von Alice Miller
Die befreiende Erfahrung der schmerzhaften Wahrheit
Wednesday 01 January 2003
Das lange vergriffene Buch „Abbruch der Schweigemauer“ wird im Mai 2003 in einer neuen Auflage als Suhrkamp Taschenbuch erscheinen. Da in der letzten Zeit das Thema des Verzeihens in verschiedenen Foren immer wieder auftauchte und ich häufig mit diesbezüglichen Fragen konfrontiert werde, publiziere ich hier das folgende Kapitel aus diesem Buch. Es handelt sich um einen Text, der sich bereits in der ersten Auflage (1990) befand.
Das mißhandelte und verwahrloste Kind ist vollkommen allein, im Dunkel der Verwirrung und Angst, umgeben von Arroganz und Haß, seiner Rechte und seiner Sprache beraubt, um seine Liebe und sein Vertrauen betrogen, mißachtet, gedemütigt, in seinem Schmerz verhöhnt, ohne Orientierung, ohne jeden Halt, blind, gnadenlos der Macht des ignoranten Erwachsenen ausgeliefert, vollkommen wehrlos.
Sein ganzes Wesen möchte den Zorn herausschreien, die Empörung ausdrücken und nach Hilfe rufen. Aber genau das darf es nicht. All die normalen, von der Natur zur eigenen Rettung vorgesehenen Reaktionen bleiben ihm verwehrt. Wenn ihm nämlich kein Zeuge zu Hilfe kommt, würden diese natürlichen Reaktionen die Qualen des Kindes noch vergrößern, verlängern, und es könnte schließlich auch umgebracht werden.
So muß die gesunde Regung, gegen Unmenschlichkeit zu protestieren, unterdrückt werden. Das Kind versucht, alles, was geschehen ist, aus dem Gedächtnis zu löschen, auszuradieren, um die brennende Empörung, die Wut und die Angst, um den unerträglichen Schmerz aus dem Bewußtsein zu verbannen – wie es hofft, für immer. Was bleibt, ist ein Gefühl der eigenen schweren Schuld – auch dann, wenn es nicht gezwungen wurde, die Hand, die es schlug, zu küssen und um Verzeihung zu bitten. Leider geschieht dies häufiger, als man gemeinhin annimmt.
In Überlebenden solcher Folter, die mit totaler Verdrängung endeten, lebt das gefolterte Kind trotzdem weiter: im Dunkel der Angst, der Unterdrückung, der Bedrohung. Wenn all seine Versuche, den Erwachsenen zu bewegen, die Geschichte des Kindes anzuhören, erfolglos bleiben, versucht es sich mit der Sprache der Symptome Gehör zu verschaffen, mit Hilfe der Sucht, der Psychose, der Kriminalität. Wenn im Erwachsenen dann doch eine Ahnung aufkommt, weshalb er leidet, und er Fachleuten die Frage stellt, ob seine Leiden mit der Kindheit in Zusammenhang stehen könnten, wird ihm in den meisten Fällen versichert, dies sei wohl kaum der Fall, und falls doch, dann müsse er verzeihen lernen, denn es sei eben seine nachtragende Haltung, die ihn krank mache.
Ich habe in den letzten Jahren viele Bücher über unterschiedliche Therapieansätze aus den USA zugeschickt bekommen, von mir unbekannten Autoren. Ohne eine einzige Ausnahme setzen all diese Autoren als selbstverständlich voraus, daß das Verzeihen eine Bedingung für den „Erfolg“ der Therapie sei. Diese Annahme scheint allen so selbstverständlich, daß sie nirgends hinterfragt wird – und gerade das wäre dringend notwendig. Denn Verzeihung löst den latenten Haß und Selbsthaß nicht auf, sondern überdeckt ihn in einer sehr gefährlichen Weise.
Mir ist der Fall einer Frau bekannt, deren Mutter als Kind von ihrem Vater und Bruder sexuell mißhandelt wurde. In einer Klosterschule aufgewachsen, lernte diese Mutter ausgiebig den „Segen der Verzeihung“ und verehrte ihren Vater und den Bruder ohne eine Spur von Bitterkeit. Doch als ihre Tochter noch ein Säugling war, überließ sie das Kind des öfteren ihrem dreizehnjährigen Neffen zum „Hüten“. Sie ging abends seelenruhig mit ihrem Mann ins Kino, während sich der pubertierende Babysitter mit dem Körper ihrer kleinen Tochter sexuelle Befriedigung verschaffte.
Als diese Tochter in einer Psychoanalyse Hilfe suchte, sagte ihr der Analytiker, sie dürfe ihrer Mutter keine Vorwürfe machen, denn alles sei doch ohne böse Absicht geschehen, die Mutter habe ja keine Ahnung gehabt, daß der Babysitter ihr Kind regelmäßig mißbrauchte. Tatsächlich war diese Mutter anscheinend ahnungslos. Als das Kind Eßstörungen entwickelte, konsultierte sie besorgt mehrere Ärzte, die ihr versicherten, die Störungen kämen vom „Zahnen“. So funktionierten alle Rädchen dieser Verzeihungsmaschinerie beinahe perfekt, aber auf Kosten der Wahrheit und schließlich auch des Lebens aller Beteiligten.
In ihrem Buch The Obsidian Mirror (Seattle 1988) beschreibt Louise Wisechild, wie es ihr gelungen ist, während ihrer Ausbildung zur Massagetherapeutin mit Hilfe der Körperarbeit und schriftlicher Protokolle die Botschaften und Mitteilungen ihres Körpers zu entziffern, zu fühlen und so ihre Kindheit langsam aus der Verdrängung zu befreien. Allmählich entdeckte sie in allen Einzelheiten, was sie total aus ihrem Bewußtsein verbannt hatte: daß sie mit vier Jahren von ihrem Großvater sexuell mißbraucht, wenig später von ihrem perversen Onkel aufs schwerste mißhandelt und schließlich vom Stiefvater vergewaltigt worden war. Da aber die selbstdestruktiven Muster durch dieses Wissen noch nicht aufgelöst waren, suchte sie eine Therapeutin auf, die sie bei dieser Entdeckungsreise weiter begleiten sollte. Ungeachtet der offenkundigen Fakten, sagte ihr die Therapeutin eines Tages: „Wenn Sie Ihrer Mutter nicht verzeihen, werden Sie sich selbst nie verzeihen können.“ Statt der Patientin zu helfen, die Schuldgefühle, die man ihr aufgeladen hatte, aufzulösen, was ja die Aufgabe der Therapie gewesen wäre, wurde ihr eine zusätzliche Forderung aufgebürdet, die diese Schuldgefühle zementieren dürfte. Doch mit einem religiösen Akt der Verzeihung werden selbstdestruktive Muster nicht aufgelöst.
Weshalb sollte diese Frau, die sich dreißig Jahre lang vergeblich um den Schutz ihrer Mutter bemühte, ihr diese Gleichgültigkeit verzeihen, nachdem die Mutter nie den geringsten Versuch unternommen hatte, einzusehen, was sie ihrer Tochter angetan hat? Als das Kind einst, erstarrt vor Entsetzen und Angst, unter dem schweren Gewicht des Onkels liegenbleiben mußte, sah es im Spiegel die Mutter an die Türschwelle kommen. Es hoffte auf Rettung, aber die Mutter drehte sich um und verschwand. Als Louise bereits erwachsen war, hörte sie die Mutter sagen, diese habe die Angst vor jenem Onkel nur in Gegenwart ihrer Kinder ausgehalten. Als die Tochter über die Vergewaltigung durch den Stiefvater mit ihr reden wollte, schrieb ihr die Mutter, sie wolle sie nie mehr sehen. Es ist unfaßbar, daß sogar in einem so krassen Fall nicht offenkundig wird, daß durch die Forderung nach Verzeihung ein eventueller Therapieerfolg zwangsläufig verhindert wird. Was wird damit erreicht außer der Beruhigung der Therapeutin?
Dieses Beispiel zeigt, wieviel mit einem einzigen grundfalschen, verwirrenden, aber in der Tradition gut verankerten Satz zerstört werden kann – gerade weil er uns seit den frühesten Jahren so gut bekannt ist. Der Patient ist überzeugt, daß der Therapeut eine solche Aussage aufgrund einer gesicherten Erfahrung macht, und glaubt der Autorität. Er weiß nicht und kann auch kaum herausfinden, daß diese Behauptung lediglich die Angst eines mißhandelten Kindes, des Therapeuten, vor dessen Eltern ausdrückt. Er kann es um so weniger, als gerade diese Aufforderung zum Verzeihen bei ihm selber ebenfalls alte Ängste mobilisiert, die ihn dazu zwingen, der Autorität zu glauben. Wie kann der Patient unter diesen Umständen seine Schuldgefühle auflösen? Er wird ja ausdrücklich in ihnen festgehalten.
Ich habe viele Therapeuten gefragt, weshalb sie annehmen, man müsse verzeihen, um gesund zu werden, bekam aber nie eine Antwort. Offenbar hatten sie ihre Forderung noch nie in Frage gestellt, weil sie sie für ebenso selbstverständlich hielten wie die Mißhandlungen, mit denen wir aufgewachsen sind. Ich kann mir nicht vorstellen, daß eine Gemeinschaft, die ihre Kinder nicht mißhandelt, sie achtet, sie liebevoll beschützt, die Ideologie der Verzeihung für Grausamkeiten wie zum Beispiel das Schlagen entwickeln würde. Diese Ideologie ist untrennbar mit dem Gebot „Du sollst nicht merken“ verbunden sowie mit der Wiederholung der erfahrenen Grausamkeiten in der nächsten Generation. Die Angst vor der Rache der Eltern prägt unsere „Moral“.
In einer Therapie ohne Erziehung kann dieser verhängnisvollen Ideologie ein Ende bereitet werden. Denn mit Hilfe ihrer Wahrheit können sich Überlebende der Mißhandlungen von deren Folgen befreien. Eine wirksame Therapie ist nicht die Fortsetzung der Erziehung, sondern die Aufklärung über die Verletzungen der Erziehung, deren Folgen sie auflösen kann. Sie muß dem Patienten den Zugang zu seinen Gefühlen vermitteln, und dies für die Dauer seines ganzen Lebens, weil nur dieser Zugang ihm helfen kann, sich zu orientieren und wirklich bei sich zu bleiben. Moralisierende Appelle können diesen Zugang nur versperren.
Die Forderung nach Verzeihung, der ich überall begegne, ist daher eine Gefährdung der Therapie. Sie ist Ausdruck unserer Kultur, in der Kindesmißhandlungen an der Tagesordnung sind und aus diesem Grund von den meisten Erwachsenen bagatellisiert werden. Die Möglichkeit der Wende hängt davon ab, ob es genügend „wissende Zeugen“ gibt, die ein „Auffangnetz“ für das wachsende Bewußtsein der mißhandelten Kinder bilden können, damit diese nicht in die Dunkelheit des Vergessens fallen, aus der sie später als Kranke oder Verbrecher wieder hochkommen. Aufgefangen im „Netz“ der wissenden Zeugen, können diese Kinder zu bewußten Menschen aufwachsen, die mit und nicht gegen ihre Vergangenheit leben und die sich deshalb für eine humanere Zukunft werden einsetzen können.
Es ist bereits bekannt, daß das Beweinen von Schmerz, Trauer und Angst nicht nur Tränen fließen läßt, sondern daß gleichzeitig auch Streßhormone ausgeschieden werden, die eine allgemeine Entspannung im Organismus bewirken. Dies ist noch keineswegs mit Therapie gleichzusetzen. Immerhin wäre es jedoch eine wichtige Erkenntnis, die in die Behandlungen der Praktiker Eingang finden müßte. Doch das Gegenteil ist bisher der Fall. Dem Patienten werden Beruhigungstabletten verschrieben, damit er ja keinen Zugang zu den Ursachen seiner Symptome finde. Das Problem der Gesundheitspädagogik sehe ich vor allem in der Tatsache, daß die meisten Beteiligten, Institutionen und Fachleute auf keinen Fall wissen wollen, weshalb Menschen erkranken oder in Gefängnissen landen. Diese Weigerung führt dazu, daß unzählige chronisch kranke Menschen jahrzehntelang Kliniken und Gefängnisse „bewohnen“, daß Milliarden vom Staat bezahlt werden, um Geheimnisse zu hüten. Die Betroffenen dürfen auf keinen Fall erfahren, daß man ihnen helfen könnte, die Sprache ihrer Körper zu verstehen, um ihr Leiden wirklich zu lindern oder sogar aufzulösen.
Wenn man den Mut hätte, sich mit den Tatsachen der Verdrängung von Kindesmißhandlungen und deren Folgen zu konfrontieren, wäre das möglich. Doch die Fachliteratur zu diesem Thema läßt diesen Mut durchweg vermissen. Allgegenwärtig sind hingegen die Appelle an den guten Willen, allerlei unverbindliche und unüberprüfbare Ratschläge und vor allem das Predigen, alle je in der Kindheit erlittenen Grausamkeiten verzeihen zu müssen. Wenn all das nichts nützt, zahlt eben der Staat lebenslänglich für Pflege und Versorgung der Invaliden und chronisch Kranken, die mit Hilfe der Wahrheit gesunden könnten.
Es ist doch bereits erwiesen, daß die Verdrängung, so sehr sie für das Kind notwendig war, nicht das Schicksal des Erwachsenen sein muß. Die Abhängigkeit des kleinen Kindes von seinen Eltern, sein Vertrauen zu ihnen, seine Sehnsucht nach Liebendürfen und Geliebtwerden kennen keine Grenzen. Diese Abhängigkeit auszubeuten, das Vertrauen zu mißbrauchen, die Sehnsucht zu betrügen und zu verwirren und dies alles als Erziehung zu verkaufen ist ein zerstörerisches Tun, das täglich und stündlich aus Trägheit, Ignoranz und aus der Weigerung, diese aufzugeben begangen wird. Die Tatsache, daß die meisten Verbrechen unbewußt begangen werden, mildert leider nicht die verhängnisvollen Folgen, die darin bestehen, daß der Körper des mißhandelten Kindes die Wahrheit registriert hat, sein Bewußtsein sich aber weigert, davon Kenntnis zu nehmen. Mit der Verdrängung der Schmerzen und der begleitenden Umstände rettet sich der kindliche Organismus vor dem Tod, den er durch das bewußte Erlebnis des Traumas erleiden müßte. Was bleibt, ist der Teufelskreis der Verdrängung: Die im Körper gespeicherte wahre Geschichte produziert Symptome, um endlich erkannt und ernstgenommen zu werden. Doch das Bewußtsein weigert sich, wie in der Kindheit, darauf einzugehen, weil es dort die lebensrettende Funktion der Verdrängung gelernt hat und weil ihm heute niemand sagt, daß der erwachsene Mensch nicht am Wissen sterben müßte; daß es im Gegenteil zur Gesundheit verhelfen würde, die Wahrheit zu kennen.
Heute wissen wir, daß Aids und die Krebserkrankungen mit einem starken Abfall der Immunabwehr einhergehen und daß dieser körperlichen „Resignation“ der Verlust der Hoffnung des erkrankten Menschen vorausgeht. Es ist erstaunlich, daß kaum jemand hier den Schritt macht, den diese Entdeckungen nahelegen. Der Mensch kann die Hoffnung wiedererlangen, wenn seine Notsignale endlich gehört werden. Wenn seine verdrängte, verborgene Geschichte endlich bewußt wahrgenommen wird, kann sich auch sein Immunsystem regenerieren. Aber wer soll ihm dabei helfen, wenn so viele „Helfer“ ihre eigene Geschichte fürchten? So spielen wir miteinander das Blinde-Kuh-Spiel, Patienten, Ärzte, Behörden, weil bisher nur wenige die Erfahrung gemacht haben, daß das emotionale Zulassen der Wahrheit die unabdingbare Voraussetzung der Heilung ist. Der Mensch kann auf Dauer, auch körperlich, nur im Bewußtsein seiner Wahrheit funktionieren. Die traditionelle Moral, die destruktiven Interpretationen von Religionen, die Demütigungen in der Erziehung erschweren diese Erfahrung und verhindern das Wagnis. Die pharmazeutische Industrie profitiert zudem zweifellos von unserer Verzagtheit und Blindheit. Aber uns wurde nur ein einziges Leben geschenkt und ein einziger Körper, der sich nicht zum Narren halten läßt und der unbedingt darauf besteht, nicht von uns betrogen zu werden.
- Therapeutenliste
- Auflösung der Folgen von Kindesmisshandlungen
- Wir können die Ursachen für unser Leiden finden
- Aus dem Gefängnis der Schuldgefühle
- Der Fall Jessica
- Der blanke Sadismus
- Der längste Weg
- Was ist Hass?
- Empörung als Vehikel der Therapie
- Depression – der Zwang zum Selbstbetrug
- „Die Revolte des Körpers“ – eine Herausforderung
- Feminismus, Marxismus und Kindheit
- Der Betrug tötet die Liebe
- Über den Missbrauch des Vertrauens in der Therapie
- Irreführende Informationen
- Zum Film „Mummy Dearest“ (Meine liebste Rabenmutter)
- Saddam Hussein und die Kardinäle
- Körper und Moral
- Die befreiende Erfahrung der schmerzhaften Wahrheit
- Wie kommt das Böse in die Welt?
- Woher kommt das Grauen?
- Bedingungen der Therapie
- Wann gibt es endlich keine idealen Soldaten mehr?
- Einige Leichen im Keller
- Wem gehört unser Bewusstsein?
- Frenzy
- Über einige Aspekte der neueren Traumatherapien
- Die Blendung des Ödipus – oder Der blinde Fleck unserer Kultur
- „Abschied von den Eltern“
- Perversion und Gesellschaft, Teil 2
- Perversion und Gesellschaft, Teil 1
- Geborgenheit in der Moral oder Die Wahrheit der Erfahrungen
- Auf der Suche nach der eigenen Geschichte: Der Schriftsteller Jurek Becker
- Die doppelte Falle