Gespräch über Kindheit und Politik
Folgen für jede Gesellschaft
- Einleitung
- Destruktivität
- Sadismus
- Der private Wahn
- Folgen für jede Gesellschaft
- Zum Schluss
Das in der Kindheit individuell erlebte Grauen kann eine Gesellschaft auf verschiedene Art und Weise einholen. Dies erhellt sehr anschaulich Bernward Vespers Fragment gebliebener autobiographischer Roman „Die Reise“. Bernward ist der Sohn des nationalsozialistischen Gedichteschreibers Will Vesper. Der Vater ist ausgesprochen tyrannisch, die Mutter kalt und gleichgültig. Das Kind wächst ohne jede Form der Zuwendung oder Liebe auf. Einmal darf es eine junge Katze zunächst behalten. Der Vater aber hasst Katzen und wartet nur auf einen Vorwand, um das Tier beseitigen zu können. Bernward liebt dieses Tier und hat furchtbare Angst, dass der Vater es tötet. Schließlich tötet der Junge die Katze selbst, damit sie vom Vater nicht erschlagen wird.
Das Schicksal Bernward Vespers zeigt auch, wie manche Eltern Jagd machen auf die besten Eigenschaften des Kindes: seine Liebesfähigkeit (die Katze) und seine Kreativität. Der kleine Bernward versucht, seine Gefühle schreibend auszudrücken. Das macht ihm Freude. Zufällig findet die Mutter einen solchen Zettel und am Abendbrottisch macht sich die ganze Familie über die Schreibversuche des Kindes lustig. Später hat Bernward Vesper keinen anderen Wunsch, als seinen Roman zu schreiben. Doch die Zerstörung gewinnt die Oberhand. Der Roman wird nie beendet. Das Fragment macht den Hass auf die Eltern sehr deutlich. Sigrid Chamberlain hat anhand dieses Buches die Folgen der Erziehung nach den Prinzipien der Johanna Haarer aufgezeigt.
Das Romanfragment ist in mehrfacher Hinsicht Ausdruck der Geschichte einer Generation. Der Hass mündet in die Destruktivität, weil eine echte Lösung von den Eltern nicht gelingt. Bernward steht der Roten Armee Fraktion nahe, konsumiert Drogen, landet schließlich in einer psychiatrischen Klinik und begeht im Alter von 33 Jahren Selbstmord. Am Schicksal dieses Mannes wird besonders klar, wie die in der Kindheit erlebte Destruktivität sich später sowohl gegen die Gesellschaft als auch gegen den Betroffenen selbst richten kann. Es entsteht ein Kreislauf der Destruktivität mit weitreichenden Folgen, denn es können ja unter Umständen zahlreiche Menschen betroffen sein.
Der Selbstmordterrorismus zeigt eindeutig: Es sind doch Akte der Verzweiflung, gelindert durch die Ideologie und die Solidarität der Gruppe, der man dafür, wie einst in der eigenen Familie, den Preis des Lebens zu schulden meint. Und man sucht die Erlösung „im Himmel“, durch den Tod.
Vespers Schicksal macht auch klar, dass die Vergangenheit nicht ruht, auch die Vergangenheit einer Gesellschaft nicht, sie meldet sich immer wieder, wenn die Menschen nicht versuchen, sie zu verstehen. Lebensfeindliche und destruktive Entscheidungen der Erwachsenen resultieren aus einem Klima der Destruktivität in der Kindheit, das nicht durchschaut werden darf. Es ist denkbar, dass ein Mensch sich nicht mehr selbst zerstören will, wenn er sieht, wie zerstörerisch sich die Angriffe der Eltern auf die Seele und den Körper des Kindes ausgewirkt haben, und vor allem wenn er fühlen kann, was ihm das bedeutet hat. Dann muss man nicht die Gesellschaft hassen und blinde Aktionen planen, mit denen man sich selbst ins Abseits stellt. Man kann eine Gesellschaft kritisieren oder ablehnen, muss aber keine Bomben werfen. Man muss sich dann auch nicht selbst zerstören, man will das dann nicht mehr, weil man sich endlich ein Existenzrecht zubilligt. Natürlich genügt es auch nicht, die Eltern zu hassen. Das Gefühl ist ja berechtigt in vielen Fällen, aber man muss genau hinsehen, um schließlich alle unbewussten Gefühle differenziert wahrnehmen zu können. Der Roman dieses Autors verdeutlicht den Zusammenhang zwischen ganz persönlichen Folgen und denen für die Allgemeinheit.
Sie haben in Ihrem Buch „Abbruch der Schweigemauer“ die Kindheit des rumänischen Diktators Ceausescu beschrieben, Sie haben in diesem Zusammenhang aufgezeigt, wie er die Bevölkerung zwang, Kinder in die Welt zu setzen, die unerwünscht waren und von den Eltern oftmals nicht ernährt werden konnten. Die Diktatur in Rumänien endete 1989/90. Heute landen die unerwünschten Kinder der rumänischen Familien auf der Straße in der Massenprostitution. Väter begleiten ihre 13-jährigen Söhne nach Italien, um sie dort auf den Strich zu schicken. Der TV-Sender Arte brachte im Januar 2004 hierüber eine Dokumentation („Kinderprostitution – Das schmutzige Geschäft: Straßenkinder in Bukarest“, 20.01.2004). Man sagt, die Armut treibe die Menschen zu solchen Handlungen. Ich meine: Die Armut mag solche Handlungen forcieren, aber welcher Vater würden seinen Sohn auf den Strich schicken, wenn der Missbrauch nicht vom Anfang seines Lebens an die Luft gewesen wäre, die er eingeatmet hat, wenn er nicht selbst behandelt worden wäre wie ein Gegenstand zu beliebigem Gebrauch.
Es war auch so. Ceausescu regierte auf eine ganz perfide Art, bis in die Schlafzimmer der jungen Paare. Da er in extremer Armut und im Kinderüberfluss aufwuchs, musste sein „geliebtes Rumänien“ ebenfalls mit dem Überfluss ungewollter Kinder vorlieb nehmen, die man jetzt auf den Strich schickt. Nicht nur gelegentlich, sondern innerhalb einer gut organisierten kriminellen Mafia. Das heißt: Die Diktatur ist beendet, aber die Folgen gehen weiter.
Wenn man sich mit Diktatoren befasst, sollte man auch die Frage stellen, welche Verhaltensmuster, die man in diesem Zusammenhang findet, sich in den heutigen westlichen Demokratien im Rahmen der Politik ebenfalls entdecken lassen. Dabei sieht man sich zumindest in Deutschland häufig mit dem Vorwurf konfrontiert, man setze die heutige Bundesrepublik mit der Hitlerdiktatur gleich. Man ist gezwungen, zu beteuern (und das mache ich hiermit), dass einem nichts ferner liege als eben dieser Vergleich. Allerdings sollte es erlaubt sein, psychische Auffälligkeiten und Ausfälle der gegenwärtig Regierenden zu benennen. Man kann sicher im einen oder anderen Fall auch von erheblichen seelischen Störungen sprechen. Diese Störungen beeinflussen politische Entscheidungen, sie machen Politiker zu Wachsfiguren in den Händen entsprechender Lobbies.
Mir geht es nicht darum, im Privatleben von Menschen herumzustochern, aber einiges aus dem Privatleben westlicher Führungspolitiker ist inzwischen öffentlich bekannt. Paranoide Züge weisen Post und andere Autoren (Accoce / Rentchnick; Tuchman) auch bei manchen demokratisch gewählten Präsidenten, Kanzlern und Führungspolitikern nach. Der Impuls der Macht scheint sich doch in vielen Fällen immer wieder aus einer erniedrigenden Kindheit zu speisen.
Ich vermute, dass die Jagd, das Getrieben-Sein nach Macht (wenn dies der Fall ist) in den Demütigungen der Kindheit wurzeln. Weshalb sollten sich Menschen, die als Kinder geliebt und geachtet wurden, später zerstörerisch gebärden? Sofern sie sich so verhalten.
Bei vielen Politikern können wir die Sprache und den Habitus der „Schwarzen Pädagogik“ in Ihren öffentlichen Auftritten entdecken. Sie verhalten sich mehr wie manipulatorische Erzieher, wenngleich auf ganz andere Art und natürlich mit anderen Auswirkungen als im Falle der Diktatoren. Die Wähler, die Bürger können das leichter durchschauen, wenn sie ihre eigene Erziehung durchschaut haben. Dann kann man die Manipulationen der eigenen Erziehung hinterfragen und ist weniger konditioniert auf Gehorsam oder Anpassung um jeden Preis. Man braucht dann auch keine Ideologien, um sich geborgen fühlen und seinem Leben einen Sinn geben zu können.
Man muss sich gar nicht nur auf destruktive Entscheidungen konzentrieren, die einfach (koste es, was es wolle) durchgesetzt werden. Auffallend ist ja auch die Sprachohnmacht vieler Politiker, sie können (oder dürfen?) sich nicht ausdrücken.
Ein deutscher Politiker, der heute in einer der Regierungsparteien auf Bundesebene einiges zu sagen hat, bekannte einmal freimütig in einem Fernsehinterview, dass er nie etwas gelernt habe. Er sagte wörtlich und lachend in die Fernsehkamera: „Ich habe nicht die geringste Bildung und darauf bin ich auch stolz.“ Es wundert dann nicht mehr, mit welcher Ignoranz solche Politiker wirklich durchdachten, auf fundierten Kenntnissen beruhenden Argumenten und Konzepten begegnen. Es scheint so, dass die Politik einen Ausgleich bieten soll für einen tiefsitzenden Neid und für ein enormes Minderwertigkeitsgefühl, dass also Politik (nicht immer, aber oft) missbraucht wird, um einen Ausgleich zu schaffen für die massiven persönlichen Defizite einzelner ihrer Protagonisten. Und damit wird sie gefährlich in meinen Augen. Eine für mich beängstigende Vorstellung, dass in einer Gesellschaft, die sich demokratisch nennt, Menschen zu großer politischer Entscheidungsbefugnis gelangen, die vielmehr in die Macht verliebt sind.
Viele Menschen sind noch nicht gewohnt, in psychologischen Kategorien zu denken, es sei denn in psychoanalytischen, die die Realität der Kindheit eher verschleiern. Sie sehen weder den privaten Wahn der erzwungenen faschistischen noch den ihrer demokratischen, von ihnen selbst gewählten Herrscher, sondern suchen für deren Leidenschaften wirtschaftlich plausible Erklärungen. Sie sehen z.B. den Ausbruch von Kriegen ausschließlich in den Interessen von Konzernen begründet. Das stimmt zum Teil, es sind ja diese Konzerne, die Wahlkämpfe finanzieren. Ich zweifle aber nicht daran, dass die persönliche treibende Kraft vieler Politiker und Politikerinnen auch in ihrer Familiengeschichte begründet ist.
Starke persönliche Motive für angeblich „notwendige“ Feldzüge in der Geschichte kann man am Beispiel der Kriege Friedrichs des Großen erläutern: Er hatte einen Vater, der ihm als Kind wörtlich in die Suppe spuckte, um ihn zu Gehorsam und Demut zu erziehen. Später ließ er seinen besten Freund hinrichten. Friedrich musste es aufgeben, sich seinem sadistischen Vater zu widersetzen. Das war zu gefährlich. Hier bleibt die Frage, wie sich Friedrich als Regent verhalten und entschieden, ob er Eroberungskriege für „notwendig“ erachtet hätte, wenn es ihm möglich gewesen wäre, dem Vater die Stirn zu bieten. Eine ähnliche Dynamik könnte man sich auch im Falle gegenwärtiger politischer Führer der westlichen Demokratien vorstellen.
Die beim Studium der Diktatoren gewonnenen Erkenntnisse gelten eben auch für demokratisch gewählte Staatsoberhäupter, so dass also in unserer Gesellschaft die individuelle Kindheit unter bestimmten Voraussetzungen ebenfalls eine Bedeutung für das gesamte Gemeinwesen im Rahmen der Politik bekommt.
Natürlich. Das magische Wort Demokratie schützt die Menschen nicht davor, Opfer des privaten Wahns eines Einzelnen zu werden (sei er auch nur eine Marionette von finanzstarken Konzernen) und dies blind zu tolerieren.
Früher mussten die Menschen der Willkür eines Königs oder Kaisers gehorchen und als Soldaten in Eroberungskriege marschieren, die der Herrscher in erster Linie für sich persönlich brauchte. Sie mussten ihm gehorchen, weil sie kein Recht auf die eigene Meinung hatten.
Heute, möchte man meinen, ist es anders. Man möchte annehmen, dass heute z.B. eine Karriere wie die von Napoleon undenkbar wäre. Warum sollten freie Bürger freiwillig einen Herrscher wählen, der sein „geliebtes“ Volk in ein blankes Elend führt (wie etwa Napoleon seine Armee nach Moskau), nur weil sein Ehrgeiz dies von ihm verlangt und ihn dazu treibt? Napoleon wird in Frankreich immer noch als der große Feldherr verehrt und nicht als Massenmörder wahrgenommen. Ähnliches ist nach wie vor möglich, und es geschieht immer wieder. Hitler wurde ja von seinem Volk gewählt, obwohl er in „Mein Kampf“ bereits seine Absichten unzweideutig bekannt gegeben hatte.
Woher wissen wir also, dass ein geschickter, in sich verliebter und skrupelloser Verführer nicht auch heute noch eine ganze Nation dazu bringen kann, ihn zu wählen und der Nation unnötige Kriege aufzuzwingen? Was einem mittellosen Hitler in der demokratischen Weimarer Republik gelingen konnte, kann ja heute auch leicht gelingen, wenn der Kandidat mit der Unterstützung ausgedehnter Beziehungen zu den reichsten Familien eines Landes und potenten Konzernen rechnen darf. Wenn er sich ihnen als Marionette zur Verfügung stellt, ohne die geringsten Bedenken. Die hat er nicht, weil er gar keine eigenen Meinungen hat, auf die er verzichten müsste. Seine ganze Handlungsweise ist lediglich auf den Erfolg ausgerichtet, diktiert einzig durch den Wunsch nach Macht.
Und die Wähler? In den Demokratien liegt ja auch viel Verantwortung bei den Bürgern.
Das stimmt. Doch um sich dem Ehrgeiz eines Einzelnen zu fügen, braucht es leider keine Intelligenz, schon gar nicht den Wunsch nach Autonomie und Klarheit, es genügt die Naivität und das kindliche Vertrauen, die Vaterfigur (der Führer, der Diktator, der Präsident) wolle die Bürger vor Feinden beschützen, dass es ihm wichtig sei, in ihrem Interesse nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln. Dies wird in Wahlkämpfen auch immer wieder verkündet. Nur bemerken viele Menschen nicht, dass diesem angeblich besorgten „Vater“ das Wohl der Nation absolut gleichgültig ist. Ihn interessiert ausschließlich seine eigene Person. Er wäre jederzeit bereit, diese Nation zu opfern, wenn seine Interessen dies verlangten und er gebraucht die Nation nur, er benutzt sie, um mit ihrer Hilfe an die Macht zu kommen. In diese Macht ist er verliebt, von dieser Idee besessen, weil sie, so meint er, ihm helfen wird, das ehemalige Leiden des geschlagenen und früh gedemütigten Kindes weiter zu verleugnen.
Leider können die Wähler dies oft nicht realisieren, wenn sie selber einen solchen Vater hatten, diesen geliebt und verehrt haben. Als Kind glaubten sie dem Vater alles, was auch immer er erzählte. Sie konnten es sich als Kinder nicht leisten, sein Spiel zu durchschauen. Natürlich gibt es auch Menschen, die ihre Eltern in Frage stellen können und sich daher nicht von Demagogen beeindrucken lassen. Solche Wähler werden sich hüten, einem Menschen an die Macht zu verhelfen, wenn sie merken, dass nichts anderes für ihn von Bedeutung ist, als sein persönlicher Erfolg, Ruhm und Geld. Sie werden schnell verstehen, dass ein Mensch nur die Befriedigung seiner privaten, oft unbewussten Motive sucht, dass die Politik nur ein Mittel zu einem sehr persönlichen Zweck darstellt, wenn ein Mensch zur Politik greift, obwohl er sich beispielsweise früher nie dafür interessierte oder zu bestimmten Fragen der Gegenwart keine auf Fachkenntnissen beruhenden Konzepte vorweisen kann, sondern lediglich Versprechungen, dass bald alles gut werde.
Ein Mensch, der als Kind nie ernstgenommen wurde, wie zum Beispiel Saddam Hussein, kann sich als Präsident die Illusion verschaffen, dass dies nie so gewesen sei. Doch solange er seiner Wahrheit ausweicht, bleibt er gefährlich, weil er andere für seinen Selbstbetrug bezahlen lässt.
Menschen, die gelernt haben, die wahren Motive ihrer machtgierigen Eltern zu durchschauen (oder deren Eltern gar nicht machtgierig waren), werden kaum ihre Stimmen für narzisstische Demagogen hergeben. Aber diese Wähler sind leider in der Minderheit. Die große Mehrheit der heutigen Wähler rekrutiert sich aus einst geschlagenen Kindern, die im Geiste der „Schwarzen Pädagogik“ zum Gehorsam und zum Vertrauen in elterliche und kirchliche Autoritäten erzogen wurden. Sie werden sich daher freiwillig einem Menschen fügen, der die Register ihrer Erziehung zu ziehen versteht, weil er dies auch selbst schon in der Kindheit gelernt hat. Er meint, er braucht nichts neues dazu zu lernen, braucht sich beispielsweise nur auf Gott zu berufen, der ihn angeblich in seiner Mission unterstützt, wie er seine Eltern bei der Erziehung unterstützte, er braucht nur die leeren Floskeln zu verwenden, die vermutlich schon sein Vater von sich gab, und das Spiel ist gewonnen.
Politische und ökonomische Entscheidungsträger können in der Regel emotional nicht begreifen, was ihre Entscheidungen, ihre Aktionen unter Umständen für andere bedeuten. Es scheint ihnen auch gleichgültig zu sein. Es geht darum, sich durchzusetzen, für den Augenblicksvorteil, aber auch allein um die Geste des Sich-Durchsetzens. Politik erzeugt oft den Eindruck, als ob sie nach dem Motto funktioniert: Dieses und jenes wird jetzt beschlossen und umgesetzt, auch wenn wir wissen, dass die Folgen nur verheerend sein können. Das ist der helle Wahn in meinen Augen. Die Abwesenheit dessen, was man als „emotionale Intelligenz“ bezeichnen könnte, spielt in der Politik eine große Rolle. Dies mag sich für einige Leute naiv anhören, aber ich kann mir anders nicht erklären, warum politische Entscheidungen getroffen werden, die die Entscheidenden früher oder später selbst um ihre Position bringen.
Viele Menschen verfügen nicht über ihre eigenen Gefühle, das gilt auch für Politiker. Man hat ihnen die Gefühle sehr früh mit Hilfe der Schläge oder anderer Mittel abgewöhnt. Machtbesessene Menschen wollen nur wissen, was die anderen hören wollen, und das werden sie der Bevölkerung mit Worten bieten: den angeblich starken Vater, der „das Volk“ zu beschützen verspricht.
So funktionierte auch Hitler, wenngleich die Auswirkungen selbstverständlich blutiger waren. Er besaß ein wirksames Feindbild, er wusste genau, wie es zu bekämpfen sei und versprach ein Paradies auf Erden mit Hilfe der Gewalt, der Brutalität, der Gestapo, der SS und der Lager. Da die Methode von Zuckerbrot und Peitsche den meisten seit jeher bekannt und vertraut war, jubelten sie ihm zu.
Die Beschwörung eines Paradieses lässt sich ja auch in den Demokratien wiederfinden. Nur geht es hier nicht darum, eine bestimmte Bevölkerungsgruppe zu eliminieren. Es wird der Wohlstand gepredigt. Leider muss man, damit ein Teil der Bevölkerung im Wohlstand leben kann, einen anderen materiell gehörig rupfen, so dass dieser zum Wohlstand nichts beitragen kann und dahin ist es, das Paradies.
Heute versucht man oft mit Hilfe der Manipulationen, falschen Angaben und Verschleierungsmanövern das Vertrauen der Wähler zu bekommen, und nennt dies Demokratie. Aber die eigentlichen Ziele der Kandidaten auf Macht können die gleichen sein: das Wissen um die unerträgliche Ohnmacht der eigenen Kindheit mit Hilfe der Gewalt über andere zu verdrängen.
Dazu eignen sich die Kriege vorzüglich. Sie lenken ab von den eigentlichen Problemen und verstärken die Abhängigkeit der Bürger, die durch den Krieg ohne Notwendigkeit in Not geraten sind. Das kann einem narzisstischen Führer durchaus recht sein. Auch die Zahl der gefallenen Soldaten bleibt für ihn nur eine Zahl, da er nicht fühlen kann, er kann nur Gefühle vorspielen, und nur solche, die erwünscht sind. Die Hauptsache ist, dass er an der Macht bleibt.
Ein Kind ist niemals imstande, bewusst wahrzunehmen (auch wenn es dies spüren kann), dass sein eigenes Wohlergehen seinen Eltern völlig gleichgültig ist, dass die Versicherungen der Liebe auf den Lügen der „Schwarzen Pädagogik“ beruhen. Das bewusste Wissen um diese Wahrheit würde es umbringen. Doch wenn dieses kindliche Vertrauen später das Leben des Erwachsenen beeinflusst und ihm politische Entscheidungen diktiert, kann das zu schweren Katastrophen führen, wie wir sie immer wieder erleben. Die Demokratie kann nur dann einen Fortschritt bedeuten, wenn ihre Bürger ihre Freiheit zu nutzen verstehen. Das können sie erst, wenn sie den Mut finden, die Realität ihrer Kindheit zu sehen und dadurch die Fähigkeit erlangen, die Manipulation und den Egoismus der Demagogen und Scharlatane auf der politischen Bühne zu durchschauen und ihnen ihre Stimmen zu verweigern. Dann können Menschen sich der Realität der Gegenwart stellen, ohne sich selbst mit Hilfe von naiven Illusionen („der Papa schafft es schon“) blenden und schonen zu müssen. Diese Fähigkeit steht zu ihrer Verfügung, sobald sie der eigenen Wahrnehmung und den eigenen Gefühlen vertrauen.
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