Sadismus

Gespräch über Kindheit und Politik

Sadismus

  1. Einleitung
  2. Destruktivität
  3. Sadismus
  4. Der private Wahn
  5. Folgen für jede Gesellschaft
  6. Zum Schluss

Ich habe in den vergangenen Wochen Biographien über einige berüchtigte Diktatoren des 20. Jahrhunderts recherchiert. Tatsächlich wird auf Details der Kindheit kaum eingegangen. Es wird auch nicht versucht, bestimmte Erlebnisse aus der Kindheit (soweit sie bekannt sind) mit späteren Verhaltensmustern der Potentaten in Zusammenhang zu bringen. Autoren wie der Amerikaner Jerrold Post weisen zwar auf massive psychische Störungen der Diktatoren hin und führen diese auf traumatische Erfahrungen in der Kindheit zurück, sie gehen aber selten näher darauf ein. Post unternimmt den Versuch, die seelische Struktur von Potentaten in psychologische Gesetzmäßigkeiten zu bringen, ohne aber ihre Ursache genauer zu untersuchen. Hingegen spürt man bei der Lektüre durchaus so etwas wie Respekt auch vor der grausamen Autorität, vor der Macht. Man könnte weitere Autoren anführen, die ähnlich verfahren. In meinen Augen genügt es nicht, zu sagen, ein Potentat war seelisch deformiert, man müsste genau zeigen, wie diese Deformation entstanden ist.

Post schreibt wie ein Analytiker über die innere Struktur der Potentaten, aber kaum über die Realität ihrer Kindheit und die damals erlittenen Demütigungen. Das würde sofort ein Licht auf die absurden Anordnungen und das destruktive, ganz spezifisch destruktive Verhalten der Herrscher werfen. „Monster“ werden nicht geboren, sie werden gemacht. Die Kausalität zwischen den Erlebnissen in der Kindheit und der späteren Lust, anderen Menschen Leid zuzufügen, muss allerdings so genau wie möglich beschrieben werden. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass es kaum Autoren gibt, die sich auf die Suche nach entsprechenden Fakten begeben. Und es stellt sich die Frage, warum das so ist.

Claude Lanzmann, der Regisseur der berühmten Dokumentation „Shoah“ meinte einmal sinngemäß, es sei obszön, wenn man versuche, die Untaten des Faschismus, die Wurzeln des Sadismus im Zusammenhang mit den Naziverbrechen zu erklären, weil diese mit einem Erklärungsversuch verharmlost würden.

Es gibt viele Menschen, die sich weigern, die Entstehung von Grausamkeit aus der Kindheit heraus begreifen zu wollen. Ich kann mich in die Menschen nicht einfühlen, die sich damit abfinden, dass es „das extrem Böse“ in der Welt gibt, die „dieses Böse“ sogar in einem Film deutlich gemacht haben, ohne sich zu fragen, wie der Sadismus, die Freude am Quälen, und die Grausamkeit entstehen. Diese Haltung ist mir sehr fremd, allerdings gut bekannt. Selbstverständlich kann man die Massenbrutalität und auch die spezifischen Verbrechen verstehen. Die Treibjagd auf die Juden kann man unter anderem auch als Symbol sehen für den Vernichtungsfeldzug gegen all das, was den Eltern am eigenen Kind Angst machte, weil es „irgendwie anders“ war.

Ich möchte an dieser Stelle kurz darauf hinweisen, dass z.B. Roman Polanskis Film „Der Pianist“, der 2002 in die Kinos kam, in meinen Augen sehr deutlich macht, dass sich die Sadisten im Warschauer Getto gebärdeten wie die grausamen Eltern vor dem Kind.

Lanzmann befürchtete, ein Erklärungsversuch würde die Verbrecher als „normale“ Menschen erscheinen lassen. Aber genau darum geht es ja, es geht darum zu zeigen, dass Hitler in gewisser Weise keine Ausnahme darstellt, er war ein Phänotyp. Die Billigung der perversen Verbrechen, die Tatsache, dass so viele scheinbar ganz normale Leute sich an den Verbrechen auf sadistische Art und Weise beteiligten, zeigt gerade, dass Hitler kein Einzelfall war. Es gab viele Hitlers, aber nur einer kam an die Macht. Wie viele Väter und auch Mütter mag es gegeben haben, die sich in ihren Familien besonders gegenüber den Kindern aufführten wie Hitler gegenüber der Bevölkerung.

Wir sind in unserem vorigen Gespräch am Beispiel Hitlers bereits auf die Wurzel des Hasses eingegangen. Wir sprachen darüber, wie und wodurch die Wut schon im ganz kleinen Kind entsteht und wie sie sich später ein Ventil sucht. Gerade im Zusammenhang mit Hitler wird deutlich, dass man sich nicht damit begnügen kann, die Verbrechen der Diktatoren zu verdammen, man muss sich wohl oder übel auch mit der Bevölkerung befassen, die diese Verbrechen billigte und sich an ihnen beteiligte. Daniel Goldhagen hat dies in seinem Buch „Hitlers willige Vollstrecker: Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust“ getan.
Er argumentiert, dass insbesondere die Deutschen vom Antisemitismus geradezu verseucht gewesen seien, der dann mit der Machtübergabe an Hitler seine mörderischen Konsequenzen entfalten konnte. Goldhagen schildert den Sadismus der Deutschen gegenüber den Juden. Er beschreibt und beweist sehr genau, dass es nicht nur darum ging, die Juden zu töten, man wollte sie quälen und bestialisch töten. Dieses Bedürfnis, so weist Goldhagen nach, hatten keineswegs nur die eingefleischten Nazis, sondern auch parteilose Angehörige etwa der deutschen Polizeibataillone, die während des Krieges in den osteuropäischen Ländern eingesetzt waren. Der Autor zeigt, dass es jedem Angehörigen dieser Truppen frei gestanden hätte, sich nicht an Massenexekutionen zu beteiligen. Man hat sogar um Versetzung in die Heimat bitten können und dieser Bitte wurde in der Regel entsprochen. Diese Möglichkeit nahmen aber nur ganz wenige Polizisten wahr. Sie meldeten sich freiwillig immer wieder zu den Tötungskommandos. Es geht also nicht nur um Antisemitismus, es geht um Sadismus. Der Sadismus entsteht nicht durch eine Ideologie oder durch ein politisches System, er wird aber durch Ideologien und Systeme salonfähig gemacht. Die Juden waren also gleichsam Sündenböcke, an denen man den Sadismus ausleben konnte. Ich möchte mit Ihnen über den Sadismus sprechen: Wie entsteht diese Perversion, was muss in einem Menschen deformiert sein, um ein kleines Kind an den Haaren in der Luft halten und in den Kopf schießen zu können, um unbeeindruckt davon zu bleiben, dass die eigene Kleidung hernach von der Gehirnmasse und vom Blut dieses Kleinkindes besudelt ist. Was erleben solche Leute in der Kindheit, wie entwickeln sie sich.

Wenn wir die Beschreibungen solcher Szenen lesen, sind wir mit Recht entsetzt, aber die meisten Menschen haben Mühe zu realisieren, dass bereits jeder Angriff auf den Körper eines kleinen Kindes schon eine Art Unterricht im Ausüben des Sadismus bedeutet. Die späteren Massenmörder sind mit Sicherheit auf grausame Art und Weise von ihren Eltern terrorisiert worden, niemand war da, der ihnen nur einen Funken Mitgefühl oder Zuwendung entgegengebracht hätte. Brutalität; Grausamkeit und Demütigung waren allgegenwärtig, die Kindheit bestand aus nichts anderem. Die Grausamkeit war einfach Normalität, eine Selbstverständlichkeit. Genau so wie man das erlernt, was wir „Humanität“ nennen, erlernt man die Grausamkeit. In einem absolut lückenlosen System, das keinerlei Aussicht auf etwas anderes zulässt, entstehen die sogenannten Monster, die einen unglaublichen Hass und Vergeltungswünsche mit sich herum tragen. Dieser Überdruck wartet nur darauf, um sich entladen zu können. Der Hitlerfaschismus bot hier die beste Gelegenheit, zumal der Antisemitismus Tradition hatte.
Wir haben bereits den Bürgerkrieg in den 90iger Jahren in Ruanda erwähnt und ich habe in „Evas Erwachen“ (2001) auf die routinemäßigen Klapse im Zusammenhang mit der Reinlichkeitserziehung hingewiesen. Die Klapse bereiten das Erlernen des sehr frühen Gehorsams und der späteren Grausamkeit vor. Einem Kind wird durch Gewalt verboten, auf seine natürlichsten Bedürfnisse angemessen zu reagieren. Dann geht es weiter bis hin zur Rache an Unschuldigen. In dieser Kultur werden die Kinder zwar getragen, allerdings auf dem Rücken, sie werden im eigentlichen Sinne nicht unbedingt gehalten und selten angeschaut. Sie werden auch nicht in erster Linie aus Liebe getragen, sondern aufgrund praktischer Notwendigkeiten. Die bereits erwähnte UNICEF-Studie aus dem Jahr 2000 hat klar erwiesen, wie gewalttätig das Erziehungssystem auch und gerade in den afrikanischen Ländern ist. Das ist kein Wunder, denn normalerweise zeugen Eltern dort viele Kinder, die sie kaum ernähren können, in der Hoffnung, später einmal von den überlebenden Kindern versorgt zu werden. Werden diese Kinder mit Freude erwartet oder aus Liebe gezeugt? Die Mütter sind ohnehin vielfach rechtlos. Der Franzose Olivier Maurel hat hierzu viel Material gesammelt. Dann finden wir die allgegenwärtigen sexuellen Verstümmelungen von Mädchen und Jungen in dieser Kultur und vor allem auch den weit verbreiteten Inzest. Dies müsste eigentlich genügen, um die Entstehung von Sadismus und eines extremen Hasses zu begreifen. Wenn man diese Entwicklung verstehen wollte, stünde man vor der Erkenntnis, dass sie tatsächlich zu verhindern wäre.

Ich weiß nicht, ob es möglich ist, die Frage zu kommentieren, die mich schon lange beschäftigt. Die Deutschen geben sich so geläutert. Man möchte meinen, seit dem 8. Mai 1945 gab es keinen Sadismus mehr in Deutschland. Er verschwand über Nacht, man weiß nur nicht wohin. Ist es nicht so, dass dieser Sadismus weiter gärte, sich nach dem Krieg weiterhin in den Kinderzimmern ein Ventil suchte? Gerade Menschen, die zwischen 1940 und 1970 geboren wurden, fangen nun an, über entsetzliche Vorkommnisse in ihren Elternhäusern zu berichten. Es handelt sich hierbei um Kinder von Menschen, die ihrerseits von Eltern aufgezogen wurden, die zumindest durch die eigene Erziehung den Sadismus aufgesogen haben wie ein Schwamm.

Gleichzeitig lernten diese Menschen, den Sadismus ihrer Eltern als Wohltat anzusehen. Ihre Frage ist sehr wichtig: Was ist mit dem Sadismus geschehen, dem wir im letzten Krieg so häufig begegnet sind und den Goldhagen so genau beschreibt? Mir scheint Ihre Hypothese richtig, die Menschen, deren Wahrheit sich z.B. in vereinzelten Berichten und Internetforen abzeichnet, haben diesen Sadismus oft bei ihren Eltern zu spüren bekommen, aber so früh, dass sie sich noch kein Urteil darüber zutrauen, meistens zumindest. Und nur ein ganz winziger Teil dieser Opfer getraut sich überhaupt an die Öffentlichkeit. Es bleibt abzuwarten, ob zunehmend mehr Menschen den Mut aufbringen, über ihre Kindheit zu berichten.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass bereits dann eine grenzenlose Wut in einem Menschen entstehen kann, wenn seine echten Bedürfnisse von Anfang an nicht beantwortet, sondern ignoriert und unterdrückt werden. Bereits das ist eine Verstümmelung des emotionalen Lebens, die dauerhaft sein kann. Viele Menschen werden bei auf diese Art emotional verarmten Eltern aufgewachsen sein. Solche Eltern können nicht lieben, selbst wenn sie es wollen.

Daniel Goldhagen beschreibt unter anderem das Massaker, das das Polizeibataillon 101 am 25. August 1942 unter dem Hauptmann Julius Wohlauf an den Juden der polnischen Stadt Miedzyrzecz beging. Ich möchte an dieser Stelle eine Passage zitieren: „Die Razzia, bei der die Juden aus ihren Wohnungen zum Marktplatz getrieben wurden, war wohl die brutalste, … die das Polizeibataillon … durchführte. Hunderte von toten Juden lagen danach auf den Straßen. … Die Deutschen zwangen die Juden, stundenlang in der brennenden Sonne zu sitzen, so dass viele das Bewusstsein verloren. Jeden, der auch nur aufstand, erschossen sie sofort. Der Marktplatz war bald mit Leichen übersät, darunter viele Kinder, denen es naturgemäß schwer fiel, unter solchen Umständen stundenlang stillzuhalten. … Nicht nur Frau Wohlauf [die Ehefrau des Hauptmanns] war bei all dem dabei, anwesend waren auch die Ehefrauen einiger anderer am Ort stationierter Deutscher … . So verbrachte die schwangere Frau Wohlauf ihre Flitterwochen.“
Später zeigten sich einige deutsche Offiziere beunruhigt darüber, dass eine Schwangere bei dem Massaker anwesend war, es ging nicht um die Anwesenheit von Frauen im allgemeinen, sondern man äußerte die Sorge, „die Empfindungsfähigkeit“ der zukünftigen Mutter „könnte Schaden“ genommen haben. Ich denke, wir können davon ausgehen, dass die „Empfindungsfähigkeit“ dieser Frau längst gelitten hatte. Das heißt, es muss neben dem eingefrorenen Hass gleichsam doch eine emotionale Entleerung stattgefunden haben, um das Leiden anderer nicht mehr als Leid wahrnehmen, es sogar genießen zu können. Mir ist wichtig, wie ein Mensch seine Empfindungsfähigkeit verliert.

Indem er als Kind blind bleiben muss für den Sadismus der Eltern, die diesen Erziehung nennen. Indem das Kind notgedrungen alle Gefühle in sich erdrosseln muss, um überhaupt überleben zu können. Schon die Eltern verbieten ja den Ausdruck der Gefühle, machen Jagd auf die authentischen Reaktionen des Kindes. Aber auch das Kind muss jede Empfindung ins sich abtöten. Es lernt übrigens auch bei den empfindungslosen Eltern, dass dieser Zustand angeblich normal ist. Wenn der Erwachsene später umgeben ist von ebenfalls fühllosen Menschen, wie soll er auf die Idee kommen, dass er einen tiefgreifenden Schaden genommen hat? Im Deutschland Hitlers waren ja auch die Fühllosigkeit, die Härte, das Eiserne, die Rücksichtslosigkeit sich selbst und den nächsten Angehörigen gegenüber das Ideal schlechthin. Wer fühlen konnte, war krank, entartet, verweichlicht und untauglich.
So konnten die meisten Deutschen nicht erkennen, dass die Verfolgung der Juden ebenso wahnsinnig wie sadistisch und pervers war. Sie glaubten, sich vor den Juden retten zu müssen. Sogar Menschen wie Pastor Martin Niemöller, die erklärte Gegner der Nazis waren, hassten (wie Daniel Goldhagen dokumentiert) die Juden.
Ein sehr aktuelles Beispiel ist die Geiselnahme von einigen hundert Schulkindern in Tschetschenien (Beslan), die zeigte, dass Menschen nicht einmal zu Erbarmen fähig sind. Sie werden erbarmungslos, weil sie Empathie niemals erlernen konnten oder entwickeln durften. Es genügte nicht, die Kinder als Geiseln zu nehmen, sie durften nichts trinken, viele wurden getötet, auch dann noch, als die Geiselnehmer sich bereits auf der Flucht befanden. Unter den Terroristen befanden sich auch Mitglieder, die selbst Eltern waren. Natürlich geht es hier um einen massiven politischen und ethnischen Konflikt, der aber auch gespeist und geschürt wird von einer früh erworbenen Deformation, auch von Sadismus.

Sigrid Chamberlain beschreibt in ihrem sehr lesenswerten Buch „Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ das Erziehungssystem der nationalsozialistischen Pädagogin Johanna Haarer, deren Pädagogik geradezu darauf ausgerichtet war, die natürlichen Bedürfnisse des Säuglings und Kleinkindes zu bekämpfen. Das Kind soll auf keinen Fall verwöhnt werden, nicht verweichlicht durch mütterliche Zärtlichkeiten. Gehen wir also davon aus, ein Kind wächst in einem Klima heran, in dem sämtliche Bedürfnisse angefangen bei der Verdauung und der Nahrungsaufnahme einer rigiden Kontrolle unterworfen sind. Vielleicht hat es Glück und wird lediglich mit Klapsen bestraft und nicht grün und blau geschlagen. Es wird auch nicht sexuell belästigt. Aber es verliert durch die elterliche Ignoranz jeden Kontakt zu seinen Bedürfnissen. Vor allem wird sein Bedürfnis nach körperlicher und seelischer Nähe torpediert. Produziert nicht im ungünstigen Fall allein ein solches Erziehungssystem, das auch nach dem Krieg von vielen Müttern und Kinderpflegern mit dem besten Gewissen vertreten wurde, Erwachsene, die völlig versteinert sind, deren emotionales Leben abgestorben ist?

Ja, der Mangel an Zärtlichkeit und Kommunikation kann weder in der Kindheit noch später erlebt, benannt, betrauert werden, weil all das unbekannt bleibt. Dennoch hinterlässt er offenbar Minenfelder in der Psyche dieser Opfer, die für die eigenen Kinder (oder unter entsprechenden Voraussetzungen sogar für ganze Völker) zu einer großen Gefahr werden können. Der Mangel, der Hunger, die innere Verelendung werden von Generation zu Generation weiter gegeben, solange sie nicht durchschaut werden können. Jedenfalls sehe ich darin eine Gefahr.

Darüber hinaus interessiert mich in diesem Zusammenhang die Frage, die ich gelegentlich schon am Beispiel der in Majdanek als „Blutige Brigitte“ berüchtigt gewordenen Hildegard Lächert angesprochen habe. Die bis heute etwa von prominenten deutschen Feministinnen vertretene These, Frauen könnten nicht gewalttätig, schon gar nicht sadistisch sein, hält sich hartnäckig. Ihr wird auch nur relativ selten Widerspruch entgegen gebracht.
Sie haben bereits in Ihrem ersten Buch über versagende, auch grausame Mütter gesprochen. Sie wiesen immer wieder darauf hin, wie schwer es ist, die ganze Wahrheit, also nicht nur die Wahrheit über die despotischen Väter zuzulassen. Inzwischen liegen zahlreiche Fakten über misshandelnde Mütter vor. Lebten wir nicht im Patriarchat, wäre doch auch eine Frau denkbar mit Charakterzügen, wie wir sie etwa bei den männlichen Diktatoren finden, die also zu politischer Macht gelangt und sehr ähnliche Verbrechen initiiert.

Das ist an sich denkbar, doch dürfen wir nicht vergessen, dass Frauen in der Rolle der Mutter, auch Erzieherin, Kindergärtnerin, bereits eine unbeschränkte und von niemandem kontrollierte Macht besitzen, sie können das menschliche Leben an seiner Wurzel bereits so schädigen, dass sich der Mensch kaum je davon erholen kann. Und dies total straflos. Mütter praktizieren die Gewalt eher im Verborgenen, aber sie sind an der Produktion der Grausamkeit eindeutig beteiligt.
Und wir wissen doch, dass sich auch Frauen für die „Terroristenkarriere“ entscheiden. Sie wehren sich kaum bei den Männern, kämpfen nicht dort um ihre Unabhängigkeit, sondern lassen ihre Frustrationen an fremden Menschen aus, sogar an Kindern, die ihnen nichts getan haben. An der Geiselnahme in Beslan haben sich auch Frauen beteiligt. Man kann sich schwer der Einsicht verschließen, dass die Geiselnehmer, Männer wie Frauen, eben auch ihre eigenen Geschichten des einst erlebten Terrors in Szene setzen.

Die Entwicklung im Irak-Krieg zeigte, dass der Sadismus auch in den westlichen Demokratien unter bestimmten Voraussetzungen jederzeit die Oberhand gewinnen kann. Diese Tatsache war eigentlich nicht unbedingt neu, sie wurde nur durch die jüngsten Enthüllungen auf besonders eindringliche Weise offenbar. Ich habe mich in einem Artikel auf Ihrer Web-Seite mit diesem Thema auseinander gesetzt. Für mich ist das eine sehr entscheidende Thematik. Auch ohne dass wir die Kindheiten der einzelnen Folterer kennen, beweisen die Taten in ihrer stummen Sprache ihre Herkunft.

Wie könnte man auf die Idee kommen, zu glauben, es gebe in unserer Gesellschaft keinen Sadismus? Da kommen wir zu unserem Ausgangspunkt zurück, dass es eben darum geht, zu fragen, wie entsteht etwa Sadismus in einem Menschen, warum und wie ist ein Mensch der geworden, der er ist. Diese Frage wird oft abgewehrt, auch lächerlich gemacht. Man vertritt lieber den Standpunkt, nun ja, so ist es eben. In diesem Zusammenhang ist es interessant, aus einem Spiegel-Online-Artikel vom 7. August 2004 zu zitieren, der sich mit den Enthüllungen über die Folter im Irak befasst. Ich meine, das Zitat bedarf keines näheren Kommentars:
„Der Soldat Joseph Darby machte seine Aussage telefonisch von einem geheim gehaltenen Ort aus im Rahmen der Anhörung im Fall Lynndie England. Unter anderem zitierte Darby den ebenfalls der Misshandlung von Gefangenen Beschuldigten Charles Graner mit den Worten: „Der Christ in mir weiß, dass dies falsch ist. Aber der Gefängniswärter in mir kann nichts dagegen tun, dass es ihm Spaß macht, einen erwachsenen Mann dazu zu bringen, Angst zu haben.“
Hier drängt sich doch förmlich die Frage auf, wie es möglich ist, dass jemand, der sich auch noch als Christ bezeichnet, Freude am Quälen anderer Menschen empfindet. Oder Spaß dabei hat. Woher kommt dieser Spaß? Was ist das für ein „Spaß“? Ist dies der „Spaß“ der Eltern, den sie empfanden, als sie das Kind belästigten? Wie entwickelt sich in einem Individuum die Lust an der Zerstörung? Ich denke, je gründlicher man sich mit diesen Aspekten beschäftigt, umso mehr weiß der Einzelne über sich selbst, umso mehr weiß aber auch die Gesellschaft über ihre Abgründe, von denen sie bedroht wird.

Ich möchte ebenfalls ein Zitat anführen, das mit Blick auf den von Ihnen erwähnten Artikel sehr anschaulich belegt, wie spezielle Ausformungen der sadistischen Perversion in sehr verschiedenen gesellschaftlichen Verhältnissen zum Vorschein kommen. Die Parallelen sind eindeutig. Ich fand diese Aussagen in der Autobiographie des Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki. Er beschreibt seine Erlebnisse im Warschauer Getto während des Zweiten Weltkrieges und berichtet unter anderem:
„Im Getto wurde auch gefilmt. Nicht wenige deutsche Soldaten und Offiziere wollten ein Souvenir nach Hause mitnehmen. Professionelle Filmleute, wohl Angehörige von Propaganda-Kompanien, waren ebenfalls am Werk. … Auch Sexualszenen wurden gedreht: Mit der Pistole in der Hand zwangen deutsche Dokumentarfilmer junge Männer, mit älteren und nicht gerade ansehnlichen Frauen zu koitieren und junge Mädchen mit alten Männern. Diese Filme, die man zum Teil nach dem Krieg in Berliner Archiven gefunden hat, wurden aber nicht öffentlich vorgeführt: Das Propagandaministerium und andere deutsche Instanzen sollen befürchtet haben, die Aufnahmen könnten statt Ekel Mitleid hervorrufen. …
Anfang Juni erschien wieder einmal eine deutsche Filmequipe und drehte zahlreiche gestellte Szenen. Auf den Straßen wurden gutaussehende und ordentlich gekleidete junge Jüdinnen verhaftet und ins Hauptgebäude des Judenrates gebracht; sie mussten sich ausziehen und wurden zu obszönen sexuellen Posen und Handlungen gezwungen. Ob die Equipe den Auftrag hatte, derartiges zu filmen, oder ob es sich um ihr Privatvergnügen handelte, ist nicht bekannt.“

Man sieht, wie sie sagten, dass dieselbe Perversion oder Deformation durch westliche Militärs in den irakischen Gefängnissen ausagiert wurde. Man kann eben nicht sagen, der Faschismus oder der Antisemitismus habe die Leute sadistisch und pervers gemacht, und in einer weniger brutalen Gesellschaft sei der Sadismus eine Erscheinung im Privatleben einzelner Menschen. Der Sadismus, die Perversion sind zuerst da, sie entstehen in der Familie, nicht durch eine Diktatur. Deshalb haben unsere Überlegungen und Fragen nicht nur Relevanz für verbrecherische Systeme, sie haben Relevanz für alle Gesellschaftsformen, solange Menschen in der frühesten Zeit ihres Lebens Perversionen erwerben, erlernen und dadurch schwer beschädigt werden.

> Fortsetzung