Gespräch über Kindheit und Politik

Gespräch über Kindheit und Politik

(Alice Miller / Thomas Gruner)

  1. Einleitung
  2. Destruktivität
  3. Sadismus
  4. Der private Wahn
  5. Folgen für jede Gesellschaft
  6. Zum Schluss

Es gibt mehrere Gründe, die mich dazu bewegen, immer wieder auf die Geschichte Adolf Hitlers hinzuweisen. Der wichtigste Grund besteht darin, dass ich keinen anderen weltbekannten Diktator nennen kann, dessen Kindheit und späteres Leben so reich und gründlich dokumentiert sind. Es ist schwer, zuverlässige Informationen über die Kindheit berühmter Menschen zu erhalten. In den Biographien ist zu diesem Thema kaum etwas zu lesen, die Eltern werden oft idealisiert, aber wie es dem Kind mit diesen Eltern ergangen ist, wird höchstens in einem Satz erwähnt, und das Leben des Kindes beginnt frühestens in der Schulzeit. Die Bedeutung der in der Kindheit erlittenen Misshandlungen ist den Biographen oft nicht klar. So wurde auch in den Biographien über Hitler verfahren, aber dem steht seit langem das von mir zitierte Material über seine Kindheit entgegen (vgl. „Am Anfang war Erziehung“, 1980).

Wenn ich die Ursachen von Perversion, Brutalität, Sadismus und Grausamkeit suchen und aufzeigen will, versuche ich, Material zu liefern, das einen Beitrag dazu leisten könnte, ähnliches in Zukunft zu verhindern. Das ist m.E. erst möglich, wenn man die blinde Produktion dessen, was wir gemeinhin „das Böse“ nennen, begriffen und aufgedeckt hat. Ich kenne keine einzige Geschichte, die sich besser dafür eignet, als die von Adolf Hitler.
Zu den zahlreichen Gründen hierfür gehören vor allem folgende:

  1. Die Zeugenberichte der Geschwister sind kongruent: Sowohl der Halbbruder Alois als auch die Schwestern Angela und Paula sprechen eindeutig von täglichen Züchtigungen des Kindes Adolf durch seinen Vater. Diese Übereinstimmung ist erstaunlich, weil wir doch wissen, dass noch heute die Geschwister der misshandelten Kinder die Eltern in der Regel schonen und sich selten als Zeugen der Misshandlungen zur Verfügung stellen. Doch im Falle Adolf Hitlers war das nicht so, und das ist eine große Ausnahme.
  2. Die Berichte der Geschwister, aber auch die anderer Zeugen (wie z.B. der Hausangestellten) und manche Erwähnungen in „Mein Kampf“ zeigen sehr deutlich, wie das Selbstbewusstsein des Kindes Adolf systematisch erdrosselt wurde. Er durfte sich nicht äußern, er durfte seine Gefühle nicht zeigen. Für alles und jedes wurde er geprügelt und wusste eigentlich nicht, was er machen sollte, wie er sein müsste, um sein Recht auf die Existenz in dieser Familie zu erhalten. Als er in seiner Verzweiflung mit elf Jahren fliehen wollte, wurde er vom Vater erwischt und verspottet. Wie kann ein Kind sich helfen, wenn es kein Recht hat, zu existieren? Es kann sich unter Umständen, wenn keine helfenden Zeugen vorhanden sind, nur in die Phantasie flüchten, sich ausmalen, dass es groß und mächtig sei und eines Tages andere so vernichten würde, wie man es jetzt selbst zu vernichten droht.
    Diese konstante Erniedrigung des Kindes kann also dazu führen, dass der Erwachsene später einen Größenwahn entwickelt und sich an unschuldigen Menschen dafür rächt, was ihm angetan wurde. Den Weg von der Erniedrigung in der Kindheit zum Größenwahn im Erwachsenenalter können wir bei allen Diktatoren beobachten, nur sind meistens die Anfänge dieser „Karriere“ sehr spärlich geschildert.
  3. In der reich dokumentierten Geschichte Hitlers findet sich auch erstaunlich viel Material über die Kindheit seiner Eltern, vor allem über die des Vaters. Der auf seine Macht stolze Zollbeamte, der seinen Sohn täglich züchtigte, war das illegitime Kind eines jüdischen Kaufmanns und dessen Hausangestellter, was damals in dem Dorf Braunau eine Schmach bedeutete. Dass diese Geschichte authentisch ist, lässt sich nicht von der Hand weisen, denn Hitlers Großmutter erhielt von diesem Kaufmann vierzehn Jahre lang Alimente für ihr Kind. Es wurde zwar von einem Verwandten der Großmutter adoptiert, aber dessen Familienname wurde mehrere Male geändert, was auch in den Akten bestätigt ist. Damit zeigt sich, dass die Abstammung des Vaters Alois für die Familie eine große Belastung war und auch im Kind Adolf zu Rachephantasien führte und den Hass auf alle Juden nährte.
  4. Wenn schon die Biographen die Kindheit der von ihnen beschriebenen Person selten in ihrer Tragweite wahrnehmen, so geschieht das noch weniger oft, wenn es sich um die Eltern des Betreffenden handelt. Die Kindheit der Eltern bleibt ohnehin im Dunkeln. Im Falle von Hitler hingegen bekommen wir Einblick in die traumatische Geschichte des Vaters Alois, die sein ganzes Leben und sein Verhalten zum Kind Adolf bestimmt hat. Diese Tatsache lässt sich nicht bestreiten. Sie liefert uns einen wichtigen Hinweis auf die Entstehung eines Wahns, der später bis zu dem Extrem der Einrichtung von Tötungslagern führte. Natürlich hätte Hitlers Wahn allein nicht genügt, wenn ihm Millionen nicht dabei geholfen hätten, aber der Antisemitismus war ja immer schon latent da, übrigens (entgegen der Auffassung von Daniel Goldhagen, vgl. Teil II) meiner Meinung nach in Polen und Russland viel ausgeprägter als in Deutschland. Jedoch ist es vor Hitler niemandem in den Sinn gekommen, das jüdische Volk in seiner Gesamtheit ausrotten zu wollen! Es war Hitlers ureigene Geschichte, die diesem Antisemitismus ein Gesicht gab, das bisher unbekannt war. Und es war Hitlers Geschichte der Demütigung in der Kindheit, die ihn offenbar befähigt hat, alle mitzureißen, die eine ähnliche Geschichte in der Kindheit erfahren haben. Er hatte die einschüchternde Pose seines sadistischen Vaters so stark verinnerlicht, dass seine Zuhörer wie Kinder in Angst erzitterten, wenn er seine Stimme erhob und in Wutausbrüche geriet wie einst sein Vater. Der vom Kind Adolf bei seinem Vater erlebte und erlernte Sadismus verbündete sich später mit dem latenten Sadismus von Millionen und gab ihm die Legitimität und seine brutale Effizienz.
  5. Eine ähnliche Funktion des privaten Wahns können wir bei vielen Diktatoren beobachten. Ich habe sie auch am Leben von Ceaucescu illustriert (vgl. „Abbruch der Schweigemauer“, 1990/2003). Vermutlich ließen sich in jedem totalitären Regime die langfristigen Folgen der verleugneten Kindheitstraumen des Diktators zeigen. So wissen wir z.B. sehr wenig über die Kindheit von Idi Amin oder Pol Pot.
  6. Wie sich Hitlers Kindheit im sogenannten „Dritten Reich“ wiederpiegelte, lässt sich an einigen Beispielen illustrieren:
    1. Der Verdacht der jüdischen Abstammung wurde zur Frage von Leben und Tod. Nur wer sich damit legitimieren konnte, dass er bis in die dritte Generation keine jüdischen Vorfahren hatte, konnte mit dem Leben davonkommen. Die anderen mussten sterben. In der ganzen Geschichte der Judenverfolgung gab es zu keiner Zeit, an keinem Ort ein solches Gesetz. Die Juden konnten sich sogar während der Inquisition retten, wenn sie sich taufen ließen, und wurden dann nicht zum Tode verurteilt. Doch während der Hitlerdiktatur gab es diese Möglichkeit nicht, auch die getauften Juden mussten sterben. Es gab für sie keinen Zufluchtsort, wie es für das Kind Adolf, aber auch schon für Alois Hitler keinen gegeben hatte. Obwohl dieser als Zöllner einen respektablen Beruf ausübte, konnte er sich von der Schmach der jüdischen Abstammung nicht befreien.
    2. Der Sadismus wird im Dritten Reich zum obersten Prinzip ernannt. Man braucht nur das Buch von Daniel Goldhagen „Hitlers willige Vollstrecker“ zu lesen, um zu sehen, wie sich manche Leute um die Positionen gerissen haben, die es ihnen ermöglichten, Menschen zu quälen. Hitler hat den Sadismus zur Tugend erhoben, indem er das Quälen der Juden als etwas Wertvolles deklariert hat. Woher kommt diese Freude, woher kommt dieses Bedürfnis, andere so hilflos zu machen? Es ist immer wieder nur die unterdrückte, verleugnete Erinnerung des Kindes, das sadistisch von den Eltern misshandelt wurde und sich später an anderen dafür rächt.
    3. Im Dritten Reich wurden die Juden als Untermenschen bezeichnet, als Wesen niedriger Art. Diese Entwertung hat Adolf Hitler ebenfalls vom Vater übernommen, auch er wurde vom Vater als Mensch niedriger Art behandelt, den man straflos auslachen, verspotten und misshandeln konnte.
    4. Auch die Wahnvorstellung von einer „judenfreien“ Welt lässt sich auf das Schicksal des kleinen Adolf zurückführen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass der kleine Junge, der möglicherweise in der Schule wegen der jüdischen Abstammung seines Vaters gelitten hat und auch zuhause die Spannungen spürte, Phantasien von einem Leben entwickelt hat, das nicht so wie seines „von den Juden“ belastet wäre. Hat er nicht selber am eigenen Leib durch die Schläge seines Vaters die Grausamkeit „des Juden“ erlebt? Nun hing er an der Vorstellung, alle Juden seien grausam, übermächtig, wie es auch sein Vater für ihn gewesen war, und müssten vernichtet werden, damit die „Arier“ (der kleine Adolf) in Ruhe leben könnten.

Es bestehen ein großer Widerstand und ein auffallendes Befremden, wenn ich den Zusammenhang zwischen den Erlebnissen in der Kindheit eines Einzelnen und den späteren politischen Ereignissen schildere, weil eine solche Art und Weise des Denkens ungewohnt ist. Aber wer sich die Mühe gibt, die Fakten genauer anzuschauen, kann sich der Logik der Ereignisse kaum entziehen.

Um diese zu illustrieren, um zu zeigen, was einen Menschen sehr früh geprägt hat und was daraus für Millionen entstehen kann, sobald ein solcher Mensch Macht erlangt, müssen wir uns nicht einmal auf die grausamen Diktatoren berufen oder uns ausschließlich auf den Bereich der Politik beschränken. Die Gegenwart ist stark vom Gurutum, von Sekten geprägt, bei denen viele Menschen Zuflucht suchen. Ich habe in meinen Büchern und Artikeln vielfach darauf hingewiesen und den Zusammenhang mit der Kindheit beschrieben. Der blinde Glaube an Gurus ist das zweite bedeutende gesellschaftliche Feld, in dem die Folgen der Kindheit besonders deutlich hervor treten.

Auch das Leben heutiger politischer oder religiöser Führer kann eindrucksvoll beleuchten, wie individuelle Prägungen in der Kindheit die Entscheidungen des zu Macht gelangten Erwachsenen beeinflussen und damit eben auch das Leben, die Existenz einer Vielzahl von Menschen.

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