Das fühlende Kind
Interview der Therapeutin Diane Connors mit Alice Miller für die Zeitschrift Omni Publishers International
März 1987
Warum leugnen manche Fachleute das, was Sie schreiben?
Viele empfinden meine Aussagen als beängstigend und gefährlich. Besonders, wenn sie sich verpflichtet fühlen, alles so zu sehen, wie Freud es sehen wollte.
Was ist denn so beängstigend daran?
Meine Hinweise auf Kindesmißhandlungen und deren Folgen. Der Zorn des Kindes und die anderen starken Gefühle, die wir fürchten mußten, sind Reaktionen auf in der Kindheit erfahrene Verletzungen. Heute wissen wir, wie häufig diese stattfinden. Das Kind muß die Erinnerung an erlittene Qualen verdrängen, es verleugnet den Schmerz und die Fakten, um zu überleben, um nicht daran zu sterben.
Wenn dies sehr früh stattfindet, hat das Kind ja noch keine Worte, um diesen Schmerz auszudrücken.
Das stimmt. Aber der Schmerz war trotzdem da. Die Worte müssen in der Therapie gefunden werden. Eine gute Therapie sollte dem Klienten helfen, sich von dem schweigenden Kind zum sprechenden Kind zu entwickeln. Das Kind konnte die Worte noch nicht finden, wenn das Drama so früh stattgefunden hat und die Umgebung ausgesprochen feindlich war. Aber jetzt, in der Therapie, wenn der Therapeut seinen Klienten als Anwalt dient und als der bewusste Zeuge von dem, was in der ersten Zeit ihres Lebens geschehen ist, dann lernt das schweigende Kind zu sprechen. Die Therapie ist ja da, um die Worte zu finden, um der Mutter und dem Vater zu sagen, wie das Kind sich gefühlt hat zur Zeit, als es noch nicht sprechen konnte.
Was verstehen Sie unter einem Anwalt?
Jemanden, der sich ganz auf die Seite des Kindes stellt, immer. Der Therapeut sollte nicht sagen, die Eltern waren zwar gestört, aber hatten immer die besten Absichten, weil er sich dann auf die Seite der Erwachsenen stellt. Wir können nicht lernen zu fühlen, besonders nicht den Zorn zu fühlen, wenn wir die Menschen verstehen wollen, die uns verletzt haben. Beides gleichzeitig geht nicht. Wenn das Kind denkt, daß die Eltern, die so grausam mit ihm umgingen und es schwer gedemütigt hatten, es doch eigentlich gut mit ihm meinten, dann kann es nicht den Schmerz und die Wut fühlen und bleibt verwirrt. Es stellt sich auch auf die Seite der Eltern. Das geschlagene Kind fühlt sich gedemütigt, verwirrt, isoliert und obendrein noch schuldig, weil man ihm sagte, daß es schlecht und böse sei. Wir haben Angst ohne Umschweife zu sagen, daß Kindesmißhandlung ein Verbrechen ist, weil wir die Eltern nicht beschuldigen wollen. Aber wir helfen niemandem, wenn wir ihre Blindheit unterstützen, weil wir auf diese Weise auch das Kind in den Eltern betrügen.
Wie arbeiten Sie mit dem Schmerz im therapeutischen Prozeß?
Der Schmerz birgt den Weg zur Wahrheit. Wenn wir verleugnen, daß wir als Kinder nicht geliebt wurden, ersparen wir uns den Schmerz, aber wir verbauen uns den Weg zu unserer Wahrheit. Und unser ganzes Leben werden wir versuchen, die Mutter- und Vaterliebe zu finden, weil wir glauben und hoffen, daß sie seit der Kindheit auf uns wartet, da sie uns doch zustand. Doch diese Liebe, die wir als Kinder vermißten, wartet nicht. Sie war nicht da, und wird nie da sein. Aber als Erwachsene können wir in der Therapie lernen, dieses Kind, das wir waren, zu lieben. Wenn wir uns von den Schuldgefühlen befreien. Die meisten Klienten denken, es war ihr Fehler, wenn sie nicht geliebt wurden. Das Schuldgefühl ist ein Schutz gegen das schmerzliche Bewußtwerden, daß uns das Schicksal eine liebesunfähige Mutter gab. Dies ist viel schmerzhafter als zu denken, oh, sie war eine gute Mutter, aber ich war so böse. Weil wir dann etwas dagegen tun können. Wir können uns Mühe geben, die Liebe zu bekommen. Aber die Liebe kann man nicht mit Leistungen verdienen, und die Schuldgefühle wegen dem, was wir getan oder nicht getan haben, unterstützen nur unsere Blindheit und die Erkrankungen.
Es ist in der Therapie wichtig, daß der Klient seine Gefühle erlebt und sie verbal ausdrücken kann. Wenn er als Kind mißhandelt wurde und der Therapeut das nicht verleugnet, kann sich vieles im Klienten öffnen, sofern der Therapeut nicht Vergebung predigt. Sonst wirkt er kontraproduktiv. Der Klient wird dann seinen Zorn unterdrücken und verdrängen und ihn später an seinem Kind und an anderen Sündenböcken ausleben.
Glauben Sie, daß das Kind als ein unbeschriebenes Blatt geboren wird?
Nein, das glaube ich nicht. Das Kind kommt auf die Welt schon mit seiner Geschichte, die es im Mutterleib erlebt hat. Es wird dennoch unschuldig geboren und ist bereit, zu lieben. Das Kind kann lieben, viel mehr als die Erwachsenen lieben können. Diese meine Überzeugung findet soviel Widerstand, weil wir gelernt haben, unsere Eltern zu verteidigen und uns selbst für alles zu beschuldigen, was auch immer sie getan haben.
Inwiefern reflektiert ihr Schreibstil diese Gedanken?
Ich versuche das Kind im Leser zu erreichen und ihm den Zugang zu seinen Gefühlen zu eröffnen. So biete ich ihm Schlüssel an. Jeder kann sie nehmen und eine Tür in seinem Inneren damit öffnen. Oder er kann sagen, ich will diese Türe nicht öffnen; ich gebe Ihnen die Schlüssel zurück. Ich versuche, Gefühle mit Hilfe von Bildern zu wecken. Mit diesen Schlüsseln ausgestattet, kann man zu den eigenen Kindern gehen und von ihnen noch mehr lernen, mehr als von mir, weil man eigentlich nur aus der eigenen Erfahrung lernen kann.
Warum haben Sie beschlossen, die Praxis aufzulösen und zu schreiben?
Ich wollte Menschen über all das informieren, was ich als Therapeutin gefunden habe. Ich wollte zeigen, daß es keinen einzigen Menschen auf der ganzen Welt gibt, der Kinder mißbraucht, ohne selbst als Kind mißbraucht worden zu sein. Das zu realisieren scheint mir ganz wesentlich, und es kann helfen, vieles zu verstehen. Als Analytikerin konnte ich diese Einsicht nicht mit meinen Kollegen teilen. Es war nicht möglich, und ich wollte verstehen, weshalb. So habe ich das dritte Buch geschrieben, Du sollst nicht merken. Ich fühlte mich in der Position des Kindes in Andersens Märchen, das nicht begreifen konnte, weshalb alle Menschen um es herum die einfachsten Fakten leugnen, nämlich daß der Kaiser keine Kleider anhatte. Dann begannen andere Interesse an meinen Büchern zu entwickeln. Der bekannte Anthropologe Ashley Montagu hat meine Sicht sehr stark bestätigt, und ich fand in den USA viel Unterstützung von anderen Schriftstellern, die ebenfalls über Kindesmißhandlungen schrieben. Montagu sandte mir sein Buch Growing Young, in dem er sich mit meiner Kritik der Psychoanalyse vollauf solidarisierte. Er zitierte darin den berühmten englischen Psychoanalytiker Edward Glover, der über das normale Kind schrieb, es sei »egozentrisch, gierig, schmutzig, gewalttätig im Temperament, destruktiv in seinem Verhalten, tief sexuell in seinen Absichten, mit einem total primitiven Realitätssinn, ohne Bewußtsein und moralische Gefühle. Seine Haltung zur Gesellschaft, die von den Eltern repräsentiert ist, ist opportunistisch, dominierend und sadistisch.«
Diese Sicht des Kindes ist eine große Gefahr für die Menschheit. Mit solchen Vorstellungen maßen sich also Fachleute an, den Kindern die Normen der Gesellschaft zu vermitteln und es zu einem sozialen Wesen zu erziehen. Es war für mich ein Schock zu sehen, daß diese Einschätzung des Kleinkindes den psychoanalytischen Theorien zugrunde liegt. Ganz kraß kommt dies in den Schriften von Melanie Klein zum Vorschein.
Wie sind die Reaktionen der Kleinianer auf Ihre Werke?
Es gibt nur selten Reaktionen von dieser Seite, aber einmal schrieb mir ein holländischer Psychiater, der in der kleinianischen Schule ausgebildet war: »Was Sie publizieren, hat alles auf den Kopf gestellt, was ich gelernt habe, und machte mir zuerst Angst. Aber heute bin ich Ihnen dankbar dafür, denn jetzt erlebe ich die Klinik jeden Tag als faszinierend. Früher habe ich mich gelangweilt, als ich versuchte, mit der Brille der kleinianischen Theorie vom bösen Säugling die Menschen zu sehen. Plötzlich sehe ich die Geschichten der Patienten, und ich kann von ihnen lernen.«
Wenn ich sage, ich möchte die Augen und Ohren der Erwachsenen für das Leiden der Kinder öffnen, dann denke ich an die Arbeiten von Frédérick Leboyer und an seine Erfahrungen mit Neugeborenen. So viele Menschen haben Geburten miterlebt, und niemand sah, daß das Schreien des Kindes der Ausdruck seiner Leiden war. Niemand fühlte mit dem Kind. Alle waren überzeugt, daß es unbedingt nötig sei, daß es nach der Geburt zu schreien beginnt. Leboyer zeigte, daß das nicht so sein muß, daß das Kind einige Minuten nach der Geburt lächeln kann.
Das, was die Fachleute gelernt haben, können sie selten in Frage stellen, und was Leboyer für das Neugeborene tat, versuche ich für das Kleinkind zu tun, indem ich dessen Verhalten verständlich mache, um Kindesmißhandlungen in Zukunft zu verhindern. Solange wir diese verleugnen, können wir sie nicht aufhalten. Wir nennen sie dann Erziehung. Ich versuche, den Erwachsenen für die Gefühle des Kindes zu öffnen, Gefühle, die ich bei mir entdeckt habe, als ich zu malen anfing.
Hat das Malen bei Ihnen Gefühle für Ihr eigenes Leiden geweckt?
Natürlich. Hier war ich unbelastet vom abstrakten Gepäck. Ich hatte soviel Freude, als ich zu malen begann. Ich spürte, es ging etwas in mir auf, das ich zwar schwach ahnen konnte, aber noch nicht verstand. Nachdem ich fünf Jahre lang gemalt hatte, schrieb ich das Drama. Ich kümmerte mich nicht darum, wie andere Leute psychologische Bücher schrieben. Das gab mir die Freiheit, vieles in Frage zu stellen, was ich über Theorien gelernt hatte.
Im Drama schreiben Sie, daß die Verdrängung der Gefühle zum Verlust der Vitalität führt. War das Ihre Erfahrung?
Ja. Nachdem ich die Schmerzen meiner Kindheit zum ersten Mal erlebt hatte, gewann ich meine Vitalität. Die Depression ist der Preis, den wir für die Verdrängung der Gefühle bezahlen. Für mich haben Malen, Schreiben und Träumen etwas Gemeinsames. Ich male, wie ich träume. Am Anfang wollte ich Geschichten malen, aber ich habe die Erfahrung gemacht, daß dies nicht mein Weg war. Ich lasse mich von dem leiten, was ich im Moment empfinde und was ich brauche. Diese Farbe, diese Form, diese Linie. Es ist eher eine Art Improvisation.
Wer sind Ihre Helden?
Je älter ich werde, desto weniger Helden habe ich. Freud war nie mein Held, aber für eine gewisse Zeit eine Vaterfigur. Doch als ich seine Verleugnung der Wahrheit entdeckte, verlor er diese Rolle für mich. Ich kann heute niemanden idealisieren, wie ich es noch vor vierzig Jahren tat. In meiner Schulzeit war Sokrates für mich eine wichtige Figur, weil er vieles in Frage stellte, aber leider nicht die gewaltsame Erziehung, wie ich erst später erfuhr. Ich bin auch sehr angetan von Montaigne, von seiner Ehrlichkeit; ich mag Kafka, und ich bewundere Shakespeare für seine psychologische Intuition. Ich lese gern Geschichten über Kindheiten. Die Kindheit gibt mir immer den Zugang zu einer Persönlichkeit. Es ist bedauerlich, daß diese aufschlußreichen Fakten meist übersehen oder ignoriert werden.
Was denken Sie im allgemeinen über Träume?
Träume erzählen mir die Geschichte der Kindheit, aber natürlich verwandelt. Die Probleme des Vortags sind darin mit verwoben. Sie offenbaren oft die Geschichte der Traumen, aber sie helfen auch dem Träumer, sie zu bewältigen. Sie sind eine kreative Kraft, die jeder Mensch in der Nacht erlebt, wenn die Kontrolle nachläßt. Sie können auch sehr hilfreich sein, wenn wir eine Entscheidung am nächsten Tag treffen müssen, weil Sie uns manchmal darüber informieren, was wir eigentlich wirklich tun wollen.
Kann die Therapie eine Veränderung bewirken?
Ja, aber nur, wenn sie den Schmerz verständlich macht, der durch Schuldgefühle blockiert ist. Die Vorstellung »ich bin schuld an dem, was mir widerfahren war«, ist eine Blockierung. Man kann viele unverantwortliche und schädliche Techniken finden, die zwar Schmerzen auslösen, aber keine systematische Konfrontation mit der Vergangenheit ermöglichen. Manche lassen die Klienten mit mystischen Angeboten oder mit ihrem unaufgelösten Schmerz allein. Diese Klienten sind zuerst Opfer von Kindesmißbrauch und dann von Therapiemißbrauch. Und sie versuchen, sich selbst zu »helfen« – mit der Einnahme von Drogen, dem Anschluß an Sekten oder Gurus oder mit der Suche nach anderen Wegen, um die Realität zu verleugnen und die Schmerzen zu töten. Politische Aktivität kann einer dieser Wege sein.
Welchen Rat würden Sie heute einem Therapeuten geben, der sich in die Ausbildung begibt?
Ich würde sagen: »Versuchen Sie zuerst Ihre Kindheit zu entdecken, und nehmen Sie diese Erfahrung ernst. Lernen Sie, den Klienten zuzuhören und sich von den Theorien zu befreien. Vergessen Sie diese. Analysieren Sie nicht den Klienten wie ein Objekt. Suchen Sie mit ihm seine Kindheit. Wenn der Klient über sein Leiden in der Kindheit erzählt, was eher selten vorkommt, glauben Sie ihm. Glauben Sie ihm alles, was er erzählt, und vergessen Sie nicht, daß verdrängte Realität immer schlimmer war als die Phantasien. Niemand erfindet Traumas, weil er diese nicht braucht, um zu überleben. Auch die Verleugnung brauchen wir nicht, obwohl viele das meinen. Manche von uns bezahlen dafür mit schweren Symptomen. Die Therapie sollte Ihre Gefühle für das ganze Leben erwecken. Sie sollte Sie aus einem langen Schlaf wecken.«
Es ist tragisch, in der Therapie statt Hilfe Verwirrung zu finden. Ich erhielt kürzlich einen Brief von einer neunundsiebzig jährigen Frau, in dem es heißt: »Ich war vierzig Jahre lang in Psychoanalysen. Ich sah acht Analytiker, und sie waren alle sehr nette Menschen, Sie wollten mir helfen. Sie haben aber niemals daran gezweifelt, daß meine Eltern gut zu mir waren. Ich bin so dankbar, daß ich mich nicht mehr schuldig fühle, nachdem ich Ihre Bücher gelesen habe. Ich sehe jetzt, wie schrecklich ich mißbraucht wurde in meinem ganzen Leben. Zuerst waren es meine Eltern und dann meine Analytiker, bei denen ich mich wieder beschuldigt fühlte für alles, was meine Eltern getan hatten. Ich durfte meinen Gefühlen nicht glauben, die mir doch fortwährend meine Wahrheit erzählten. In ihrem Brief zitiert sie den letzten Satz aus meinem Buch Am Anfang war Erziehung: »Denn die menschliche Seele ist praktisch unausrottbar, und ihre Chance, vom Tod aufzuerstehen, bleibt, solange der Körper lebt.«
Kann die Gesellschaft die Sprache des Kindes lernen?
Ich hoffe es. Die Sprache des Kindes ist eigentlich sehr klar, aber wir hören oft einfach nicht zu. Kinder erleiden manchmal vom ersten Moment des Lebens an furchtbare Qualen, nicht zuletzt dank der Technologie in den Spitälern. Diese Mißhandlungen bleiben im Gehirn gespeichert und können das ganze Leben lang aktiv bleiben. Ein durch die Technik mißhandeltes Kind braucht ganz bald eine Person, die es in den Arm nimmt, es tröstet und ihm zeigt, daß der Schock vorbei ist. Sonst kann es vorkommen, daß der Erwachsene sein ganzes Leben eine Wiederholung befürchtet und bei verschiedenen Gelegenheiten in Panik gerät, ohne den Grund zu kennen.
Dieser Mensch hat von Anfang an gelernt, daß er in einer gefährlichen Situation war und niemand seine Schmerzen beachtete. Doch ein solch tragisches Schicksal kann leicht vermieden werden, wenn wir das Neugeborene als ein fühlendes und höchst sensibles Wesen anerkennen. Oft kommt ja das Kind nach einem langen Kampf auf die Welt, und nicht immer realisieren wir, daß es dann unbedingt die tröstenden Arme der Mutter braucht. Wir geben ihm stattdessen Medikamente, Spritzen und dergleichen, und denken, es sei gut für das Kind. Nur weil wir dasselbe vor vielen Jahren erlebt haben und, dies daher als ganz »normal« ansehen.
Es hat mir einmal ein Leser geschrieben: »Meine Mutter war sehr besorgt um meine Gesundheit und brachte mich häufig zum Hausarzt. Doch ich kann mich nicht an einen einzigen Moment erinnern, dass ich mich von ihr angeschaut, wahrgenommen fühlte. Nicht einmal eine Minute lang.« Um diesen Mangel zu spüren, muss einem Menschen das Bedürfnis, gesehen zu werden, bereits bewusst werden. Doch die meisten Menschen haben es sehr früh verdrängt, aus Angst, bestraft dafür zu werden.
Und was möchten Sie jetzt machen?
Ich möchte Menschen unterstützen, die daran arbeiten, die Sensibilität der Erwachsenen für das Leiden der Kindheit zu wecken. Die vereinzelten Anwälte der Kinder können Menschenleben retten, weil sie die Dinge beim Namen nennen. Sie verbergen nicht die Wahrheit hinter schönen Worten. Ein solcher Anwalt kann auch helfen, daß das Kind kein Verbrecher wird. Von ihm lernt es, Grausamkeit zu erkennen, sie abzulehnen und sich dagegen zu wehren. Auf diese Weise entgeht es dem Schicksal, Grausamkeit an Unschuldigen zu wiederholen. Experimente haben gezeigt, daß man nicht durch Strafen Nächstenliebe lernen kann. Was man lernt, ist, die Strafen zu umgehen und zu lügen. So lernt man, zwanzig oder dreißig Jahre später eigene Kinder zu mißhandeln. Trotz dieser vielsagenden Experimente denken die meisten Menschen, daß Strafen produktiv wirken können.
Wie denken Sie über die milderen Formen der Grausamkeit, zum Beispiel Klapse, Anschreien oder verbale Demütigungen?
Die Tragödie ist, daß auch Menschen, die nicht ausgesprochen brutal behandelt wurden, die nicht zu einer Art Hitler geworden sind, immer wieder behaupten, daß ihre »strikte« Erziehung notwendig war. Sie reklamieren das Recht, das Gleiche mit ihren Kindern zu tun, und sind entschieden gegen das Schlagverbot.
Die Ignoranz unserer Gesellschaft ist das Resultat des Schlagens. Wir wurden geschlagen, um blind zu werden. Wir müssen jetzt sehend werden, um den Kindern die Chance zu geben, mit mehr Verantwortung und mehr Wissen aufzuwachsen als unsere Generation, die heute ihre Sicherheit in der atomaren Aufrüstung sucht. Zum Glück werden nicht alle geschlagenen Kinder später zu Diktatoren; aber unter den Diktatoren fand ich keinen einzigen, der nicht in seiner Kindheit schwer mißhandelt wurde.
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