Für den Abbruch der Schweigemauer

Für den Abbruch der Schweigemauer

Interview mit der Schweizer Psychologin Alice Miller über die Folgen der Kindesmisshandlung und ihr Verschweigen

Dies ist eine gekürzte Fassung eines Interviews, das zuerst im Magazin SPIEGEL erschienen war und 1990 in der Zeitschrift UNION in der damaligen DDR abgedruckt wurde.

Worin sehen Sie die Ursachen psychischer Krankheiten?

Im Gegensatz zu den meisten meiner früheren Kollegen sehe ich den Grund für die Destruktivität und das psychische Leiden nicht in den menschlichen Trieben, sondern in der Verdrängung der Kindheitstraumata, die zum Überleben notwendig war, die aber den Erwachsenen in seinen Möglichkeiten einengt und blind, daher verantwortungslos, macht. Daher sehe ich in der emotionalen Aufdeckung der eigenen Kindheits- und Lebensgeschichte, in der Aufhebung deren Verdrängung, den Weg zur Befreiung und Verantwortlichkeit.

Weshalb werden Ihre Bücher so leidenschaftlich gelesen?

Ich habe in meinen Büchern beschrieben, was ein Kind in unserer Gesellschaft durchzustehen hat, ohne dass dies von den Erwachsenen überhaupt je realisiert wird, weil diese früh gelernt haben, dies als „normal“ zu bezeichnen. Ich habe das Leiden des Kindes immer von seiner Perspektive und aus seinem Erlebnis heraus geschildert, um dem Erwachsenen den Zugang zu seiner verschütteten Welt zu ermöglichen. Daher ist es begreiflich, wenn viele bei der Lektüre meiner Bücher zum ersten Mal ihr wahres Leiden in sich entdecken, das einst in sich zum Schweigen, zum Verstummen gebrachtes Kind, das sie jahrzehntelang in der Verbannung hielten. Diese Entdeckung der eigenen bisher unbekannten Geschichte fasziniert sie.

Wie sind Sie denn auf das Thema Kindheit gekommen?

Ich habe zuerst in Philosophie doktoriert, dann 20 Jahre lang als Psychoanalytikerin Freud’scher Richtung gearbeitet und gelehrt, doch ich hatte immer noch keine Ahnung davon von, was sich in den ersten Jahren meines Lebens abgespielt hatte. Dann begann ich 1973 spontan zu malen wie ein unverbildetes Kind. Aus den Flecken entstanden bald Figuren, und es wurde mir mit der Zeit klar, dass sie mir von meiner Kindheit erzählten, von der ich bis dahin annahm, sie wäre glücklich gewesen; trotz meiner beiden Lehranalysen hing ich an diesem grundfalschen Bild. Ich schrieb meine ersten drei Bücher, das „Drama des begabten Kindes“, „Am Anfang war Erziehung“ und „Du sollst nicht merken“, ich schrieb über Patienten und Schriftsteller, ohne damals zu ahnen, wie genau diese drei Titel meine eigene Geschichte umkreisen.

Praktizieren Sie jetzt noch?

Nein, seit 11 Jahren habe ich keine therapeutische Praxis mehr. Seitdem ich erkannte, dass der Mensch nicht böse auf die Welt kommt, sondern am Ursprung seines Lebens zum bösen und verwirrten Erwachsenen gemacht werden kann, durch Misshandlungen und Verwahrlosungen, durch Missachtung seiner Gefühle, Bedürfnisse und Rechte, entschloss ich mich, diese Erkenntnis mit anderen zu teilen und zu erzählen, was ich entdeckte.

Muss ein schweres Kindheitsschicksal notgedrungen zum Verbrechen oder zur Geisteskrankheit im Erwachsenen führen?

Nein, jeder könnte das bestätigen. Der bezahlte Preis ist zwar oft unsichtbar. Meistens zahlen ihn die eigenen Kinder oder der eigene Körper. Doch es stimmt: Auch ein unglückliches Kind muss nicht zum Kriminellen oder Geisteskranken werden, dann nämlich nicht, wenn es die Möglichkeit hat, dank einem wissenden Zeugen, die Verursacher seiner Not zu erkennen und sein Schicksal zu beklagen, kurzum zu realisieren, dass es grausam behandelt wurde.
Doch die meisten schwer misshandelten Kinder wissen nicht, dass ihnen Grausamkeit widerfuhr, eben weil ihnen der helfende Zeuge fehlte, der ihnen ermöglicht hätte, Grausamkeit überhaupt auszumachen. Diese Kinder glauben, dass sie es verdient haben, als kleine Kinder geschlagen zu werden, oder gar gefoltert, dass dies zu ihrem Bestengeschah. Hitler erzählte ja mit Stolz über seine Schläge, und Stalin soll sogar in einem Interview mit Stefan Zweig geleugnet haben, dass er überhaupt geschlagen wurde, während nach Berichten der Augenzeugen sein betrunkener Vater täglich in Wutausbrüchen dieses Einzelkind prügelte. Menschen, die ihr Leiden in der Kindheit so total verleugnen, sind in Gefahr (und‘ werden zur Gefahr), als Erwachsene ihre verleugne ten Qualen an andere weiterzugeben, ebenfalls mit der Etikette „zu deinem Besten“. Sie tun das den eigenen Kindern gegenüber oder gar ganzen Völkern gegenüber. Im „Abbruch der Schweigemauer“ habe ich am Beispiel von Ceausescu gezeigt, wie er die Heuchelei seiner Erziehung, das Prinzip: Ich foltere dich „zu deinem Besten“ auf der innenpolitischen Bühne demonstriert hat – leider ohne dass dies von irgend jemandem registriert und verstanden worden wäre, um diesem grauenhaften Schauspiel ein Ende zu machen. In unzähligen Varianten spielten sich in Rumänien die Szenen aus der Erziehung ab, die nicht durchschaut wurden, weil sie für die meisten so bekannt und selbstverständlich sind. Stalin, Hitler, Ceausescu und viele andere Diktatoren waren schwer misshandelte Kinder, die sich an Millionen dafür rächten und diese Rache als Erlösung für ihre Völker ausgaben. Sie mussten als Kinder viel Schlauheit entwickeln, um nicht Umgebracht zu werden, und diese setzten sie als Erwachsene ein, um die anderen zu beherrschen, mit Hilfe von geschickten Erpressungen, Drohungen und List. Sie können endlich anderen unschuldigen Menschen die gleiche Angst einflößen, die Rechtlosigkeit und Missachtung, deren Opfer sie selbst in der Kindheit waren. Sie kriegen nicht selten eine große Gefolgschaft unter den Menschen mit ähnlichem Kinderschicksal, die in diesen Diktatoren dem lange ersehnten Erlöser zujubeln. Die Sprache der Lüge und Gewalt, die sie seit jeher so gut kennen, scheint diesen Menschen ein Zeichen der Stärke zu sein. Am Beispiel von Stalin, Hitler, Ceausescu wie auch Napoleon sehen wir, dass es die Sprache der Angst ist, der verdrängten Angst, eines rücksichtslos, skrupellos und absolut verantwortungslos gewordenen Menschen, der bereit ist, Millionen anderer Menschen zu opfern, um sich für die Demütigungen seiner Kindheit zu rächen.
Weil die Rolle des wissenden, leben den Zeugen so entscheidend ist, gebe ich Interviews. Ich möchte möglichst viele Menschen über diese bisher noch verborgenen Mechanismen informieren und ergreife jede Gelegenheit, die sich ergibt, um dieses Wissen nicht nur in meinen Büchern, sondern auch in der Presse zu vermitteln. Aber selbstverständlich lassen sich diese recht komplizierten Zusammenhänge nicht hier in dieser Verkürzung ausreichend schildern. Das können nur meine letzten drei Bücher.

Es steht auf dem Klappentext Ihres letzten Buches, dass Sie aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausgetreten sind. Können Sie Ihre Gründe etwas genauer erklären.

Als ich das Buch „Du sollst nicht merken“ schrieb, begann ich zu merken, dass Freud die von ihm entdeckte Wahrheit über die Häufigkeit und die schweren Folgen von Kindesmißhandlungen verraten hat. Damals versuchte ich noch, seine Angst zu verstehen und ihn zu entschuldigen: die Angst vor den eigenen Schmerzen der Kindheit und die Angst, seine eigenen Eltern in Frage zu stellen. Denn damals teilte ich mit ihm diese Ängste. Doch inzwischen habe ich erlebt, dass ich die Schmerzen meiner Kindheit erleben konnte, ohne daran zu sterben, dass ich im Gegenteil dank der Auflösung der traumatischen Erfahrungen gewachsen bin und stark wurde. Dies ermöglichte mir, auch meine Eltern in Frage zu stellen und zu sehen, wie sie ihre Kinder im Namen der Tradition und verlogenen Moral geopfert haben. Nachdem ich diesen schweren, aber heilsamen Weg gegangen bin, muss ich Freuds Verrat an der Wahrheit verurteilen, weil ich aus eigener Erfahrung und aus unzähligen Briefen weiß, welche Schäden die Psychoanalysen zurücklassen können. Die Verwirrung der Kindheit wird auf der psychoanalytischen Couch zementiert, weil auch hier das Kind beschuldigt wird, um die gefürchteten Eltern zu schonen. Nicht Vater oder Mutter haben das Kind sexuell wirklich misshandelt, heißt es in der Freud’schen Version, sondern der Patient phantasiert angeblich den „Inzest“ auf Grund seiner kindlichen ödipalen Wünsche. Das ist nicht nur absurd, dem widersprechen all die Fälle, von denen ich seit 11 Jahren ständig höre und lese. Die Leserbriefe enthalten ganze Dossiers, die über Absurditäten auf der psychoanalytischen Couch berichten.

Worin sehen Sie Ihre Aufgabe jetzt?

Ich zeige die zerstörerischen Muster in unserer Tradition. Ich mache Angebote, zu sehen, zu begreifen, die jeder auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen kann. Ich suche keine Gläubigen. Weil die Verdrängung so gefährlich ist, versuche ich die Menschen aufzuklären. Die Menschheit hat keine Alternative, als die Wahrheit der Fakten ohne theoretische Verbrämungen zu erkennen. Wie für das Ozonloch gilt dies auch für das Problem der Kindesmisshandlungen und dessen Verleugnung, ohne die es keine Verbrechen geben würde.

Weckt das, was Sie schreiben und sagen, nicht starke Widerstände?

Natürlich. Es wäre viel einfacher, wenn man das Wissen, das ich verbreite, als Glauben, Theorien, Hokus Pokus, Schwärmerei abtun könnte. Aber das lässt sich nicht so leicht machen, weil ich über Fakten berichte, die jedem aus eigener Erfahrung bekannt sind, die er aber in der Verdrängung hält. Diese Fakten machen den meisten Angst, weil sie an längst Verdrängtes und Schmerzhaftes rühren oder gar erinnern und weil sie Marktstrukturen entlarven. Ich habe einmal einen Brief erhalten, der das illustriert, was ich hier sagte. Eine junge Frau schreibt, sie hätte letztes Jahr versucht, mein Buch „Das verbannte Wissen“ zu lesen, es hat sie aber gelangweilt, und sie mußte aufhören. Sie konnte nicht begreifen, weshalb ihre Freundinnen es eifrig lasen und warum ihr ihre Körpertherapeutin dieses Buch empfohlen hatte. Doch in diesem Jahr erlebte sie in der Therapie, was absolut verdrängt war, wie sie von ihrem Großvater sexuell missbraucht wurde. Nach diesem Erlebnis konnte sie das Buch mit großem Interesse lesen und alles verstehen.

Kann man denn wirklich alles Leiden und jedes Verbrechen mit der Tatsache der Kindesmisshandlung erklären? Wäre das nicht eine große Vereinfachung?

Es ist so, dass das menschliche Wesen von Anfang an Gutes und Böses fühlt und in seinem Organismus speichert. Später gibt der Erwachsene an die Welt das weiter, was er empfangen hat, im Guten wie im Bösen. Wenn diese Erkenntnis „so einfach“ wäre, weshalb würde sie auf soviel Widerstand stoßen? Es ist viel einfacher, komplizierte Theorien zu entwerfen, wie Freud es z.B. tat, als zu sehen und zu fühlen, dass wir mit mehr Liebe, Achtung und Ehrlichkeit in der Kindheit anders hätten werden können, als wir geworden sind: liebesfähiger, empathischer, ehrlicher und friedlicher. Dies zu erkennen, ist sehr schmerzhaft und daher nicht einfach.

Warum schlagen so viele Eltern ihre Kinder? Sind es nicht ca. zwei Drittel?

Ja. Nur weil sie selber geschlagen und gequält wurden und die entsprechenden Gefühle verdrängt haben. Sie denken, das sei gut und richtig, weil es in ihrem Elternhaus auch so zugegangen ist. Aber Kindesmisshandlungen sind ein Verbrechen, weil sie einen im Wachstum befindlichen Organismus psychisch lebenslänglich schädigen. Jeder Mensch sollte das wissen. Zu den Spätschäden gehört u. a. auch die Verharmlosung des Problems auf Kosten der nächsten Generation. Das lässt sich überall feststellen. Der Kinderschutz z. B. stimmt mir zu, dass das Schlagen der Kinder verboten sein müsste. Aber zugleich wird gesagt, man dürfe diese Taten um Gotteswillen nicht „kriminalisieren“. Diese Taten sind aber kriminell. Und wenn das Gesetz diese Verbrechen eindeutig verbietet, es meinetwegen mit Geldstrafen belegt, dann wird sich zweifellos etwas in der öffentlichen Einstellung ändern. Im Verkehr mit Erwachsenen haben wir schon diese „roten Ampeln“, sie fehlen uns aber noch im Umgang mit unseren eigenen Kindern. Wir brauchen ein ganz deutliches „Halt“ für Menschen, denen „die Hand ausrutscht“. Und das kann nur eine neue Gesetzgebung bewirken. Stellen Sie sich vor, Sie sagen zu Ihrer Sekretärin: „Wenn du mir nicht zuhörst, kriegst du eine drauf!“ und Sie verpassen ihr eine Ohrfeige. Sie würde zum Chef gehen, sich beklagen, Ihnen vielleicht einen Prozess machen. Sie können dann nicht sagen, sie hätten ihr nur das Zuhören beibringen wollen. Aber solange Kinder nicht die normalen Menschenrechte haben, kann man sie straflos so behandeln, ohne eine Buße zu riskieren, und ihnen dabei Liebe vorheucheln. Und das lernen die Kinder. Sie lernen, dass man am Schwachen, Wehrlosen (Kind) ungeniert die eigene Wut abreagieren kann und dies als Erziehung tarnen darf. Darin liegen die psychischen Spätfolgen der Ohrfeige und anderer so genannter milden Formen der Züchtigung. Sie bringen Erwachsene hervor, die sich unverblümt oder verblümt gegen das Recht des Kindes auf Schutz, auf seelische und körperliche Integrität und auf Menschenwürde aussprechen.

Im Unterschied zu den meisten Therapeuten propagieren Sie nicht die Verzeihung als therapeutisches Ziel. Oder sind Sie sogar dagegen, dass man verzeiht?

Ich bin entschieden gegen jede Form von Erziehung in der Therapie. Das Ziel einer Therapie ist meines Erachtens die Auflösung der durch Erziehung entstandenen Schäden, unter anderem, und keinesfalls die Fortsetzung der Erziehung. Die Auflösung ist erst möglich, wenn man fühlen darf, was das Kind nicht fühlen konnte, weil es verdrängen musste, um zu überleben. Die Forderung, den Eltern jede Grausamkeit zu verzeihen, ist eine religiöse Forderung, die den therapeutischen Prozess (den Weg zum Fühlen und Infragestellen des elterlichen Tuns und der elterlichen Meinungen) notgedrungen blockiert. Daher verunmöglicht sie die Befreiung von den Belastungen aus der Kindheit. Das ist nicht meine Meinung, mein Glaube, meine Überzeugung, sondern eine empirische Feststellung, die in jedem Fall überprüft werden kann.

Wie wird man aber den Hass los, wenn man feststellt, was einem angetan wurde?

Indem man ihn bewußt fühlt und dessen Berechtigung in der Kindheit entdeckt. Ereignisse, die wir bewußt erlebt haben, belasten uns nicht mehr. Es sind die abgewehrten Geschehnisse, die ständig unser Leben in der Gegenwart beeinträchtigen. Alle Diktatoren und Tyrannen sprachen mit Bewunderung von ihren Vätern und wussten nicht, dass sie sie unbewusst hassten. Millionen zahlten für diese Blindheit. Ich habe immer wieder gezeigt, wie z. B. Hitler gar nicht leidensfähig war, weil er jedes Gefühl der Schwäche abwehrte. Seine Gefühllosigkeit machte ihn dann zur Gefahr. Die entscheidende Alternative für mich ist: bewußt – blind. Es sind nicht die Entbehrungen an sich, die die Menschen blind und böse machen, sondern die Verleugnungen des Leidens, des Erlittenen.

Sind die alten Erziehungsmuster immer noch sehr verbreitet?

Leider ja, obwohl sich etwas zu ändern beginnt, dank der Aufklärung auch. Wie ein Mensch erzogen bzw. misshandelt wurde, erkennt man aber an seinen zerstörerischen und selbstzerstörerischen Mustern. Ich meine z. B., dass die gewaltlosen Märsche in Dresden, Leipzig und Berlin, aber auch in den Ländern Osteuropas im Jahre 1989 in dieser Form nur möglich waren, weil sich der Erziehungsstil in der letzten Generation etwas geändert hat. Diese Menschen haben als Kinder mit Sicherheit mehr Freiheit und Achtung erfahren, als z. B. die Terroristen der 60er Jahre, die als Kinder nur Grausamkeit und Züchtigung „zu ihrem Besten“ kannten und später selber die Mittel ihrer Eltern (Gewalt und Zerstörung) für die Durchsetzung angeblich hoher Ideale der Revolution wählten. Sie kannten einfach keine andere Kommunikation, keine Sprache des Dialogs zwischen zwei Gleichberechtigten. Die Terroristen stammten nicht aus armen Familien, sondern aus der gehobenen Mittelschicht, über 60 % Pfarrhäuser. Sie erbrachten indirekt den Beweis, dass Kindesmißhandlungen nicht sozialschichtenspezifisch auftreten, obwohl man das immer behauptet

Was sind denn eigentlich die Ursachen von Kindesmißhandlungen?

Einzig und allein die Verleugnung oder die Gefühlsverdrängung der einst in der Kindheit erlittenen Geschichte bei den Eltern. Weder Armut, noch Hunger, noch enge Wohnverhältnisse treiben einen Menschen zu solchen Verzweiflungstaten. Ein Kind wird geachtet, wenn seine Eltern ebenfalls als Kinder geachtet waren oder wenn ihnen ihr schweres Schicksal bewußt geworden ist. Eltern, die in der aufdeckenden Therapie ihr Schicksal erlitten haben und ihr Bewusstsein wiedererlangen konnten, stehen nie mehr in Gefahr, ihre oder fremde Kinder zu misshandeln. Sie können es einfach nicht mehr.

Könnten Sie das am Beispiel illustrieren?

Ja, ich wähle zwei Männer, deren Charaktere der Welt gut bekannt sind: Stalin und Gorbatschow. In meinem Buch „Der gemiedene Schlüssel“ habe ich Stalins Kindheitsschicksal beschrieben: Ein Einzelkind, das täglich von seinem betrunkenen Vater geschlagen wird, ohne dass ihn jemals ein helfender Zeuge in Schutz nimmt, weiß nie, wann sein Ende gekommen ist, erwartet ständig, dass es im nächsten Moment von dem viel stärkeren Mann umgebracht wird. Dieses vom Kind verdrängte Gefühl führte beim erwachsenen Stalin zu seiner Paranoia, d. h. zur wahnhaften Vorstellung, alle würden nach seinem Leben trachten. Daher ließ der Diktator in den 30er Jahren Millionen Menschen in die Lager bringen oder hinrichten. In der Kriegszeit fiel diese Krankheit weniger auf, weil da Stalin seine Überlebensfähigkeit einsetzen konnte, sogar im Dienste des ganzen Volkes, um den realen Angreifer zu besiegen. Doch schon kurz nach dem Kriegsende begannen die grauenhaften Prozesse von neuem, in denen der Diktator immer wieder symbolisch seinen Vater daran hindern wollte, das Kind umzubringen. Natürlich ohne das zu wissen. Hätte er das gewusst, Millionen seiner Mitbürger hätten nicht sterben müssen.
Ganz anders war es bei Gorbatschow. In dieser Familie gab es offenbar keine Tradition der Kindesmisshandlung; hingegen gab es die Tradition der Achtung für das Kind. Die Folgen kann jeder am Verhalten des Erwachsenen beobachten, der wie kein anderer lebender Staatsmann ungewöhnliche Qualitäten bewies, Mut, Fakten zu sehen, flexible Lösungen zu suchen, Achtung für die Mitmenschen, Flexibilität im Dialog und Mangel an Heuchelei. Sowohl seine Eltern als auch die Großeltern, die ihn in der Kriegszeit betreuten, waren ausgesprochen liebesfähige Menschen. Den 1976 verstorbenen Vater schildern viele einstimmig als einen liebenswerten, bescheidenen Mann, der mit anderen freundlich und friedlich umging und von dem nie ein lautes Wort zu hören war. Die Mutter wird als stark, aufrichtig und heiter geschildert Sie lebt heute noch sehr bescheiden und zufrieden in ihrem kleinen Bauernhaus.

War Gorbatschows Kindheit nicht auch durch materielle Not geprägt?

Gorbatschows Kindheit liefert einen Beweis mehr, dass auch die schwersten materiellen Entbehrungen den Charakter des Kindes nicht schädigen, solange seine Integrität nicht durch Heuchelei, Mißhandlungen, Züchtigungen, Demütigungen seelischer Art verletzt wurde. Der stalinistische Terror, später der grausame Krieg, die brutale Besatzung, sehr große Armut, schwere körperliche Arbeit – all das gehörte zu Gorbatschows Schicksal. Aber all das kann ein Kind überstehen, ohne daran krank zu werden, wenn ihm das emotionale Klima in seinem Elternhaus Schutz und Sicherheit bietet Ein Beispiel kann dieses Klima illustrieren: Ende der Kriegszeit. Michail Gorbatschow kann drei Monate lang nicht in die Schule gehen, weil er keine Schuhe hat. Als sein Vater dies (als Verwundeter im Kriegslazarett) erfährt, schreibt er der Mutter, sie „müsse um jeden Preis etwas tun, damit Mischa wieder in die Schule gehen kann“, weil er so gerne lernte. Die Mutter verkauft ihre letzten Schafe für 1500 Rubel und kauft dem Kind Militärstiefel. Der Großvater besorgt ihm eine warme Jacke und auf die Bitte des Kindes auch eine für seinen Freund.

Ist das denn etwas Außergewöhnliches?

Das muß ich leider annehmen. Schutz und Achtung für die Bedürfnisse des Kindes – das müsste eine Selbstverständlichkeit sein. Doch davon sind wir noch sehr weit entfernt. Wir leben in einer Welt, die voll ist von Menschen, die ohne Rechte, ohne Achtung aufgewachsen sind und als Erwachsene diese Achtung mit Hilfe von Gewalt (Erpressung, Drohungen, Waffen) zu erzwingen suchen. Weil Gorbatschows Schicksal vermutlich zu den wenigen Ausnahmen gehört, leben wir in einer Gesellschaft, die sich der Fakten Kindesmißhandlungen gegenüber blind stellt. Abertausende Professoren lehren über alles Mögliche an Universitäten, aber es gibt keinen einzigen Lehrstuhl für Kindesmisshandlungen. Das kann man kaum fassen, wenn man bedenkt, dass doch die meisten Menschen davon betroffen sind! An den Folgen der Delikte gegen Kinder geht unsere Welt vielleicht zugrunde. Es ist daher höchste Zeit, dass wir die in jedem einzelnen Falle überprüfbaren Gesetzmäßigkeiten endlich zur Kenntnis nehmen.