert und halten sich deswegen für sehr böse. Adolf Hitler
wird es nicht anders ergangen sein, als er mit 13 Jahren seinen Vater
verlor und von da an in seiner ganzen Umgebung nur dem idealisierten Vaterbild
begegnete. Wer hätte ihm damals die Grausamkeit und Brutalität
seines Vaters bestätigt, wenn die Biographen noch heute bemüht
sind, dessen regelmäßige Schläge als harmlos zu schildern?
Sobald es aber Adolf Hitler gelang, seine Erfahrung des Bösen auf
den ” Juden an sich” zu transponieren, gelang es ihm, die Isolierung
zu durchbrechen.

Es gibt wohl kaum ein zuverlässigeres Bindeglied unter den Völkern
Europas als den Judenhaß. Er ist seit jeher ein geschätztes
Manipulationsmittel der Regierenden und eignet sich offenbar vorzüglich
zur Verschleierung von sehr verschiedenen Interessen, so daß auch
extrem miteinander verfeindete Gruppierungen sich über die Gefährlichkeit
oder Gemeinheit der Juden völlig einig sein können. Der erwachsene
Hitler wußte das und sagte einmal zu Rauschning, daß, “wenn
es den Juden nicht gäbe, man ihn erfinden müßte”.

Woher bezieht der Antisemitismus seine ewige Erneuerungsfähigkeit?
Das ist nicht schwer zu verstehen. Man haßt den Juden nicht deshalb,
weil er das oder jenes tut oder ist. Alles, was die Juden tun oder sind,
läßt sich auch bei anderen Völkern finden. Man haßt
den Juden, weil man einen unerlaubten Haß in sich trägt und
begierig ist, ihn zu legitimieren. Das jüdische Volk eignet sich
für diese Legitimierung in ganz besonderem Maße. Weil seine
Verfolgung seit zwei Jahrtausenden von höchsten kirchlichen und staatlichen
Autoritäten ausgeübt wurde, brauchte man sich des Judenhasses
nie zu schämen, nicht einmal dann, wenn man mit strengsten moralischen
Prinzipien aufgewachsen war und sich für die natürlichsten Regungen
der Seele sonst zu schämen hatte (vgl. S. I 13f.). Ein im Panzer
der zu früh geforderten Tugenden aufwachsendes Kind wird gerne nach
der einzig erlaubten Abfuhr greifen, sich seinen Antisemitismus ( d. h.
sein Recht auf den Haß) “holen” und ihn sein Leben lang
behalten. Möglicherweise war aber diese Abfuhr Adolf nicht ohne weiteres
zugänglich, weil sie ein Tabu der Familie berührt hätte.
Später, in Wien, genoß er es, dieses stillschweigende Verbot
aufzuheben, und als er zur Macht kam, brauchte er nur den einzigen in
der abendländischen Tradition legitimen Haß zur höchsten
Tugend des arischen Menschen zu proklamieren.

Meine Vermutung, daß die Abstammungsfrage in Adolfs Elternhaus tabuisiert
gewesen war, leite ich von der großen Bedeutung ab, die er später
diesem Thema beimaß. Seine Reaktion auf Franks Bericht im Jahre
1930 bestätigt nur diese Vermutung. Sie zeigt die für ein Kind
so bezeichnende Mischung von Wissen und Nichtwissen und spiegelt die in
der Familie herrschende Verwirrung im Zusammenhang mit diesem Thema. In
Franks Bericht heißt es u.a. Adolf Hitler selbst wußte, daß
sein Vater nicht von dem geschlechtlichen Verkehr der Schicklgruber mit
dem Grazer Juden herstammte, er wußte es von seines Vaters und der
Großmutter Erzählungen. Er wußte, daß sein Vater
herstammte aus den vorehelichen Beziehungen seiner Großmutter mit
ihrem späteren Mann. Aber diese beiden waren arm, und der Jude zahlte
die Alimente als höchst erwünschte jahrelange Zulage zum armseligen
Haushalt. Man hatte ihn, den Zahlungsfähigen, als Vater angegeben,
und ohne Prozeß zahlte der Jude, weil er wohl einen prozessualen
Austrag und die damit zusammenhängende Öffentlichkeit scheute
(zitiert nach Jetzinger, S. 30).

Jetzinger kommentiert Hitlers Reaktion mit folgenden Worten:

In diesem Absatz wird offensichtlich wiedergegeben, was Hitler zu der
Enthüllung durch Frank sagte. Er wird natürlich sehr bestürzt
gewesen sein, durfte sich aber selbstverständlich vor Frank nichts
anmerken lassen und tat daher so, als sei ihm das Berichtete nicht vollkommen
neu; er sagte, er wisse aus den Erzählungen seines Vaters und seiner
Großmutter, daß sein Vater nicht von dem Grazer Juden stamme.
Da hat sich aber Adolf in der momentanen Verwirrung gründlich verrannt!
Seine Großmutter lag schon mehr als vierzig Jahre im Grab, als er
geboren wurde, die konnte ihm nichts erzählt haben! Und sein Vater?
Der hätte es ihm erzählt haben müssen, als Adolf noch nicht
vierzehn Jahre alt war, denn dann starb sein Vater; einem solchen Buben
erzählt man nicht derartige Sachen und schon gar nicht sagt man ihm:
“Dein Großvater war kein Jude”, wenn ohnehin ein jüdischer
Großvater nicht in Frage kam! Weiters antwortete Hitler, er wisse,
daß sein Vater aus den vorehelichen Beziehungen seiner Großmutter
mit ihrem späteren Manne stammt. Warum hatte er dann etliche Jahre
vorher in seinem Buche geschrieben, sein Vater sei der Sohn eines armen,
kleinen Häuslers? Der Müllergeselle, mit dem allein seine Großmutter,
aber erst nachdem sie wieder in Döllersheim lebte, hätte voreheliche
Beziehungen haben können, war nie in seinem Leben Häusler! Und
die Großmutter der Gemeinheit bezichtigen, ob es nun Hitler tat
oder Frank, sie habe einfach einen Zahlungskräftigen als Kindesvater
angegeben, entspricht einer Denkungsart, wie sie unter verkommenen Subjekten
üblich sein mag, beweist aber nichts für die Abstammung! Adolf
Hitler wußte über seine Herkunft rein gar nichts! Man pflegt
ja auch Kinder über so etwas nicht aufzuklären (Jetzinger, S.
30 f.).

Eine solche unerträgliche Verwirrung im Elternhaus kann dazu führen,
daß das Kind Schulschwierigkeiten bekommt (weil das Wissen verboten,
also bedrohlich und gefährlich ist). Auf jeden Fall wollte Adolf
Hitler es später von jedem Bürger ganz genau, bis in die dritte
Generation, wissen, ob nicht doch noch ein jüdischer Ahne “dahinter
steckte”.

Adolfs Schulversagen widmet Fest mehrere Überlegungen, darunter
auch die, daß es auch nach dem Tode des Vaters andauerte, womit
der Beweis erbracht werden soll, daß es nicht mit dem Vater in Zusammenhang
stand. Dagegen läßt sich einiges geltend machen:

1. Die Zitate aus der Schwarzen Pädagogik zeigen sehr deutlich, wie
gerne die Lehrer die Nachfolge der Väter bei der Züchtigung
der Schüler antreten und welchen Gewinn sie zur narzißtischen
Stabilisierung ihrer selbst daraus ziehen.
2. Als Adolfs Vater starb, war er ja bereits längst von seinem Sohn
verinnerlicht worden, und die Lehrer boten sich nun als Vaterersatz an,
bei dem man versuchen konnte, sich mit etwas mehr Erfolg zu wehren. Das
Schulversagen gehört zu den wenigen Mitteln, die man hat, um den
Lehrer (Vater) zu strafen.
3. Mit 11 Jahren wurde Adolf fast zu Tode geprügelt, als er sich
aus einer für ihn unerträglichen Situation durch Flucht zu befreien
versuchte. Damals starb auch sein Bruder Edmund, an dem er als dem Schwächeren
vielleicht noch ein Stück Macht hatte erleben dürfen. Darüber
wissen wir nichts. In diese Zeit fällt jedenfalls sein Schulversagen,
das im Gegensatz zu den früheren guten Noten stand. Wer weiß,
vielleicht hätte dieses aufgeweckte, begabte Kind noch einen anderen,
humaneren Weg gefunden, um mit dem aufgestauten Haß umzugehen, wenn
seine Neugier und Vitalität in den Schulen mehr Nahrung hätten
finden können. Aber auch die Bekanntschaft mit geistigen Werten wurde
ihm durch diese erste, tief gestörte Vaterbeziehung, die sich auf
Lehrer und Schule übertrug, unmöglich gemacht.

Das in der Art des Vaters wütende Kind von damals befiehlt später,
Bücher von freidenkenden Menschen zu verbrennen. Es sind Bücher,
die Adolf haßte und nie gelesen hatte, aber vielleicht hätte
lesen und verstehen können, wenn man ihm von Anfang an ermöglicht
hätte, seine Fähigkeiten zu entwickeln. Das Verbrennen von Büchern
und das Verdammen von Künstlern sind ja auch eine Rache dafür,
daß dieses begabte Kind um den Genuß der Schule gebracht worden
ist. Was hier gemeint ist, kann vielleicht mit Hilfe einer Geschichte
verdeutlicht werden.

Ich saß einmal auf einer Bank im Park einer mir fremden Großstadt.
Neben mich setzte sich ein alter Mann, der, wie er mir später sagte,
bereits 82 Jahre alt war. Er fiel mir auf, weil er sehr beteiligt und
respektvoll mit spielenden Kindern sprach, und ich ließ mich in
ein Gespräch mit ihm ein, in dem er mir von seinen Erlebnissen als
Soldat im ersten Weltkrieg erzählte. “Wissen Sie”, sagte
er, “ich habe in mir einen Schutzengel, der mich immer begleitet.
So oft erlebte ich, daß alle meine Kameraden, von Granaten oder
Bomben getroffen, tot umgefallen sind und ich, obwohl ich daneben stand,
am Leben blieb und nicht einmal eine Wunde hatte.” Es ist unwichtig,
ob sich dies in allen Einzelheiten so abgespielt hatte, aber was dieser
Mann ausdrückte, war eine Darstellung seines Selbst, des großen
Vertrauens in sein Schicksal. So erstaunte es mich nicht, daß er
auf meine Frage nach seinen Geschwistern antwortete: “die sind alle
tot, ich war ein Nesthäkchen”. Seine Mutter hätte “das
Leben geliebt”, erzählte er. Sie hätte ihn morgens im Frühling
manchmal geweckt, um mit ihm dem Vogelgesang im Wald zu lauschen, noch
bevor er in die Schule ging. Das waren die schönsten

Erlebnisse. Auf meine Frage, ob er geschlagen worden wäre, antwortete
er: “Geschlagen wurde ich kaum, vielleicht ist dem Vater mal die
Hand ausgerutscht, das machte mich jedesmal zornig, aber er tat es nie
in Mutters Gegenwart, die hätte das niemals zugelassen. Aber wissen
Sie”, berichtete er, “einmal wurde ich grauenhaft geschlagen
– vom Lehrer. In den ersten drei Klassen war ich der beste Schüler,
in der vierten bekamen wir einen neuen Lehrer. Der hat mich einmal einer
Tat beschuldigt, die ich nicht begangen hatte. Dann nahm er mich auf sein
Zimmer und schlug und schlug und schrie dauernd wie ein Besessener: Wirst
Du jetzt die Wahrheit sagen? Wie konnte ich aber? Ich hätte ja für
ihn lügen müssen, und das hatte ich bisher nie getan, weil ich
vor meinen Eltern keine Angst zu haben brauchte. Also hielt ich das Schlagen
eine Viertelstunde aus, aber danach interessierte ich mich nicht mehr
für die Schule und wurde ein schlechter Schüler. Es hat mich
später oft geschmerzt, daß ich kein Abitur gemacht habe. Aber
ich glaube, ich hatte damals keine andere Wahl.”

Dieser Mann schien als Kind von seiner Mutter so geachtet worden zu sein,
daß er selbst auch seine Gefühle respektieren und leben konnte.
Deshalb merkte er, daß er auf den Vater zornig wurde, wenn diesem
“die Hand ausrutschte”, er merkte, daß ihn der Lehrer
zur Lüge verführen und erniedrigen wollte, und er spürte
auch die Trauer darüber, daß er für seine Würde und
Treue zu sich selbst mit dem Verzicht auf die Bildung bezahlen mußte,
weil es für ihn damals keinen anderen Weg gab. Es fiel mir auf, daß
er nicht wie die meisten Menschen sagte: “Meine Mutter hat mich sehr
geliebt”, sondern er sagte: “Sie liebte das Leben”, und
ich erinnerte mich, daß ich das einmal über Goethes Mutter
geschrieben hatte. Die schönsten Augenblicke erlebte dieser alte
Mann mit seiner Mutter im Wald, als er ihre Freude an den Vögeln
spürte, die sie mit ihm teilte. Diese warme Mutterbeziehung strahlte
immer noch aus seinen alten Augen, und der Respekt seiner Mutter für
ihn drückte sich unmißverständlich in der Art aus, in
der er jetzt mit den spielenden Kindern sprach. In seiner Haltung war
nichts Überhebliches, nichts Verniedlichendes, sondern einfach Aufmerksamkeit
und Achtung.

Ich habe mich bei Hitlers Schulschwierigkeiten so lange aufgehalten,
weil sie sowohl in ihren Ursachen als auch in den späteren Auswirkungen
ein Beispiel für Millionen sind. Hitlers große und begeisterte
Anhängerschaft bewies, daß sie ähnlich wie er strukturiert,
d. h. ähnlich erzogen, war. Die heutigen Biographien zeigen, wie
weit unser Denken noch von der Erkenntnis entfernt ist, daß ein
Kind das Recht auf Respekt hat. Joachim Fest, der eine immense und gründliche
Arbeit auf sich genommen hat, um Hitlers Leben zu schildern, kann dem
Sohn nicht glauben, wie sehr er unter seinem Vater gelitten hat, und meint,
Adolf “dramatisiere” nur die Schwierigkeiten mit dem Vater,
als ob es überhaupt jemandem anstehen würde, darüber mehr
zu wissen als Adolf Hitler selber. Über Fests Perspektive der Elternschonung
wird man sich kaum wundern, wenn man bedenkt, wie wenig selbst die Psychoanalyse
von ihr frei ist. Soweit ihre Anhänger noch – etwa im Sinne von Wilhelm
Reich – meinen, lediglich um die Befreiung der Sexualität kämpfen
zu müssen, übersehen sie ganz entscheidende Aspekte. Was ein
Kind, das keine Achtung für sich erfahren und deshalb auch in sich
nicht entwickeln konnte, mit der “befreiten” Sexualität
macht, können wir auf dem “Babystrich” und in der Drogenszene
sehen. Dort lernt man u. a. auch, in welche verhängnisvolle Abhängigkeiten
(von anderen Menschen und vom Heroin) die “Freiheit” der Kinder
führt, die keine ist, solange sie mit der eigenen Entwürdigung
einhergeht.

Nicht nur das Schlagen der Kinder, sondern auch dessen Folgen sind so
gut in unser Leben integriert, daß diese uns in ihrer Absurdität
kaum mehr auffallen. Die “heldenhafte Bereitschaft” Jugendlicher,
sich in Kriegen zu schlagen und (gerade am Beginn ihres Lebens!) für
fremde Interessen zu fallen, mag auch damit zusammenhängen, daß
sich in der Pubertät der frühkindliche, abgewehrte Haß
nochmals intensiviert. Jugendliche können ihn von ihren Eltern ableiten,
wenn sie ein eindeutiges Feindbild bekommen, das sie dann frei und erlaubtermaßen
hassen dürfen. Aus diesem Grund sind wohl im ersten Weltkrieg so
viele junge Maler und Dichter freiwillig an die Front gegangen. Die Hoffnung
auf Befreiung aus den Zwängen des Elternhauses ließ sie die
Wonnen der Marschmusik genießen. Das Heroin ersetzt unter anderem
auch diese Funktion, nur daß sich hier die Zerstörungswut gegen
den eigenen Körper und das eigene Selbst richtet.

Lloyd deMause, der sich als Psychohistoriker vor allem für Motivationen
interessiert und die ihnen zugrundeliegenden Gruppenphantasien beschreibt,
ist einmal der Frage nachgegangen, von welchen Phantasien die kriegserklärenden
Völker beherrscht werden. Bei der Durchsicht seines Materials fiel
ihm auf, daß unter den zahlreichen Äußerungen der Staatsmänner
dieser Völker immer wieder Bilder auftauchten, die an den Vorgang
der Geburt erinnern. Auffallend häufig ist da von Strangulierung
die Rede, in der sich das kriegserklärende Volk angeblich befände
und aus der es sich mit Hilfe des Krieges endlich zu befreien hoffe. L.
deMause meint, in dieser Phantasie spiegle sich die reale Situation des
Kindes während der Geburt, die in jedem Menschen als Trauma zurückbleibe
und deshalb dem Wiederholungszwang unterworfen ist (vgl. L. de Mause,
1979).

Für die Richtigkeit dieser These könnte die Beobachtung sprechen,
daß das Gefühl, stranguliert zu werden und sich befreien zu
müssen, nicht bei den wirklich bedrohten Völkern, wie z. B.
Polen 1939, vorkommt, sondern da, wo dies nicht real der Fall war, z.
B. in Deutschland 1914 und 1939 oder bei Kissinger in der Zeit des Vietnamkrieges.
Es handelt sich also bei der Kriegserklärung zweifellos um die Befreiung
aus einer phantasierten Bedrohung, Beengung, Erniedrigung. Aus dem, was
ich jetzt über die Kindheit weiß und was ich unter anderem
am Beispiel von Adolf Hitler zu zeigen versuche, würde ich allerdings
eher folgern, daß im Kriegswunsch nicht das Geburtstrauma, sondern
andere Erfahrungen wiederbelebt werden. Auch die schwerste Geburt ist
ein einmaliges, abgeschlossenes Trauma, das wir trotz unserer Kleinheit
und Schwäche meistens aktiv oder mit Hilfe rettender Drittpersonen
bewältigt haben. Im Gegensatz dazu ist die Erfahrung des Geschlagenwerdens,
der seelischen Demütigung und Grausamkeit, die sich immer wiederholt,
aus der es kein Entrinnen und in der es keine rettende Hand gibt, weil
niemand diese Hölle als Hölle ansieht, ein immerwährender
oder immer wieder neu erlebter Zustand, in dem es am Ende keinen erlösenden
Schrei geben darf und der lediglich mit Hilfe der Abspaltung und Verdrängung
vergessen werden kann. Es sind deshalb genau diese unbewältigten
Erlebnisse, die sich im Wiederholungszwang einen Ausdruck verschaffen
müssen. Im Jubel der Kriegserklärenden lebt die Hoffnung auf,
die einstigen Erniedrigungen endlich rächen zu können, und vermutlich
auch die Erlösung über die Erlaubnis zu hassen und zu schreien.
Das einstige Kind ergreift die erste Chance, endlich aktiv sein zu können
und nicht mehr schweigen zu müssen. Wo die Trauerarbeit nicht möglich
war, wird im Wiederholungszwang versucht, die Vergangenheit ungeschehen
zu machen und die einstige tragische Passivität mit Hilfe der heutigen
Aktivität aus der Welt zu schaffen. Da dies aber nicht gelingen kann,
weil Vergangenes nicht zu ändern ist, führen solche Kriege den
Angreifer nicht zur Befreiung, sondern schließlich zur Katastrophe,
auch im Falle der vorläufigen Siege.

Trotz dieser Überlegungen könnte man sich vorstellen, daß
die Geburtsphantasie hier eine Rolle spielt. Für ein Kind, das täglich
geschlagen wird und dabei schweigen muß, ist die Geburt vielleicht
das einzige Ereignis in seiner Kindheit, aus dem es nicht nur in der Phantasie,
sondern real als Sieger hervorgegangen ist: sonst hätte es ja nicht
überlebt. Es hat sich durch die Enge hindurchgekämpft, durfte
nachher schreien und wurde trotzdem von helfenden Händen versorgt.
Läßt sich diese Seligkeit mit dem vergleichen, was später
kam? Es wäre nicht verwunderlich, wenn wir uns mit diesem großen
Triumph helfen wollten, über die Niederlagen und die Verlassenheit
der späteren Zeit hinwegzukommen. In diesem Sinne wären die
Assoziationen zum Geburtstrauma während der Kriegserklärung
als Abwehr des tatsächlichen, verborgenen Traumas, das nirgends in
der Gesellschaft ernstgenommen wird und deshalb auf Inszenierungen angewiesen
ist, zu verstehen. In Adolf Hitlers Leben gehören die “Burenkriege”
der Schulzeit, Mein Kampf und der Zweite Weltkrieg zur sichtbaren Spitze
des Eisberges. Die verborgene Vorgeschichte einer solchen Entwicklung
kann nicht in der Erfahrung des Durchgangs durch den Geburtskanal gesucht
werden, die Hitler mit allen Menschen teilt. Aber nicht alle Menschen
wurden als Kinder so wie er gequält.

Was hat der Sohn nicht alles unternommen, um das Trauma der väterlichen
Schläge zu vergessen: Er hat sich die herrschende Klasse Deutschlands
unterworfen, er hat die Massen gewonnen, sich die Regierungen Europas
gefügig gemacht. Er besaß eine beinahe unbeschränkte Macht.
Aber nachts, im Schlaf, wenn das Unbewußte dem Menschen die frühkindlichen
Erfahrungen mitteilt, gab es kein Entrinnen: Da erschien ihm sein furchterregender
Vater, und das Grauen breitete sich aus. Rauschning schreibt (S. 273):

Aber er hat Zustände, die an Verfolgungswahnsinn und Persönlichkeitsspaltung
nahe heranreichen. Seine Schlaflosigkeit ist mehr als nur die Überreizung
seines Nervensystems. Er wacht oft des Nachts auf. Er wandert ruhelos
umher. Dann muß Licht um ihn sein. Neuerdings läßt er
sich dann junge Leute kommen, die die Stunden eines offenbaren Grauens
mit ihm teilen müssen. Zu Zeiten müssen diese Zustände
einen besonders bösartigen Charakter angenommen haben. Mir hat jemand
aus seiner engsten täglichen Umgebung berichtet: er wache des Nachts
mit Schreikrämpfen auf. Er schreie um Hilfe. Auf seiner Bettkante
sitzend könne er sich nicht rühren. Die Furcht schüttle
ihn, sodaß das ganze Bett vibriere. Er stoße verworrene, völlig
unverständliche Worte hervor. Er keuche, als glaube er ersticken
zu müssen. Der Mann erzählte mir eine Szene, die ich nicht glauben
würde, wenn sie nicht aus solcher Quelle käme. Taumelnd habe
er im Zimmer gestanden, irr um sich blickend. “Er! Er! Er ist dagewesen”,
habe er gekeucht. Die Lippen seien blau gewesen. Der Schweiß habe
nur so an ihm heruntergetropft. Plötzlich habe er Zahlen vor sich
hergesagt. Ganz sinnlos. Einzelne Worte und Satzbrocken. Es habe schauerlich
geklungen. Merkwürdig zusammengesetzte Wortbildungen habe er gebraucht,
ganz fremdartig. Dann habe er wieder ganz still gestanden und die Lippen
bewegt. Man habe ihn abgerieben, habe ihm etwas zu Trinken eingeflößt.
Dann habe er plötzlich losgebrüllt: “Da, da! in der Ecke!
Wer steht da?” Er habe aufgestampft, habe geschrien wie man das an
ihm gewohnt sei. Man habe ihm gezeigt, daß da nichts Ungewöhnliches
sei, und dann habe er sich allmählich beruhigt. Viele Stunden hätte
er danach geschlafen. Und dann sei es für eine Zeit wieder erträglich
mit ihm gewesen.

Obwohl (oder weil) die meisten Menschen in Hitlers Umgebung einst geschlagene
Kinder waren, hat niemand den Zusammenhang zwischen seiner panischen Angst
und den “unverständlichen Zahlen” begriffen. Die in der
Kindheit unterdrückten Gefühle der Angst beim Zählen der
Schläge überfielen nun den Erwachsenen auf dem Höhepunkt
seines Erfolges in Form von Alpträumen, plötzlich und unentrinnbar,
in der Einsamkeit der Nacht.
Die ganze Welt hätte als Opfer nicht ausgereicht, um den verinnerlichten
Vater von Adolf Hitlers Schlafzimmer fernzuhalten, denn das eigene Unbewußte
wird mit der Vernichtung der Welt nicht vernichtet. Aber die Welt hätte
trotzdem herhalten müssen, wenn Hitler noch länger am Leben
geblieben wäre, denn die Quelle seines Hasses floß ununterbrochen
– auch im Schlaf. . .

Für Menschen, denen die Kräfte des Unbewußten nie zum
Erlebnis geworden sind, mag es naiv klingen, wenn jemand Hitlers Werk
von seiner Kindheit her zu verstehen versucht. Es gibt immer noch viele
Männer (und Frauen), die der Meinung sind, “Kindersachen seien
Kindersachen” und Politik sei etwas Ernsthaftes, etwas für erwachsene
Leute, kein Kinderspiel. Diese Menschen finden die Verknüpfungen
mit der Kindheit befremdend oder lächerlich, weil sie die Wahrheit
dieser Zeit – begreiflicherweise – völlig vergessen möchten.
Hitlers Leben eignet sich aber deshalb besonders gut für einen Anschauungsunterricht,
weil die Kontinuität hier so deutlich zu fassen ist. Schon als kleiner
Junge lebt er seine Sehnsucht nach Befreiung aus dem väterlichen
Joch in den gespielten Kriegen. Er führt zuerst die Indianer, dann
die Buren zum Kampf gegen die Unterdrücker: “Nicht lange dauerte
es, und der große Heldenkampf war mir zum größten inneren
Erlebnis geworden”, schreibt er in Mein Kampf, und an anderer Stelle
zeichnet sich der verhängnisvolle Weg vom Spiel aus kindlicher Not
zum gefährlichen Ernst: “Von nun an schwärmte ich mehr
und mehr für alles, was irgendwie mit Krieg oder mit Soldatentum
zusammenhing” (Mein Kampf, zitiert nach Toland, S. 31).

Hitlers Deutschlehrer, Dr. Huemer, berichtet, daß Adolf in der
Pubertät “Belehrungen und Mahnungen seiner Lehrer … nicht
selten mit schlecht verhülltem Widerwillen entgegengenommen (hatte);
wohl aber verlangte er von seinen Mitschülern unbedingte Unterordnung”
(vgl. Toland, S. 77). Die frühe Identifizierung mit dem tyrannischen
Vater führte dazu, daß Adolf, nach der Aussage eines Zeugen
aus Braunau, schon als ganz kleiner Junge, auf einem Hügel stehend,
“lange und leidenschaftliche Reden hielt”.²
Braunau bedeutete die ersten drei Lebensjahre, so früh hat also die
Führerlaufbahn begonnen. In diesen Reden spielte das Kind die Reden
des großartigen Vaters, so wie es ihn damals gesehen hatte, und
erlebte zugleich im Publikum sich selbst als das staunende, bewundernde
Kind der ersten Lebensjahre

Diese Funktion hatten später die organisierten Massenauftritte, in
denen der frühkindliche Teil des Führers auch untergebracht
war. Die narzißtische, symbiotische Einheit von Führer und
Volk kommt sehr klar in den Worten seines Jugendfreundes Kubizek, vor
dem Hitler viele Reden hielt, zum Ausdruck. John Toland schreibt:

Sie wirkten auf Kubizek wie “vulkanische Entladungen”; er empfand
sie als bühnenreife Darstellung und war “anfangs nicht mehr
als ein betroffener und fassungsloser Zuhörer, der vor Staunen am
Ende zu applaudieren vergaß”. Erst allmählich erkannte
Kubizek, dass es sich nicht im entferntesten um Theater handelte, sondern
daß sein Freund dabei “von tödlichem Ernst” erfüllt
war. Zugleich wurde ihm klar, daß Hitler von ihm nur eines erwartete:
Zustimmung. Kubizek, der mehr von der Art und dem Stil dieser leidenschaftlichen
Vorträge als von ihrem Inhalt hingerissen war, geizte nicht damit.
. . . Adolf schien genau zu spüren, was Kubizek fühlte. “Er
empfand alles, was mich bewegte, so unmittelbar, als wäre es ihm
selbst geschehen. . . Ich hatte manches Mal das Gefühl, als würde
er neben seinem eigenen Leben auch meines mitleben” (Toland, S. 41).

Es gibt wohl keinen besseren Kommentar zum Verständnis der legendären
Hitlerschen Verführungskunst: während die Juden den gedemütigten,
geschlagenen Teil seines kindlichen Selbst repräsentierten, den er
mit allen Mitteln aus der Welt zu schaffen suchte, war das ihm huldigende
deutsche Volk, hier von Kubizek dargestellt, der gute und schöne
Teil seiner Seele, die den Vater liebt und vom Vater geliebt wird. Das
deutsche Volk und der Schulkamerad übernehmen die Rolle des guten
Kindes Adolf. Der Vater schützt die reine, kindliche Seele auch vor
eigenen Gefahren, indem er “die bösen Juden”, d. h. auch
die “bösen Gedanken” vertreiben und vernichten läßt,
damit endlich die ungestörte Einheit zwischen Vater und Sohn einziehen
kann.

Diese Ausführungen sind natürlich nicht für Menschen geschrieben,
die “Träume für Schäume” und das Unbewußte
für eine Erfindung “des kranken Geistes” halten. Doch ich
könnte mir vorstellen, daß auch diejenigen, die sich mit dem
Unbewußten bereits befaßt haben, meinem Versuch, Hitlers Handlungen
aus seiner Kindheit heraus verstehen zu wollen, mit Mißtrauen oder
Entrüstung begegnen, weil sie mit dieser ganzen “unmenschlichen
Geschichte” nichts zu. tun haben möchten. Aber können wir
wirklich annehmen, daß der liebe Gott plötzlich die Idee hatte,
eine “nekrophile Bestie” auf die Erde herunterzuschicken, etwa
im Sinne der Worte von Erich Fromm, der schrieb:

Wie läßt es sich erklären, daß diese beiden gutmeinenden,
stabilen, sehr normalen und sicherlich nicht destruktiven Menschen das
spätere Ungeheuer Adolf Hitler in die Welt setzten? (zitiert nach
Stierlin, 1975, S. 36).

Ich zweifle nicht daran, daß sich hinter jedem Verbrechen eine
persönliche Tragödie verbirgt. Wenn wir diesen Geschichten und
Vorgeschichten der Verbrechen genauer nachgehen würden, könnten
wir möglicherweise mehr tun, um neue zu verhindern, als mit unserer
Entrüstung und mit Moralpredigten. Vielleicht wird jemand sagen:
Nicht jeder, der als Kind geschlagen wurde, muß ein Mörder
werden, sonst würden doch fast alle Menschen zu Mördern. Das
ist in gewissem Sinn richtig. Doch so friedlich ist es heute nicht um
die Menschheit bestellt, und wir wissen nie, was ein Kind aus dem ihm
gegenüber begangenen Unrecht machen wird und muß, es gibt unzählige
“Techniken”, damit umzugehen. Aber vor allem wissen wir noch
nicht, wie die Welt aussehen könnte, wenn Kinder ohne Demütigungen,
von ihren Eltern als Menschen geachtet und ernstgenommen, aufwachsen würden.
Mir ist jedenfalls kein Mensch bekannt, der als Kind diese Achtung* genossen
und später als Erwachsener das Bedürfnis gehabt hätte,
andere Menschen umzubringen. * Mit Achtung des Kindes meine ich aber keineswegs
die sog. antiautoritäre Erziehung, sofern diese eine Indoktrinierung
des Kindes ist und deshalb seine eigene Welt mißachtet (vgl. S.
121).

Doch der Sinn für die Entwürdigung des Kindes ist noch kaum
in uns entwickelt. Der Respekt für das Kind und das Wissen um seine
Demütigung sind eben keine intellektuellen Angelegenheiten, sonst
wären sie schon längst zum Allgemeingut geworden. Mit dem Kind
zu fühlen, was es empfindet, wenn es entblößt, gekränkt,
gedemütigt wird, bedeutet zugleich, daß man wie im Spiegel
plötzlich dem Leiden der eigenen Kindheit begegnet, was viele Menschen
aus Angst abwehren müssen, andere wieder mit Trauer akzeptieren können.
Menschen, die diesen Weg der Trauer gegangen sind, verstehen dann von
der Dynamik des Seelischen mehr, als sie je aus Büchern hätten
erfahren können.

Die Jagd auf Menschen mit jüdischer Herkunft, die Notwendigkeit,
eine “reine Rasse” bis zur dritten Generation aufzuweisen, die
Abstufung der Verbote je nach nachweisbarer Rassenreinheit sind nur auf
den ersten Blick grotesk. Denn sie erschließen erst ihren Sinn,
wenn man sich vorstellt, daß sie in der unbewußten Phantasie
von Adolf Hitler zwei sehr starke Tendenzen verdichteten: einerseitswar
sein Vater der gehaßte Jude, den er verachten und jagen, mit Vorschriften
bedrohen und ängstigen konnte, denn sein Vater wäre ja auch
vom Rassengesetz betroffen worden, wenn er noch am Leben gewesen wäre.
Zugleich aber – und das ist die andere Tendenz – sollten die Rassengesetze
die Lossagung Adolfs vom Vater und seiner Herkunft besiegeln. Neben der
Rache am Vater war auch die quälende Ungewißheit der Hitler-Familie
ein wichtiges Motiv der Rassengesetze: das ganze Volk mußte sich
bis zur dritten Generation ausweisen, weil Adolf Hitler gerne mit Sicherheit
gewußt hätte, wer sein Großvater gewesen war. Und vor
allem wird der Jude zum Träger aller bösen und verachtenswerten
Eigenschaften, die das Kind je am Vater beobachtet hat. In der für
Hitlers Vorstellung vom Judentum charakteristischen ganz spezifischen
Mischung von luziferischer Größe und Übermacht (das Weltjudentum
und seine Bereitschaft, die ganze Welt zu zerstören) einerseits und
der lächerlichen Schwäche und Gebrechlichkeit des häßlichen
Juden andererseits spiegelt sich die Allmacht, die auch der schwächste
Vater über sein Kind besitzt: der aus Unsicherheit tobende Zollbeamte,
der tatsächlich die Welt des Kindes zerstört.

In Analysen kommt es oft vor, daß sich der erste Durchbruch zur
Kritik am Vater im Auftauchen einer verdrängten kleinen Lächerlichkeit
den Weg bahnt. Der überdimensionierte große Vater sah z. B.
in seinem kurzen Nachthemd so komisch aus. Das Kind hatte nie einen nahen
Kontakt mit diesem Vater, fürchtete ihn ständig, aber in diesem
Bild mit dem kurzen Nachthemd erhielt es sich in der Phantasie ein Stück
Rache, das jetzt, wenn die Ambivalenz in der Analyse durchbricht, als
Waffe gegen das göttliche Monument verwendet wird. Ähnlich verbreitet
Hitler im Stürmer seinen Haß und Ekel gegen den “stinkenden”
Juden, um Menschen zum Verbrennen der Werke von Freud, Einstein und unzähliger
jüdischer Intellektueller, die wirklich Größe besaßen,
animieren zu können. Der Durchbruch zu dieser Idee, die eine Übertragung
aufgestauten Hasses vom Vater auf die Juden als Volk ermöglicht,
ist sehr aufschlußreich; er wird in der folgenden Stelle aus Mein
Kampf beschrieben:

Seit ich mich mit dieser Frage zu beschäftigen begonnen hatte, auf
den Juden erst einmal aufmerksam wurde, erschien mir Wien in einem anderen
Lichte als vorher. Wo immer ich ging, sah ich nun Juden, und je mehr ich
sah, um so schärfer sonderten sie sich für das Auge von den
anderen Menschen ab. Besonders die innere Stadt und die Bezirke nördlich
des Donaukanals wimmelten von einem Volke, das schon äußerlich
eine Ähnlichkeit mit dem deutschen nicht mehr besaß. . . Dies
alles konnte schon nicht sehr anziehend wirken; abgestoßen mußte
man aber werden, wenn man über die körperliche Unsauberkeit
hinaus plötzlich die moralischen Schmutzflecken des auserwählten
Volkes entdeckte. Gab es denn da einen Unrat, eine Schamlosigkeit in irgendeiner
Form, vor allem des kulturellen Lebens, an der nicht wenigstens ein Jude
beteiligt gewesen wäre? Sowie man nur vorsichtig in eine solche Geschwulst
hineinschnitt, fand man, wie die Made im faulenden Leibe, oft ganz geblendet
vom plötzlichen Lichte, ein Jüdlein . . . Ich begann sie allmählich
zu hassen (zitiert nach Fest, S. 63).

Wenn es gelingt, seinen ganzen aufgestauten Haß auf ein Objekt
zu richten, ist es zunächst wie eine große Erlösung. (“Wo
immer ich ging, sah ich nun Juden. . .”) Die bisher verbotenen, gemiedenen
Gefühle bekommen nun freien Lauf. Je mehr man von ihnen erfüllt
und bedrückt war, um so glücklicher fühlt man sich, endlich
ein Ersatzobjekt gefunden zu haben. Der eigene Vater wird vom Haß
verschont, und die Staudämme lassen sich jetzt aufheben, ohne daß
man dafür geschlagen wird.

Aber die Ersatzbefriedigung sättigt nicht – an keinem Beispiel läßt
sich das besser demonstrieren als an Adolf Hitler. Es hat wohl kaum je
ein Mensch Hitlers Macht besessen, in diesem Maße ungestraft Leben
zu vernichten, und all das konnte ihm trotzdem keine Ruhe bringen. Sein
Testament zeigt das sehr eindrücklich.

Man sieht mit Staunen, wie genau das Kind die Art seines Vaters gespeichert
hat, wenn man den Zweiten Weltkrieg erlebt hat und Stierlins Charakteristik
des Vaters von Adolf Hitler liest:

Es sieht jedoch so aus, als sei dieser soziale Aufstieg nicht ohne Kosten
für ihn selbst und andere möglich gewesen. Alois war zwar gewissenhaft,
pflichtbewußt und fleißig, aber auch emotionallabil, ungewöhnlich
rastlos und möglicherweise zeitweilig geistesgestört. Zumindest
eine Quelle legt nahe, daß er einmal in einem Asyl für Geisteskranke
untergebracht war. Auch hatte er nach der Meinung eines Psychoanalytikers
psychopathische Züge, die sich etwa in dem Geschick bewiesen, mit
dem er Regeln und Dokumente für seine eigenen Zwecke auszulegen und
zurechtzustutzen und dabei zugleich die Fassade der Legitimität zu
wahren vermochte. Er vereinte, kurz gesagt, großen Ehrgeiz mit einem
durchaus flexiblen Gewissen. Als er beispielsweise wegen seiner Heirat
mit Klara (die rechtlich seine Cousine war) um päpstlichen Dispens
nachsuchte, strich er die zwei kleinen mutterlosen Kinder heraus, die
Klaras Fürsorge bedurften, unterließ es aber, Klaras Schwangerschaft
zu erwähnen (Stierlin, 1975, S. 68).

Nur das Unbewußte eines Kindes kann einen Elternteil so genau kopieren,
daß jeder Zug in ihm später auffindbar ist, auch wenn sich
die Biographen nicht darum kümmern.

Die Mutter- ihre Stellung in der Familie und ihre Rolle in Adolfs Leben

Alle Biographen sind sich darüber einig, daß Klara Hitler
ihren Sohn “sehr liebte und verwöhnte”. Zunächst muß
man sagen, daß dieser Satz einen Widerspruch in sich enthält,
wenn man Liebe so versteht, daß die Mutter für die wahren Bedürfnisse
des Kindes offen und hellhörig ist. Gerade wenn das fehlt, wird das
Kind verwöhnt, d. h. mit Gewährungen und Dingen überhäuft,
die es nicht braucht, und dies nur als Ersatz für das, was man dem
Kind aus eigener Not eben nicht zu geben vermag. Gerade die Verwöhnung
zeigt also einen ernsten Mangel an, den das spätere Leben bestätigt.
Wenn Adolf Hitler tatsächlich ein geliebtes Kind gewesen wäre,
dann wäre auch er liebesfähig geworden. Seine Beziehungen zu
Frauen, seine Perversionen (vgl. Stierlin, S. 168) und seine ganze distanzierte
und im Grunde kalte Beziehung zu Menschen zeigen aber, daß er von
keiner Seite Liebe erfahren hat.

Bevor Adolf auf die Welt kam, hatte Klara drei Kinder, die alle innerhalb
eines Monats an Diphtherie starben. Die zwei ersten erkrankten vielleicht
noch vor der Geburt des dritten Kindes, das dann ebenfalls nach drei Tagen
starb. 13 Monate später wurde Adolf geboren. Ich übernehme die
sehr übersichtliche Tabelle von Stierlin:

 

Geboren

Gestorben

Alter zur Zeit des Todes

1. Gustav (Diphtherie)

17.5.1885

8.12.1887

2 Jahre, 7 Monate

2. Ida (Diphtherie)

23.9.1886

2.1.1888

1 Jahr, 4 Monate

3. Otto (Diphtherie)

1887

1887

ungefähr drei Tage

4. Adolf

20.4.1889

   

5. Edmund (Masern)

24.3.1894

2.2.1900

fast 6 Jahre

6. Paula

21.1.1896

   

Die schöne Legende zeigt Klara als liebevolle Mutter, die nach dem
Tod ihrer drei ersten Kinder ihre ganze Zärtlichkeit Adolf geschenkt
hat. Es ist vielleicht kein Zufall, daß alle Biographen, die dieses
liebliche Madonnenbild zeichneten, Männer waren. Eine redliche Frau
von heute, die selber Mutter war oder ist, kann sich vielleicht etwas
realistischer die Ereignisse vorstellen, die Adolfs Geburt vorausgegangen
waren, und sich ein genaueres Bild darüber machen, in welcher emotionalen
Umwelt sich sein erstes, für die Sicherheit des Kindes so entscheidendes
Lebensjahr vollzogen hat.
Mit 16 Jahren zieht Klara Pötzl in das Haus ihres “Onkel Alois”,
wo sie sich um seine kranke Ehefrau und seine zwei Kinder kümmern
sollte. Dort wird sie später noch vor dem Tod seiner Frau vom Herrn
des Hauses geschwängert, dann mit 24 Jahren vom 48jährigen Alois
geheiratet, bringt innerhalb von zweieinhalb Jahren drei Kinder auf die
Welt und verliert alle drei innerhalb von 4-5 Wochen. Versuchen wir uns
das genau vorzustellen: Das erste Kind, Gustav, erkrankt im November an
Diphtherie, Klara kann es kaum pflegen, weil sie bereits dabei ist, das
dritte Kind, Otto, zur Welt zu bringen, das wahrscheinlich von Gustav
mit Diphtherie angesteckt wird und nach drei Tagen stirbt. Kurz danach,
vor Weihnachten, stirbt auch Gustav und drei Wochen später das Mädchen
Ida. So hat Klara innerhalb von 4-5 Wochen eine Geburt und den Tod von
drei Kindern überstanden. Eine Frau muß nicht besonders sensibel
sein, um durch einen solchen Schock, dazu neben einem herrischen und fordernden
Mann, selber noch im Alter der Adoleszenz, aus dem Gleichgewicht zu geraten.
Vielleicht erlebte die praktizierende Katholikin diesen dreifachen Tod
als Gottes Strafe für ihre unehelichen Beziehungen mit Alois, vielleicht
machte sie sich Vorwürfe, daß sie, durch ihre dritte Geburt
verhindert, Gustav nicht genug gepflegt hatte. Auf jeden Fall muß
eine Frau aus Holz sein, um von diesen Schicksalsschlägen unberührt
zu bleiben; aus Holz war Klara nicht. Aber niemand konnte ihr helfen,
die Trauer zu erleben, ihre ehelichen Pflichten bei Alois gingen weiter,
noch im gleichen Jahr des Todes von Ida wird sie wieder schwanger, und
im April des nächsten Jahres gebiert sie Adolf. Gerade weil sie ihre
Trauer unter diesen Umständen kaum verarbeiten konnte, mußte
die Geburt eines neuen Kindes den kürzlich erfahrenen Schock wieder
aktivieren, in ihr die größten Ängste und das Gefühl
einer tiefen Unsicherheit in bezug auf ihre Fähigkeiten zur Mutterschaft
mobilisieren. Welche Frau mit dieser Vergangenheit hätte nicht schon
während der Schwangerschaft Ängste vor einer Wiederholung? Es
ist kaum denkbar, daß ihr Sohn in der ersten symbiotischen Zeit
neben seiner Mutter das Gefühl von Ruhe, Zufriedenheit und Geborgenheit
mit der Muttermilch in sich eingesogen hat. Es ist wahrscheinlicher, daß
die Unruhe seiner Mutter, die durch die Geburt Adolfs aufgerissenen, frischen
Erinnerungen an die drei toten Kinder und die bewußte oder unbewußte
Angst, daß auch dieses Kind sterbe, direkt mit den Gefühlen
des Säuglings wie zwei miteinander verbundene Gefäße kommuniziert
haben. Den Ärger auf ihren selbstbezogenen Mann, der sie mit ihren
seelischen Leiden allein ließ, durfte Klara ja auch nicht bewußt
erleben; um so mehr hat ihn der Säugling, den man ja nicht wie den
Herrscher zu fürchten braucht, zu spüren bekommen. Das alles
ist Schicksal; den daran Schuldigen zu suchen, wäre müßig.
Viele Menschen hatten ähnliche Schicksale. Z. B. Novalis, Hölderlin,
Kafka, die den Tod mehrerer Geschwister erlebten, wurden dadurch stark
geprägt, aber sie hatten die Möglichkeit, ihr Leiden auszudrücken.

Im Falle Adolf Hitlers kam hinzu, daß er seine Gefühle und
die aus der frühen gestörten Mutterbeziehung stammende tiefe
Beunruhigung mit niemandem teilen konnte und gezwungen war, sie zu unterdrücken,
um beim Vater nicht aufzufallen und nicht neue Schläge zu provozieren.
Es blieb nur die Identifikation mit dem Aggressor.
Dazu kommt ein anderer Umstand, der aus dieser ungewöhnlichen Familienkonstellation
resultiert: Mütter, die ein Kind nach einem verstorbenen gebären,
idealisieren oft das verstorbene Kind (wie die verpaßten Chancen
eines unglücklichen Lebens). Das lebende Kind fühlt sich dann
angespornt, sich ganz besonders anzustrengen und Außergewöhnliches
zu leisten, um dem toten nicht nachzustehen. Aber die wahre Liebe der
Mutter gehört meistens dem toten, idealisierten Kind, das in ihrer
Phantasie alle Vorzüge aufzuweisen hätte – wäre es nur
am Leben geblieben. Das gleiche Schicksal hatte van Gogh, wobei dort nur
ein Bruder gestorben war.

Es konsultierte mich einmal ein Patient, der in einer auffallend schwärmerischen
Art von seiner glücklichen und harmonischen Kindheit sprach. Ich
bin an solche Idealisierungen gewöhnt, aber hier fiel mir im Ton
etwas auf, das ich noch nicht verstehen konnte. Im Lauf des Gespräches
stellte sich heraus, daß dieser Mann eine Schwester gehabt hatte,
die mit knapp zwei Jahren gestorben war und die offenbar für ihr
Alter übermenschliche Fähigkeiten hatte: sie konnte angeblich
die Mutter pflegen, wenn diese krank war, sie konnte ihr Lieder singen,
“um sie zu beruhigen”, konnte ganze Gebete auswendig usw. Als
ich den Mann fragte, ob er meine, das sei in dem Alter möglich, schaute
er mich an, als ob ich das größte Sakrileg begangen hätte,
und sagte: “Normalerweise nicht, aber bei diesem Kind war es so –
es war eben ein ganz außergewöhnliches Wunder”. Ich sagte
ihm, daß Mütter ihre verstorbenen Kinder sehr oft stark idealisieren,
erzählte ihm die Geschichte von van Gogh und meinte, es sei für
das lebende Kind manchmal sehr schwer, immer mit einem so großartigen
Bild verglichen zu werden, dem man ja nie gewachsen sein könne. Der
Mann fing wieder an, mechanisch über die Fähigkeiten seiner
Schwester zu sprechen und wie schrecklich es sei, daß sie gestorben
wäre. Dann, ganz plötzlich, hielt er inne und wurde von Trauer
geschüttelt – wie er glaubte – über den Tod der Schwester, der
beinahe 35 Jahre zurücklag. Ich hatte den Eindruck, daß er
da vielleicht zum ersten Mal Tränen über sein eigenes Kinderschicksal
vergoß, denn diese Tränen waren echt. Jetzt erst verstand ich
auch den fremden, künstlichen Ton in seiner Stimme, der mir am Anfang
der Stunde aufgefallen war. Vielleicht hat er mir unbewußt vorführen
müssen, wie seine Mutter über ihre Erstgeborene gesprochen hatte.
Er sprach so überschwenglich über seine Kindheit wie die Mutter
über das verstorbene Kind, zugleich aber teilte er mir in diesem
unechten Ton die dahinterliegende Wahrheit über sein Schicksal mit.

An diese Geschichte muß ich oft denken, wenn Menschen mich besuchen,
die eine ähnliche Familienkonstellation hatten. Wenn ich sie darauf
anspreche, erfahre ich immer wieder, welcher Kult da mit den Gräbern
der verstorbenen Kinder getrieben wird, der oft jahrzehntelang andauert.
Je bedürftiger das narzißtische Gleichgewicht der Mutter, um
so mehr versäumte Möglichkeiten malt sie sich im verstorbenen
Kind aus. Dieses Kind hätte ihr alle eigenen Entbehrungen, jedes
Leid beim Ehepartner und alle Sorgen mit den schwierigen lebenden Kindern
kompensiert. Es wäre ihr die ideale, vor allem Leid beschützende
“Mutter” gewesen – wenn es nur am Leben geblieben wäre.

Da Adolf als erstes Kind nach drei verstorbenen Kindern auf die Welt
kam, kann ich mir nicht vorstellen, daß die Beziehung seiner Mutter
zu ihm als nur “hingebungsvolle Liebe” aufgefaßt werden
kann, wie das die Biographen schildern. Sie meinen alle, Hitler hätte
zuviel Liebe von seiner Mutter erhalten (sie sehen in der Verwöhnung
oder, wie sie sich ausdrücken, in der “oralen Verwöhnung”
ein Übermaß an Liebe) und deshalb sei er so gierig nach Bewunderung
und Anerkennung gewesen. Weil er eine so gute und lange Symbiose mit seiner
Mutter gehabt hätte, soll er sie immer wieder auch in der narzißtischen
Verschmelzung mit den Massen gesucht haben. Solche Sätze findet man
manchmal auch in den psychoanalytischen Krankengeschichten.

Es scheint mir, daß ein tief in uns allen verankertes Erziehungsprinzip
bei solchen Deutungen wirksam ist. Man findet in Erziehungsschriften immer
wieder den Ratschlag, man solle Kinder nicht mit zu viel Liebe und Rücksicht
(was als “Affenliebe” bezeichnet wird) “verwöhnen”,
sondern von Anfang an für das richtige Leben abhärten. Psychoanalytiker
drücken sich hier anders aus, z. B. meinen sie, “man müsse
das Kind vorbereiten, Frustrationen zu ertragen”, als ob ein Kind
das nicht von selbst im Leben lernen könnte. Im Grunde ist es nämlich
genau umgekehrt: ein Kind, das einst echte Zuwendung bekommen hat, kann
besser als Erwachsener ohne diese auskommen als jemand, der sie nie wirklich
erhalten hat. Wenn also ein Mensch nach Zuwendung süchtig oder “gierig”
ist, ist das immer ein Zeichen, daß er etwas sucht, was er nie hatte
und nicht, daß er etwas nicht aufgeben will, weil er in der Kindheit
zuviel davon bekommen hat.

Es kann etwas von außen als Gewährung erscheinen, ohne es zu
sein. So kann ein Kind mit Nahrung, Spielzeug, Sorge (!) verwöhnt
werden, ohne je wirklich als das, was es war, gesehen und beachtet worden
zu sein. Am Beispiel Hitlers ist es doch zumindest leicht vorstellbar,
daß er niemals als Hasser seines Vaters, der er doch im Grunde auch
war, von seiner Mutter geliebt worden wäre. Wenn seine Mutter zur
Liebe und nicht nur zur genauen Pflichterfüllung je fähig gewesen
ist, so muß ihre Bedingung gewesen sein, daß er ein braver
Junge sein und dem Vater alles “verzeihen und vergessen” solle.
Eine aufschlußreiche Stelle bei Smith zeigt, wie wenig Adolfs Mutter
in der Lage gewesen wäre, ihm in seiner Not mit dem Vater beizustehen:

Das dominierende Gehabe des Hausherrn flößte seiner Frau und
den Kindern dauernden Respekt, wenn nicht Furcht ein. Selbst nach seinem
Tod blieben seine Pfeifen ehrfurchtgebietend auf einem Gestell in der
Küche aufgereiht, und wenn immer seine Witwe im Gespräch etwas
Besonderes unterstreichen wollte, verwies sie mit einer Geste auf die
Pfeifen, als ob sie die Autorität des Meisters beschwören wolle
(zitiert nach Stierlin, Seiten 21/22).

Da Klara die “Ehrfurcht” vor ihrem Mann noch nach seinem Tod
auf seine Pfeifen übertrug, kann man sich kaum vorstellen, daß
sich ihr Sohn ihr gegenüber mit seinen wahren Gefühlen je hätte
anvertrauen dürfen. Besonders, da seine drei verstorbenen Geschwister
in der Phantasie seiner Mutter doch sicher “immer brav” gewesen
waren und nun im Himmel ohnehin nichts Böses mehr anstellen konnten.

Adolf konnte also die Zuwendung seiner Eltern nur auf Kosten einer vollständigen
Verstellung und Verleugnung seiner wahren Gefühle bekommen. Daraus
entstand seine ganze Lebenshaltung, die Fest wie einen roten Faden in
Hitlers Geschichte herausspürt. Am Anfang seiner Hitler-Biographie
stehen die folgenden sehr zutreffenden, zentralen Sätze:

Die eigene Person zu verhüllen wie zu verklären, war eine der
Grundanstrengungen seines Lebens. Kaum eine Erscheinung der Geschichte
hat sich so gewaltsam, mit so pedantisch anmutender Konsequenz stilisiert
und im Persönlichen unauffindbar gemacht. Die Vorstellung, die er
von sich hatte, kam einem Monument näher als dem Bild eines Menschen.
Zeitlebens war er bemüht, sich dahinter zu verbergen (Fest, 1978,
S. 29).

Ein Mensch, der die Liebe der Mutter erfahren hat, muß sich niemals
so verstellen.

Adolf Hitler suchte systematisch den Kontakt zu seiner Vergangenheit abzuschneiden,
seinen Halbbruder Alois ließ er gar nicht an sich heran, seine Schwester
Paula, die ihm den Haushalt machte, zwang er, den Namen zu wechseln. Aber
auf der weltpolitischen Bühne inszenierte er unbewußt sein
wahres Kindheitsdrama – unter anderen Vorzeichen. Er war nun, wie einst
sein Vater, der einzige Diktator, der einzige, der etwas zu sagen hatte.
Die anderen hatten zu schweigen und zu gehorchen. Er war der, der Angst
einflößte, aber auch die Liebe des Volkes besaß, das
zu seinen Füßen lag, wie damals die untertänige Klara
zu Füßen ihres Mannes.
Die besondere Faszination, die Hitler bei Frauen genoß, ist ja bekannt.
Er verkörperte für sie den Vater, der ganz genau wußte,
was richtig und falsch war und ihnen dazu noch ein Ventil für ihren
seit der Kindheit aufgestauten Haß anbieten konnte. Diese Kombination
verschaffte Hitler bei Frauen und Männern seine große Anhängerschaft.
Denn all diese Menschen waren einst zum Gehorsam erzogen worden, in Pflicht
und christlichen Tugenden aufgewachsen; sie hatten schon sehr früh
lernen müssen, ihren Haß und ihre Bedürfnisse zu unterdrücken.

Und nun kam ein Mensch, der diese ihre bürgerliche Moral an sich
nicht in Frage stellte, der im Gegenteil ihre anerzogene, gehorsame Haltung
gerade noch gut gebrauchen konnte, der sie also nirgends mit Fragen oder
inneren Krisen konfrontierte, statt dessen ihnen ein universales Mittel
in die Hand gab, um endlich den seit den ersten Tagen ihres Lebens unterdrückten
Haß auf völlig legale Art ausleben zu können. Wer würde
nicht davon Gebrauch machen? Der Jude wurde jetzt schuld an allem, und
die wirklichen ehemaligen Verfolger, die eigenen, oft wirklich tyrannischen
Eltern, konnten in Ehren geschützt und idealisiert bleiben.

Ich kenne eine Frau, die zufällig nie mit einem Juden in Berührung
gekommen war, bis sie in den “Bund Deutscher Mädel” eintrat.
In ihrer Kindheit wurde sie sehr streng erzogen, ihre Eltern brauchten
sie zu Hause für den Haushalt, nachdem die anderen Geschwister (zwei
Brüder und eine Schwester) das Haus verlassen hatten. Sie durfte
deshalb keinen Beruf erlernen, obwohl sie ganz ausgeprägte Berufswünsche
hatte und auch die Begabung dafür besaß. Sie erzählte
mir viel später, mit welcher Begeisterung sie “von den Verbrechen
der Juden” in Mein Kampf gelesen und welche Erleichterung es in ihr
ausgelöst hatte, zu wissen, daß man da jemanden so eindeutig
hassen durfte. Nie hatte sie ihre Geschwister offen beneiden dürfen,
als diese ihren Berufen hatten nachgehen können. Aber dieser jüdische
Bankier, dem ihr Onkel für ein Darlehen Zinsen hatte zahlen müssen,
der war ein Ausbeuter auf Kosten des armen Onkels, mit dem sie sich identifizierte.
Denn sie wurde tatsächlich von den Eltern ausgebeutet, und auf die
Geschwister neidisch, aber solche Gefühle durfte ein anständiges
Mädchen nicht haben. Und nun gab es ganz unerwartet eine so einfache
Lösung: Man durfte hassen, soviel man wollte, und blieb doch oder
gerade deshalb das liebe Kind des Vaters und die nützliche Tochter
des Vaterlandes. Außerdem konnte man das “böse” und
schwache Kind, das man in sich immer zu verachten lernte, auf die Juden
projizieren, die eben schwach und hilflos waren, und sich selbst als nur
stark, nur rein (arisch), nur gut erleben.

Und Hitler selbst? Hier nahm ja die ganze Inszenierung ihren Anfang. Auch
für ihn gilt, daß er im Juden das hilflose Kind, das er selber
einst gewesen ist, in der gleichen Art mißhandelt, wie sein Vater
ihn. Und wie der Vater nie genug hatte und jeden Tag neu prügelte
und ihn mit 11 Jahren fast zu Tode schlug, so hatte auch Adolf Hitler
nie genug und schrieb in seinem Testament, nachdem er 6 Millionen Juden
hatte töten lassen, es müßten noch die Reste des Judentums
ausgerottet werden. Ähnlich wie bei Alois und den anderen schlagenden
Vätern zeigt sich hier die Angst vor der möglichen Auferstehung
und Rückkehr der abgespaltenen Teile ihres Selbst. Deshalb ist dieses
Schlagen eine nie endende Aufgabe, hinter ihr steht die Angst vor dem
Aufleben der eigenen unterdrückten Ohnmacht, Demütigung, Hilflosigkeit,
denen man das ganze Leben mit Hilfe der Grandiosität zu entfliehen
versucht hat: Alois mit dem Posten des höheren Zollbeamten, Adolf
als Führer, ein anderer vielleicht als Psychiater, der auf Elektroschocks
schwört, oder als Arzt, der Affengehirne verpflanzt, als Professor,
der Meinungen vorschreibt oder einfach als Vater, der seine Kinder erzieht.
In all diesen Anstrengungen geht es nicht um die anderen Menschen (oder
Affen), in allem, was diese Männer mit Menschen tun, wenn sie andere
verachten und erniedrigen, geht es eigentlich um die Ausrottung der eigenen
einstigen Ohnmacht und Vermeidung der Trauer.

Helm Stierlins interessante Studie über Hitler geht davon aus, daß
Adolf von seiner Mutter zu ihrer Rettung unbewußt “delegiert”
wurde. Das unterdrückte Deutschland wäre dann ein Symbol für
die Mutter. Dies mag wohl stimmen, aber in der Verbissenheit seines späteren
Handelns kommen zweifellos auch ureigene, unbewußte Interessen zum
Ausdruck. Es ist ein gigantischer Kampf um die Befreiung des eigenen Selbst
aus den Spuren grenzenloser Erniedrigung, für das Deutschland symbolisch
einsteht. Doch das eine schließt das andere nicht aus: Auch die
Rettung der Mutter bedeutet für ein Kind den Kampf um die eigene
Existenz. Anders ausgedrückt: wenn Adolfs Mutter eine starke Frau
gewesen wäre, hätte sie ihn- in der Phantasie des Kindes – nicht
diesen Qualen und der ständigen Furcht und Todesangst ausgesetzt.
Da sie aber selber erniedrigt und ihrem Manne völlig hörig war,
konnte sie das Kind nicht beschützen. Nun mußte er die Mutter
(Deutschland) vor dem Feind retten, um eine gute, reine, starke, judenfreie
Mutter zu haben, die ihm Sicherheit gegeben hätte. Sehr oft phantasieren
Kinder, daß sie ihre Mütter erlösen oder retten müßten,
damit sie ihnen endlich die Mütter sein könnten, die sie einst
gebraucht hätten. Das kann zu einer Ganztagsbeschäftigung im
späteren Leben werden. Da aber kein Kind die Möglichkeit hat,
die eigene Mutter zu retten, führt der Wiederholungszwang dieser
Ohnmacht, falls er in seinem Ursprung nicht erkannt und erlebt wird, unweigerlich
zum Mißerfolg oder sogar zur Katastrophe. Stierlins Gedanken ließen
sich unter diesem Gesichtspunkt weiter verfolgen und würden in der
Symbolsprache etwa zu folgendem Ergebnis führen: Die Befreiung Deutschlands
und die Zerstörung des jüdischen Volkes bis auf den letzten
Juden, d.h. die vollständige Beseitigung des bösen Vaters, hätten
Hitler die Bedingungen geschaffen, die ihn zum glücklichen, in Ruhe
und Frieden mit seiner geliebten Mutter aufwachsenden Kind hätten
machen können.

Diese unbewußte symbolische Zielsetzung hat selbstverständlich
wahnhaften Charakter, weil die Vergangenheit nicht mehr zu ändern
ist, doch jeder Wahn hat seinen Sinn, der sehr leicht zu verstehen ist,
wenn man die Kindheitssituation kennt. Durch Krankengeschichten und Angaben
der Biographen, die gerade die wesentlichsten Daten aus Abwehrgründen
übersehen, wird dieser Sinn häufig entstellt. So wurde z. B.
viel darüber geschrieben und recherchiert, ob der Vater von Alois
Hitler wirklich ein Jude war oder nicht und ob Alois als Alkoholiker bezeichnet
werden könne oder nicht.
Aber die psychische Realität des Kindes hat mit dem, was die Biographen
später als Fakten “beweisen”, oft sehr wenig zu tun. Gerade
der Verdacht auf jüdisches Blut in der Familie ist für ein Kind
viel belastender als die Gewißheit. Schon Alois mußte unter
dieser Ungewißheit gelitten haben, und zweifellos hat Adolf von
den Gerüchten gehört, auch wenn man nicht gerne und laut darüber
gesprochen hat. Gerade das, was die Eltern verschweigen wollen, beschäftigt
das Kind am meisten, besonders wenn es ein Haupttrauma seines Vaters war
(vgl. S. 196f.).

Die Verfolgung der Juden “ermöglichte” Hitler in der Phantasie,
seine Vergangenheit zu “korrigieren”. Sie erlaubte ihm:

1. die Rache am Vater, der als Halbjude verdächtigt wurde;
2. die Befreiung der Mutter (Deutschland) von ihrem Verfolger;
3. die Erlangung der Liebe der Mutter mit weniger moralischen Sanktionen,
mit mehr wahrem Selbst (Hitler wurde ja als schreiender Judenhasser vom
deutschen Volk geliebt, nicht als katholisches braves Kind, das er für
seine Mutter sein mußte);

4. die Umkehr der Rollen – er selber ist nun zum Diktator geworden, ihm
muß jetzt alles gehorchen und zu Füßen liegen, wie einst
dem Vater, er organisiert Konzentrationslager, in denen Menschen so behandelt
werden, wie er als Kind behandelt worden ist. (Ein Mensch denkt sich kaum
etwas Ungeheuerliches aus, wenn er es nicht irgendwie aus Erfahrung kennt.
Wir neigen nur dazu, die kindliche Erfahrung zu bagatellisieren.)
5. Außerdem ermöglichte die Judenverfolgung eine Verfolgung
des schwachen Kindes im eigenen Selbst, das auf die Opfer projiziert wurde,
um keine Trauer über vergangenes Leid zu erleben, weil ihm die Mutter
nie dabei hatte helfen können. Darin, sowie in der unbewußten
Rache auf den Verfolger der frühen Kindheit, traf sich Hitler mit
einer großen Zahl von Deutschen, die in der gleichen Situation aufgewachsen
waren.

Im Familienbild von Adolf Hitler, wie es von Stierlin gezeichnet wurde,
steht noch die liebevolle Mutter, die zwar die Retterfunktion auf das
Kind delegiert, es aber auch vor der Gewalt des Vaters beschützt.
Auch in Freuds Ödipusversion gibt es diese geliebte und liebende,
idealisierte Mutterfigur. Klaus Theweleit kommt in seinen Männerphantasien
der Wirklichkeit dieser Mütter sehr viel näher, obwohl auch
er sich scheut, die letzten Konsequenzen aus seinen Texten zu ziehen.
Er stellt fest, daß sich bei den von ihm analysierten Vertretern
der faschistischen Ideologie immer wieder das Bild eines strengen, züchtigenden
Vaters und der liebevollen, beschützenden Mutter findet. Sie wird
als “die beste Frau und Mutter von der Welt”, als “der
gute Engel”, “als klug, charakterfest, hilfsbereit und tief
religiös” bezeichnet (vgl. Theweleit, Band 1, S. 133). An den
Müttern der Kameraden oder an den Schwiegermüttern wird außerdem
ein Zug bewundert, von dem man offenbar die eigene Mutter ausgenommen
haben möchte: die Härte, die Liebe zum Vaterland, die preußische
Haltung (“Deutsche weinen nicht”), – die Mutter aus Eisen, der
“keine Wimper zuckt bei der Nachricht vom Tode ihrer Söhne”.

Theweleit zitiert:

Dennoch, nicht diese Nachricht gab der Mutter den Rest. Vier Söhne
fraß ihr der Krieg, sie überstand es; ein daneben Lächerliches
erschlug sie. Lothringen wurde welsch und damit die Erzgruben der Gesellschaft
(S. 135).

Wie aber, wenn diese beiden Seiten zwei Hälften der eigenen Mutter
waren?
Hermann Ehrhardt erzählt:

Vier Stunden hab ich einmal im Winter in der Nacht verbockt draußen
im Schnee gestanden, bis endlich die Mutter behauptete, es sei nun der
Strafe genug (ebd., S. 133).

Bevor die Mutter den Sohn “rettet”, indem sie findet, es sei
“nun der Strafe genug”, läßt sie ihn ja immerhin
vier Stunden im Schnee stehen. Ein Kind kann nicht verstehen, warum ihm
die geliebte Mutter so weh tut, es kann es nicht fassen, daß die
in seinen Augen riesengroße Frau im Grunde wie ein kleines Mädchen
ihren Mann fürchtet und ihre eigenen Kindheitsdemütigungen ihrem
kleinen Jungen unbewußt weitergibt. Ein Kind muß unter dieser
Härte leiden. Aber es darf dieses Leiden nicht leben und nicht zeigen.
Es bleibt ihm nichts übrig, als es abzuspalten und es auf andere
zu projizieren, d. h. den harten Zug seiner Mutter fremden Müttern
zuzuschreiben und ihn dort schließlich sogar zu bewundern.

Konnte Klara Hitler ihrem Sohn helfen, solange sie selber das hörige,
unterwürfige Dienstmädchen ihres Gatten war? Sie nannte ihren
Mann zu Lebzeiten schüchtern “Onkel Alois”, und nach seinem
Tode blickte sie ehrfurchtsvoll auf seine in der Küche ausgestellten
Pfeifen, jedesmal, wenn jemand seinen Namen erwähnte.
Was geschieht in einem Kind, wenn es immer wieder erfahren muß,
daß die gleiche Mutter, die ihm von Liebe spricht, ihm das Essen
sorgfältig bereitet, ihm schöne Lieder singt, zur Salzsäule
erstarrt und bewegungslos zusieht, wenn dieses Kind vom Vater blutig geschlagen
wird? Wie muß es sich fühlen, wenn es immer wieder vergeblich
ihre Hilfe, ihre Rettung erhofft; wie muß es sich fühlen, wenn
es vergeblich in seiner Folter erwartet, sie möge doch endlich ihre
Macht einsetzen, die doch in seinen Augen so groß ist? Aber diese
Rettung findet nicht statt. Die Mutter sieht zu, wie ihr Kind gedemütigt,
verspottet, gefoltert wird, ohne ihr Kind zu verteidigen, ohne etwas Erlösendes
zu tun, sie ist durch ihr Schweigen mit dem Verfolger solidarisch, sie
liefert ihr Kind aus. Kann man erwarten, daß das Kind dies versteht?
Und muß man sich wundern, wenn die Verbitterung auch der Mutter
gilt, obschon ins Unbewußte verdrängt? Dieses Kind wird seine
Mutter vielleicht bewußt heiß lieben; und später, bei
anderen Menschen, wird es immer wieder das Gefühl haben, ausgeliefert,
preisgegeben, verraten worden zu sein.

Hitlers Mutter ist sicher keine Ausnahmeerscheinung, sondern noch vielfach
die Regel, wenn nicht sogar ein Ideal vieler Männer. Aber kann eine
Mutter, die nur Sklavin ist, ihrem Kind die nötige Achtung geben,
die es braucht, um seine Lebendigkeit zu entwickeln? In der nachfolgenden
Schilderung der Masse in Mein Kampf läßt sich ablesen, welches
Vorbild an Weiblichkeit Adolf Hitler bekommen hat:

Die Psyche der breiten Masse ist nicht empfänglich für alles
Halbe und Schwache.
Gleich dem Weibe, dessen seelisches Empfinden weniger durch Gründe
abstrakter Vernunft bestimmt wird, als durch solche einer undefinierbaren,
gefühlsmäßigen Sehnsucht nach ergänzender Kraft,
und das sich deshalb lieber dem Starken beugt, als den Schwächling
beherrscht, liebt auch die Masse mehr den Herrscher als den Bittenden,
und fühlt sich im Innern mehr befriedigt durch eine Lehre, die keine
andere neben sich duldet, als durch die Genehmigung liberaler Freiheit;
sie weiß mit ihr auch meist nur wenig anzufangen und fühlt
sich sogar leicht verlassen. Die Unverschämtheit ihrer geistigen
Terrorisierung kommt ihr ebensowenig zum Bewußtsein, wie die empörende
Mißhandlung ihrer menschlichen Freiheit, ahnt sie doch den inneren
Irrsinn der ganzen Lehre in keiner Weise. So sieht sie nur die rücksichtslose
Kraft und Brutalität ihrer zielbewußten Äußerungen,
der sie sich endlich für immer beugt (zit. n. Fest, 1978, S. 79).

In dieser Beschreibung der Masse porträtiert Hitler sehr genau seine
Mutter und ihre Unterwerfung. Seine politischen Richtlinien stützen
sich auf sehr früh erworbene Erfahrungen: die Brutalität siegt
immer.
Hitlers Verachtung des Weibes, aus seiner Familiensituation begreiflich,
betont auch Fest. Er meint:

Seine Rassentheorie war durchsetzt von sexuellen Neidkomplexen und einem
tiefsitzenden antiweiblichen Affekt: das Weib, so versichert er, habe
die Sünde in die Welt gebracht, und seine Anfälligkeit für
die wollüstigen Künste der tierischen Untermenschen sei die
Hauptursache für die Verpestung des nordischen Blutes (Fest, 1978,
S. 64).

Vielleicht nannte Klara ihren Mann “Onkel Alois” aus bloßer
Schüchternheit. Aber er ließ sich das doch zumindest gefallen.
Ob er es sogar gefordert hat, so wie er von seinen Nachbarn per “Sie”
und nicht mit “Du” angeredet zu werden wünschte? Auch Adolf
nennt ihn ja “Herr Vater” in Mein Kampf, was möglicherweise
auf den Wunsch des Vaters zurückzuführen ist, der sehr früh
verinnerlicht wurde. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Alois mit solchen
Anordnungen das Elend seiner frühen Kindheit (von der Mutter weggegeben,
unehelich, arm, von unbekannter Herkunft) kompensieren und sich endlich
als Herr fühlen wollte. Aber von dieser Vorstellung ist es nur ein
Schritt zu dem Gedanken, daß sich deshalb alle Deutschen 12 Jahre
lang mit “Heil Hitler” begrüßen mußten. Ganz
Deutschland mußte sich den ausgefallensten, ganz privaten Ansprüchen
des Führers fügen wie einst Klara und Adolf dem allmächtigen
Vater.

Hitler schmeichelte der “deutschen, germanischen” Frau, weil
er ihre Huldigungen, ihre Wahl-Stimmen und ihre sonstigen Dienste brauchte.
Auch die Mutter hatte er gebraucht. Aber eine wirklich warme Vertrautheit
konnte er mit seiner Mutter nicht entwickeln. Stierlin schreibt:

N. Bromberg (1971) berichtet wie folgt über Hitlers sexuelle Gewohnheiten:
” . . . um zu einer vollen sexuellen Befriedigung zu gelangen, war
es für Hitler notwendig, eine junge Frau über seinem Kopfe hockend
zu beobachten, die in sein Gesicht urinierte oder defäzierte.”
Er berichtet weiter über ” . . . eine Episode von erotogenem
Masochismus, bei der sich Hitler vor die Füße einer jungen
deutschen Schauspielerin warf und sie bat, ihn zu treten. Als sie es zunächst
nicht wollte, beschwor er sie, seinem Wunsche zu genügen. Dabei überschüttete
er sich selbst mit Anschuldigungen und wand sich in einer so gequälten
Weise vor ihr, daß sie schließlich seinem Flehen stattgab.
Als sie ihn trat, wurde er erregt und als sie seinem Bitten nachgab und
ihn noch mehr trat, steigerte sich die Erregung. Der Altersunterschied
zwischen Hitler und den jungen Frauen, mit denen er sich in irgendeiner
Weise sexuell einließ, entsprach gewöhnlich etwa den 23 Jahren,
die zwischen seinen Eltern gelegen hatten (Stierlin, 1975, S. 168).

Es ist völlig undenkbar, daß ein Mann, der als Kind von seiner
Mutter zärtlich geliebt worden wäre, was ja die meisten Hitler-Biographen
beteuern, an solchen sadomasochistischen Zwängen, die auf eine sehr
frühe Störung hinweisen, gelitten hätte. Aber unser Begriff
der Mutterliebe hat sich offenbar noch nicht ganz von der Ideologie der
“Schwarzen Pädagogik” gelöst.

Zusammenfassung

Wenn ein Leser die Überlegungen zu Adolf Hitlers früher Kindheit
als Sentimentalität oder gar als “Entschuldigung” seiner
Taten auffassen sollte, so ist es natürlich sein gutes Recht, das
Gelesene so zu verstehen, wie er es kann oder muß. Menschen, die
z. B. sehr früh lernen mußten, “auf die Zähne zu
beißen”, empfinden in ihrer Identifikation mit dem Erzieher
jedes einem Kind erwiesene Mitgefühl als Ausdruck von Rührseligkeit
oder Sentimentalität. Was das Schuldproblem betrifft, so habe ich
ja gerade deshalb Hitler gewählt, weil mir kein anderer Verbrecher
bekannt ist, der mehr Menschenleben auf seinem Gewissen hat. Aber mit
dem Wort “Schuld” ist noch nichts gewonnen. Es ist selbstverständlich
unser gutes Recht und eine Notwendigkeit, Mörder einzusperren, die
unser Leben bedrohen. Vorläufig kennen wir noch keinen anderen Weg.
Doch das ändert nichts daran, daß das Morden müssen der
Ausdruck eines tragischen Kinderschicksals und das Gefängnis eine
tragische Besiegelung dieses Schicksals ist.

Sucht man nicht nach neuen Fakten, sondern nach ihrer Bedeutung im Ganzen
der bekannten Geschichte, so stößt man bei der Hitler-Forschung
auf Fundgruben, die noch kaum ausgewertet worden sind und daher der Öffentlichkeit
vorenthalten bleiben. Meines Wissens ist z. B. die wichtige Tatsache,
daß Klara Hitlers bucklige und schizophrene Schwester, Adolfs Tante
Johanna, von seiner Geburt an, seine ganze Kindheit hindurch, im gleichen
Haushalt lebte, bisher wenig beachtet geblieben. In den von mir gelesenen
Biographien jedenfalls fand ich diese Information nie im Zusammenhang
mit dem Gesetz der Euthanasie im Dritten Reich. Damit ein solcher Zusammenhang
einem Menschen auffällt, müßte dieser spüren dürfen,
welche Gefühle in einem Kind hochkommen, das täglich einem extrem
absurden und beängstigenden Verhalten ausgesetzt ist und dem es zugleich
verboten ist, seine Angst, Wut und seine Fragen zu artikulieren. Auch
die Gegenwart einer schizophrenen Tante kann vom Kind positiv verarbeitet
werden, aber nur, wenn es mit seinen Eltern auf der emotionalen Ebene
frei kommunizieren und mit ihnen über seine Ängste sprechen
kann.
Franziska Hörl, die Hausangestellte zur Zeit Adolfs Geburt, berichtete
in einem Interview mit Jetzinger, daß sie es wegen dieser Tante
nicht länger ausgehalten hätte und ihretwegen weggegangen wäre.
Sie sagte einfach: “Bei dieser spinnenden Buckligen bleibe ich nicht
mehr” (vgl. Jetzinger, S. 81).

Das eigene Kind darf so etwas nicht sagen, es hält alles aus, es
kann ja nicht weggehen; erst wenn es erwachsen wird, kann es handeln.
Als Adolf Hitler erwachsen wurde und zur Macht kam, konnte er sich endlich
tausendfach an dieser unglücklichen Tante für sein eigenes Unglück
rächen: er ließ alle in Deutschland lebenden Geisteskranken
töten, weil sie, seinem Gefühl nach, für die “gesunde”
Gesellschaft (d. h. für ihn als Kind) “unbrauchbare Menschen”
waren. Als Erwachsener mußte sich Adolf Hitler nichts mehr gefallen
lassen, konnte sogar ganz Deutschland von der “Plage” der Geisteskranken
und Geistesschwachen “befreien” und war auch nicht verlegen,
ideologische Verbrämungen für diese ganz persönliche Rache
zu finden.

Mit der Vorgeschichte des Euthanasie-Gesetzes habe ich mich in meiner
Darstellung nicht beschäftigt, weil es mir in diesem Buch vor allem
darum ging, die Folgen der aktiven Demütigung eines Kindes an einem
eindrücklichen Beispiel zu schildern. Da eine solche Demütigung,
gepaart mit Redeverbot, ein stabiler Faktor der Erziehung und überall
anzutreffen ist, wird der Einfluß dieses Faktors auf die spätere
Entwicklung des Kindes leicht übersehen. Mit dem Hinweis, daß
Schläge üblich seien, oder gar mit der Überzeugung, daß
sie notwendig sind, um zum Lernen anzuspornen, wird das Ausmaß der
kindlichen Tragödie völlig ignoriert. Da ihre Beziehung zu den
späteren Verbrechen nicht gesehen wird, kann sich die Welt über
diese entsetzen und ihre Vorgeschichte übergehen, als ob die Mörder
vom heiteren Himmel heruntergefallen wären.

Ich habe Hitler hier nur als Beispiel genommen, um zu zeigen:

  1. daß auch der größte Verbrecher aller Zeiten nicht
    als Verbrecher auf die Welt gekommen ist;
  2. daß die Einfühlung in das Kinderschicksal die Einschätzung
    der späteren Grausamkeiten nicht ausschließt (das gilt sowohl
    für Alois wie für Adolf);
  3. daß das Verfolgen auf abgewehrtem Opfersein beruht;
  4. daß das bewußte Erlebnis des eigenen Opferseins mehr vor
    Sadismus, d. h. vor dem Zwang, andere zu quälen und zu demütigen,
    schützt als seine Abwehr;
  5. daß die vom Vierten Gebot und von der “Schwarzen Pädagogik”
    vorgeschriebene Schonung der Eltern dazu führt, ganz entscheidende
    Faktoren in der frühen Kindheit und der späteren Entwicklung
    eines Menschen Zu übersehen;
  6. daß man als erwachsener Mensch mit Beschuldigungen, Entrüstung
    und Schuldgefühlen nicht weiterkommt, sondern mit dem Verstehen der
    Zusammenhänge;
  7. daß das wirkliche emotionale Verstehen nichts mit einem billigen,
    sentimentalen Mitleid zu tun hat;
  8. daß die Ubiquität eines Zusammenhangs uns nicht davon befreit,
    ihn zu untersuchen, sondern ganz im Gegenteil, weil er unser aller Schicksal
    ist oder sein kann;
  9. daß das Ausleben eines Hasses im Gegensatz steht zum Erleben.
    Das Erleben ist eine intrapsychische Realität, das Ausleben dagegen
    ist eine Handlung, die den andern Menschen das Leben kosten kann. Wo der
    Weg zum Erlebnis durch Verbote aus der “Schwarzen Pädagogik”
    oder durch die Bedürftigkeit der Eltern versperrt ist, da muß
    es zum Ausleben kommen. Dieses kann sich entweder in der destruktiven
    Form wie bei Hitler oder in der selbstdestruktiven wie bei Christiane
    F. zeigen. Es kann aber auch wie bei den meisten Verbrechern, die im Gefängnis
    landen, sowohl die Zerstörung des Selbst wie die des Anderen ausdrücken.
    Das wird am Beispiel von Jürgen Bartsch deutlich, mit dem ich mich
    im nächsten Kapitel beschäftige.

¹ Die von Ray E. Helfer und C. Henry Kempe
1979 unter dem Titel. Das geschlagene Kind
herausgegebenen Aufsätze unterrichten den Leser mit sehr viel Einfühlung
und Kenntnis über die Motive der Züchtigung von Säuglingen.

² Diese Information verdanke ich einer mündlichen
Mitteilung von Paul Moor.