“Abschied von den Eltern”

von Thomas Gruner

“Abschied von den Eltern”
Sunday 15 August 2004

“Da ging er in sich und sprach: ‚Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben Brot im Überfluss, ich aber komme hier vor Hunger um. Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen; halte mich wie einen von deinen Tagelöhnern.’ Und er machte sich auf und ging zu seinem Vater.”
Der verlorene Sohn, Lukas 15, 17-20

“Abschied von den Eltern” ist der Titel eines Romans von Peter Weiss, der 1961 veröffentlicht wurde. Der Autor beschreibt hier ausgehend vom Tod beider Eltern die schwierige Selbstfindung eines jungen Mannes, den Weg aus einem bürgerlichen Elternhaus, das sich der Autonomie des Sohnes widersetzte, zum Künstler, der sich mit seiner Kunst gegen die Gesellschaftsschicht stellt, der seine Eltern angehörten. Auf diese Weise bringt sich der Erzähler mit Hilfe der Kunst als er selbst hervor und vollzieht eine Trennung von seiner Herkunft.
Beim Wiederlesen dieses modernen Bildungsromans fragte ich mich, ob das Abschiednehmen von den Eltern nicht noch eine viel tiefergehende Bedeutung hat. Denn in jedem Erwachsenen, dessen Bedürfnisse in der Kindheit nicht erfüllt wurden, der in seinem Wesen keine Anerkennung und Zuneigung erfuhr, existiert das Kind mit seiner Sehnsucht nach der echten Liebe der Eltern weiter, oft ein Leben lang. Es gibt auch im erwachsenen Menschen einen Teil, der die Hoffnung, eine besonders große Anstrengung oder die Geste des Vergebens möge die Liebe der Eltern doch noch zum Vorschein bringen, nicht aufgeben kann. Denn in der Kindheit war diese Hoffnung lebenswichtig. Sehr oft blieb sie eine Illusion.

Die äußere Trennung von den Eltern kann in vielen Fällen notwendig sein, sie mag durch die Distanz auch eine gewisse Beruhigung zur Folge haben. Manchmal wird diese äußerliche Trennung erst durch den Tod der Eltern hergestellt. Dann zeigt sich, dass die Eltern mit all ihren Botschaften, ihren Versäumnissen, mit dem, was sie uns vielleicht mit auf den Weg gaben, mit dem, was sie uns stahlen, was sie bekämpften und auch mit ihrer eigenen Geschichte, ihren eigenen Träumen, mit ihrem eigenen Unglück in uns weiter leben. Auch der Tod von Mutter und Vater befreit den Erwachsenen nicht von seiner Geschichte mit ihnen. Vielmehr könnte es sein, dass der “Abschied von den Eltern” für viele Menschen eine Aufgabe darstellt, der sie sich auf unterschiedliche Art und Weise in ihrem Leben immer wieder stellen müssen. Ein erwachsener Mensch braucht die Eltern nicht mehr um leben zu können, trotzdem ist der Abschied so schmerzhaft, weil er doch auch so sehr ein Abschied von den Hoffnungen und Illusionen, von der Liebe und der Sehnsucht des Kindes in uns ist.

In den Gesprächsgruppen, die ich aufsuchte, und in den ourchildhood-Foren sprachen und sprechen Menschen häufig darüber, dass sie sich immer wieder mit den Eltern treffen und jedes Mal von ihnen verletzt werden. Die Eltern wollen gar nicht wissen, was ihr erwachsenes Kind fühlt, wie es lebt, worunter es leidet. Manchmal stellen die Eltern Ansprüche und Forderungen, äußern Vorwürfe, oder aber sie reden unentwegt über ihre eigene kleine Welt, über den Nachbarn, der gerade ein neues teures Auto erstanden hat, über die Pflanzen im Garten, über ihre Altersgebrechen. Nur mit ihrem erwachsenen Kind sprechen sie in Wahrheit nicht. Es kommt vor, dass der Erwachsene seine Wut auf die Eltern nicht unterdrücken kann, er reagiert aggressiv und hat dann Schuldgefühle deswegen: Wenn ich nur anders wäre, mich anders geben könnte, dann wären meine Eltern auch so, wie ich sie brauchte. Das aber ist die Not des kleinen darbenden Kindes in uns. Der Erwachsene möchte am liebsten davonlaufen vor diesen Menschen, das Kind in uns aber zieht es mit Macht zu den Eltern. Das Kind hat den Wunsch, immer wieder zu überprüfen, ob nicht vielleicht dieses eine Mal, ob nicht wenigstens kurz vor dem Tod der alten Eltern nicht doch irgendetwas, eine noch so kleine Geste kommt, nach der es sich immer gesehnt hat. Diese Zerrissenheit ist sehr schmerzhaft. Denn wie der Mensch sich auch dreht und wendet, es ist oftmals fast unmöglich, zugleich dem Kind in uns und dem Erwachsenen, der wir heute sind, gerecht zu werden.

So erfährt zum Beispiel eine Frau, die ihren Vater, von dem sie in der Kindheit missbraucht wurde, viele Jahre nicht mehr gesehen hat, dass dieser nun im Sterben liegt. Sie müsse sich schon beeilen, wird ihr von der Verwandtschaft mitgeteilt, wenn sie den Vater noch einmal sehen wolle. Dann soll er mal sterben, denkt die Frau spontan, was hat dieser Mann mir angetan, wie sehr habe ich mein ganzes Leben unter ihm gelitten. Nun wird er so verlassen sein, wie ich es als Kind gewesen bin. Aber in dieser Frau überdauerte auch das kleine Mädchen, das sich verzweifelt nach dem Vater sehnte, das immer glaubte, eines Tages würde er die inzestuösen Übergriffe beenden und der Vater werden, den dieses Kind so sehr brauchte. Dann, so hoffte das kleine Mädchen, würde es dem Vater endlich auch all die Liebe geben können, die es für ihn von Anfang an bereit hielt. Niemals hätte dieses Kind den sterbenden Vater im Stich gelassen, denn es erkannte mit seiner Empfindsamkeit auch die Not und die Einsamkeit des Vaters, das Unglück des kleinen Jungen, der er einst selbst gewesen war. Und sie hatte buchstäblich alles daran gesetzt, diese Not zu lindern, ihn zu retten.
Die Frau fährt nicht zum Vater, doch das Kind in ihr leidet. Vielleicht hätte er doch ein Wort der Liebe oder der Einsicht in sein Versagen von sich gegeben. Wie gerne hätte es den Vater noch einmal gesehen und so mit ihm gesprochen, wie es niemals möglich war. Nicht im Hass, sondern ruhig und besonnen. Wie gerne hätte die Frau sich von ihm so verabschiedet, dass das Kind in ihr nicht leiden muss. Sie weiß aber auch, dass sie den Illusionen des Kindes in ihr nicht nachgeben wollte. Sie konnte dem Vater auch nichts mehr geben, weil sie schon als kleines Mädchen so viel gegeben hat, dass kaum Kraft für das eigene Leben übrig blieb.
Längere Zeit nach der Beisetzung, an der sie nicht teilnahm, spürt die Frau den starken Wunsch, das Grab des Vaters zu besuchen. Sie fühlt fast so etwas wie Freude, es ist so, als ob sie nun endlich ohne Angst zum Vater gehen könne; nun kann er sie nicht mehr mit boshaften Bemerkungen, Erpressungsversuchen oder durch seine Ignoranz verletzen. Aber der Vater ist tot, jede Chance, ihm einmal auf andere Art und Weise begegnen zu können, gehört endgültig der Vergangenheit an. Sie weiß das, aber dennoch spürt sie die brennende Sehnsucht, den Hunger in ihr nach dem, was der Vater ihr niemals gab und dass sie niemals von einem anderen Menschen bekommen kann. Diese Endgültigkeit macht ihr sehr zu schaffen. Vom Vater hat sie sich schon vor vielen Jahren abgewandt, als sie mehr und mehr seine inzestuösen Übergriffe erkannte. Vom frühen Mangel in ihr kann sie sich aber nicht trennen, er ist das Erbe des Vaters, das einzige, was er ihr hinterließ. Der Mangel bleibt als reale Erfahrung und als tatsächliches Defizit in ihrem Körper.

Viele Menschen versuchen immer wieder, den Mangel, das Darben, das sie als Kind erleiden mussten, im erwachsenen Leben zu stillen. Dafür verwenden sie oft andere Menschen: Freunde, Partner oder die eigenen Kinder, als Therapeuten vor allem ihre Patienten. Wer keine nahen Menschen finden konnte, irrt oft sein Leben lang durch die Welt auf der Suche nach etwas, das er gar nicht benennen kann: Mir wird es erst gut gehen, ich kann erst das machen, was ich wirklich möchte, wenn ich gefunden habe, was ich suche. Erst dann kann ich Ruhe finden. Und schließlich gibt es noch diejenigen, die den Mangel in sich gar nicht spüren. Sie nehmen mit Ersatzbefriedigungen vorlieb, flüchten sich (übrigens verständlicherweise) in die lebenslange Sucht oder in eine materielle Gier, die gerade in der Ökonomie unserer Gesellschaft so deutlich zutage tritt.
Die Frage, die oft unmittelbar oder indirekt artikuliert wird, wie kann ich den Mangel des Kindes stillen, wie kann ich heute bekommen, was ich damals brauchte, ist einfach zu beantworten. Man kann es nicht mehr bekommen. Eltern, die nicht lieben und nichts geben konnten oder nur Falsches, etwas, das das Kind nicht brauchte, hinterlassen in uns eine Sehnsucht, die nicht mehr erfüllt werden kann. Wir können unsere Illusionen und unrealistisch geworden Hoffnungen mit der Zeit durchschauen und auflösen, die Sehnsucht nach der entscheidenden Liebe aber ist hartnäckig. Sie ist eine offene Wunde, über die mit der Zeit ein dünnes Häutchen wachsen kann, das aufreißt, sobald in der Gegenwart die Wunde angerührt wird. Dies kann der Tod der Eltern sein, aber auch ein Treffen nach Jahren des Abstands oder auch nur ein Brief, der plötzlich von einem Elternteil kommt. Oder ein Mensch wird von einem anderen verlassen und steht sogleich wieder vor dem gesamten Kummer des Kindes, das er gewesen ist.

Es mag entscheidend sein, ob wir in der Lage sind, diesen Gefühlen und der Sehnsucht in uns Raum zu geben, denn diese erzählt ja die ganze Geschichte des Kindes mit den Eltern, die wohl umso verheerender war, je stärker die Sehnsucht geblieben ist. Das Gefühl des Hungerns ist ja der Beweis dafür, dass das Kind nichts bekommen hat, dass es niemals satt werden durfte. Da die wenigsten Mensch täglich und rund um die Uhr sadistisch sind, da auch sexuell missbrauchende Eltern phasenweise klare Augenblicke haben können, taucht bei dem Versuch, sich von den Eltern zu lösen, unweigerlich die Erinnerung an solche “normaleren” Momente auf. Das Kind im Erwachsenen kann mit Inbrunst weiterhin zum Beispiel die schlagende Mutter verteidigen: Aber da, an diesem oder jenem Tag, da ist sie doch anders gewesen. Solche Momente schürten die Hoffnung in der Kindheit. Diese wenigen Augenblicke können wie Versprechungen sein, auf deren Einlösung ein Mensch die längste Zeit seines Lebens wartet. Sie reichten jedoch nicht, um für das spätere Leben eine Basis zu schaffen.

Die Integration unserer Geschichte als Kind ist in meinen Augen in diesem Zusammenhang das wachsende Bewusstsein über die konkrete Not, die wir als Kinder litten, und vor allem die Fähigkeit, die aus der Kindheit stammenden Gefühle zu verstehen. Wenn ich meine Reaktionen, Handlungen, Entscheidungen und Gefühle selbst verstehe, kann ich mir oder dem Kind in mir etwas geben, das die Eltern immer versagt haben. Dies behebt nicht den frühen Mangel, weil dieser in der Vergangenheit bereits stattgefunden hat, aber die reifende Kommunikation mit sich selbst führt dazu, dass ein Mensch zunehmend weniger sein Unglück bei anderen deponieren oder mit anderen wiederholen muss. Das Verständnis für die eigene Geschichte bringt einen Zuwachs an Autonomie mit sich.
Ich habe in Gesprächsgruppen oft erlebt, dass manche Teilnehmer einige Jahre lang immer wieder thematisierten, wie einsam sie sich fühlten, wie stark sie unter Depressionen litten, wie sehr sie Hilfe brauchten. Auch wenn die Gruppe stets auf diese Not einging, veränderte sie sich nicht im geringsten. Dies war auch nicht möglich, solange der Betreffende den Standpunkt vertrat, der Blick auf die Details in der Kindheit sei zu schmerzlich oder unnötig, weil die Vergangenheit nicht mehr zu ändern sei. Wenn ein Mensch nicht sehen kann oder will, wie die Eltern gewesen sind, in welchen Verstrickungen er als Kind gefangen war, worunter er genau gelitten hat, wird er immer wieder von anderen die Rettung erwarten, auf die er als Kind so sehr hoffte. Die Zeit, in der Rettung möglich gewesen wäre, ist aber vergangen. Heute kann uns niemand das Verständnis für das Kind, das wir waren, abnehmen. Dieses Kind in seiner Verzweiflung durfte die Eltern nicht sehen, wie sie wirklich gewesen sind, es musste blind bleiben und war auf die Rettung von außen angewiesen. Heute braucht der erwachsene Mensch keinen Retter oder Erlöser mehr, weil er die Blindheit aufgeben kann.

Die Hoffnung, die aus der Kindheit stammenden Schmerzen mögen nie wieder auftauchen, ist trügerisch. Logischerweise schmerzt eine Wunde, wenn sie berührt wird, denn der frühe Mangel ist im Körper als Erfahrung gespeichert und nicht auszuradieren. Die Schmerzen über die Versagungen, die wir erlitten haben, können jederzeit auftauchen und werden gelindert, sobald wir in der Lage sind, diese zu verstehen und auszudrücken. Dabei kann man die Erfahrung machen, dass dies ein ganz natürlicher Vorgang ist, für den geschwollene psychotherapeutische Theorien nicht erforderlich sind. Ein Gefühl wird ausgelöst, es ist da, und es verändert sich auch wieder. Zunehmend wird mehr Raum frei für die Gegenwart. Ein Teil dieser Gegenwart ist eben die Vergangenheit, die Geschichte des Kindes mit seinen Eltern.

Je traumatisierender die Kindheit gewesen ist, um so größer die Trauer über die ruinierte Lebenszeit. Viele Menschen sind Jahre damit befasst, Entwicklungen nachzuholen, die ihnen in der Familie hätten ermöglicht werden müssen. Während andere ihre Existenz gründen, müssen sie kämpfen, um gleichsam wenigstens einen Fuß auf den Erdboden zu bekommen. Ihr Leben steht oftmals unter einem “zu spät”, das ihnen auch von der Realität der Gegenwart aufgezwungen wird. Es wäre erstaunlich, wenn in diesem Zusammenhang keine Gefühle des Zorns oder der Trauer aufleben würden. Nur Menschen, deren Emotionen völlig versteinert sind, fühlen in diesen Situationen nichts. Die Gefühle verlieren aber ihren Schrecken, je vertrauter man mit ihnen wird, je besser ein Mensch sich selbst versteht. Vor diesem Hintergrund ist es nicht nur Betrug sondern auch ein Hohn, wenn die selbst erklärten professionellen oder nicht-professionellen Gurus mit dem Wort “Heilung” suggerieren, man könne den Schmerz über die beschädigte Biographie ein für alle mal loswerden oder die Vergangenheit abstreifen wie ein altes Kleidungsstück. Ich habe meine Vergangenheit hinter mir gelassen, wird oft gesagt. In Wahrheit aber begleitet uns die Vergangenheit das ganze Leben, sie ist einfach ein Teil unseres Lebens.

Die Frau, die ihren sterbenden Vater nicht begleiten wollte, sah immer wieder das Bild dieses alten, hinfälligen Mannes vor sich, der auch in der Stunde seines Todes von der Tochter so verlassen wurde. Der Vater war einen langen und qualvollen Tod gestorben. Sie empfand starkes Mitleid mit diesem Mann, sie spürte in sich die Einsamkeit seines Lebens und fragte sich, ob es ihr nicht hätte gleichgültig sein sollen, wenn der Vater ihren Besuch am Sterbebett als Versöhnung verstanden hätte, die sie ihm nicht geben wollte. Sie musste auch denken, dass sie zwar unter den psychischen Störungen des Vaters schrecklich gelitten hat, kein Mensch aber seine seelische Erkrankung verschulde. Bis sie merkte, dass sie erneut die Verantwortung für das Leiden des Vaters übernahm, die dieser immer abgelehnt hatte. Ihr war nicht nur der Mangel hinterlassen worden, sondern ihr Erbe bestand gleichsam auch aus einem riesigen Sack voller Unglück aus dem Leben der Eltern. Sollte sie diese Bürde noch weiterhin mit sich herumschleppen? Sie sah wie im Überblick die Familie, aus der sie stammte, sie sah, wie sehr sie aufgrund der Kindheit in eine Kette ständiger gegenseitiger Verletzungen verstrickt war, die sie als Erwachsene nur unterbrechen konnte, indem sie den Eltern mit dem Abbruch des Kontakts erneut weh tat. Dieses Verhalten hatte sie aber nicht freiwillig gewählt, es war ihr von den Eltern aufgezwungen worden. Nicht sie war lieblos gewesen, im Gegenteil, als Kind hatte sie ihre Liebe dem Vater immer wieder angeboten, dieser aber hatte die Gefühle seiner kleinen Tochter allzu oft missbraucht oder weggeschlagen. Die Frau sah, dass sie mit dem Unglück des Kindes, das sie gewesen war, genug zu tragen hatte. Sie war als Kind so schmerzhaft verletzt worden, dass sie sich als Erwachsene in Sicherheit bringen musste. Sie war genötigt, ihre ganze Kraft dafür aufzuwenden, um für ihr eigenes Leben zu kämpfen. Dies war eine zwangsläufige Folge der frühen Geschichte mit ihren Eltern. Sie konnte und wollte sich nicht noch mehr abverlangen. Sie hätte ihren Vater gerne von Herzen geliebt, es war ihr aber nicht möglich gewesen und sie verstand die Gründe dafür.

Man kann nicht mit einem Satz aus der Lebensspur, die die Eltern vorgeprägt haben, aussteigen und plötzlich frei und froh ein ganz anderes Leben führen. Das unglückliche Kind wird in dieser Frau weiterhin anwesend sein, sie darf es gar nicht in sich umbringen, weil sie so viel Zeit hatte aufwenden müssen, um diesem Kind überhaupt begegnen zu können. Ihre Geschichte mit den Eltern ist nicht mehr zu ändern, doch es liegt an ihr, immer wieder die lebensfeindlichen Botschaften zu identifizieren, die ihr die Eltern mit auf den Weg gegeben haben. Je mehr sie dabei mit sich selbst identisch wird, um so größer ist die Chance, die Freiräume, die sie sich bislang erarbeitet hat, zu erweitern. Sie kann nicht wissen, ob das Gefühl des Heimwehs nach dem, was sie nie hatte, jemals dadurch gelindert wird, indem sie sich heute ein Zuhause schafft, wie es einem erwachsenen Menschen mit einer gesunden Kindheitsgeschichte eigentlich möglich ist. Sie kann aber versuchen, dieses Ziel nicht zu früh aufzugeben. Es geht ja vor allem darum, in sich selbst zu Hause zu sein. Sie spürt auch immer deutlicher, dass ihre innere Zerrissenheit gegenüber den Eltern zwischen Sehnsucht und Abscheu, zwischen Angst und Hoffnung, stark der Spaltung des Vaters entsprach, der sie mal mit Liebesbeteuerungen überschütten, im nächsten Augenblick aber auch seinen Jähzorn an ihr auslassen konnte. Mochte der Vater geglaubt haben, seine Tochter zu lieben, die erwachsene Frau weiß, dass es nicht ihre Schuld war, wenn diese Liebe oft eher wie ein Gift gewesen war, dass ihr eingeflößt wurde.

Ich glaube, dass es ein sehr natürliches Bedürfnis auch des erwachsenen Menschen ist, die alten Eltern zu besuchen, Zeit mit ihnen zu verbringen, mit ihnen zu sprechen und ihre Gegenwart zu genießen. Manche Menschen haben von ihren Eltern trotz aller Konflikte etwas bekommen, wovon sie immer zehren werden. Sie wurden als die, die sie sind, wahrgenommen und akzeptiert. Sie mussten die Eltern nicht ständig vor ihren echten Gefühlen und Bedürfnissen verschonen und diese hinter einer Maske verbergen.
Denjenigen, denen dies nicht gegönnt war, bleibt oft nur die Wahl, entweder die Verstellung aufrecht zu erhalten oder aber den Kontakt mit den Eltern zu meiden, um nicht immer wieder verletzt, verwirrt oder in eine Depression geworfen zu werden. Sie stehen also vor zwei Übeln: Die Verstellung schadet ihnen, weil die jahrelange Heuchelei fortgesetzt wird, die Trennung schmerzt, weil auch die Gefühle des Kindes mit diesem Entschluss des Erwachsenen Schritt halten müssen. Der durchaus berechtigte Hass auf die Eltern kann dabei zunächst wie ein “Sprungbrett” wirken, das die Trennung erleichtert. Aber die ganze Geschichte mit den Eltern wird erst dann fassbar, wenn alle Gefühle des Kindes, die Sehnsucht, die Verzweiflung über die ausgebeutete Liebe, die Selbstvorwürfe, kein besserer Sohn oder keine bessere Tochter gewesen zu sein, zum tragen kommen dürfen. Erst dann wird spürbar, wie sehr schon das kleine Kind unter seiner inneren Zerrissenheit gelitten hat, die das Verhalten der Eltern produzierte.

Dies ist ein mühsamer Prozess, mit dem oft nicht nur ehemals schwer misshandelte oder sexuell missbrauchte Kinder konfrontiert sind. Manche Menschen werden in eine Familie geboren, die mit ihnen auch beim besten Willen nichts anfangen kann. Sie sind wie “Kuckuckseier” in einem fremden Nest. Sie verunsichern ihre Eltern von Anfang an mit ihren Bedürfnissen und ihrer Wesensart, die bekämpft oder torpediert wird. Eine Kommunikation zwischen Eltern und Kind ist unmöglich und so kann es eine Frage der Zeit sein, wie lange der erwachsene Sohn oder die Tochter diesen Zustand der absoluten Sprachlosigkeit in der Familie weiterhin erträgt, ohne sich selbst damit zu blockieren und zu verletzen. Was haben mir meine Eltern denn getan, sie können doch gar nicht anders sein als sie sind, sagen die Schuldgefühle. Doch das Fremd-Sein in der Familie mag ein so quälender Zustand werden, dass keine andere Wahl bleibt, als diesen zu beenden. Sich der Kindheit in all ihren Facetten bewusst zu werden, erfordert oft Jahre, und so kann es sein, dass die Lebenszeit der Eltern darüber vergeht. Dies verlangt dem Erwachsenen einiges ab und führt ihn immer wieder zu der Zwangslage des kleinen Kindes, das es den Eltern so gerne recht gemacht hätte, sich dazu aber niemals imstande sah.

In vielen Fällen wendet sich nur ein erwachsenes Kind von den Eltern ab, während die Geschwister um so mehr zu Vater und Mutter halten. Wenn ein Mensch fühlt, den Kontakt zu den Eltern nicht mehr tragen zu können, verliert er sehr häufig auch den Bruder oder die Schwester, obwohl er dies gar nicht beabsichtigt hat. In gestörten Familien existiert in der Regel ein rigides System, das ins Wanken gerät, sobald ein Mitglied aus diesem System auszubrechen versucht. Es entsteht eine gewisse Panik, weil die Realität der Familie sichtbar zu werden droht. So muss derjenige, der die Familie verlässt, als Sündenbock herhalten: Er ist das personifizierte Böse, der die alten Eltern ohne Moral und Anstand im Stich ließ, während sich die Geschwister geradezu als Heilige sehen wollen, die ihre Zeit und ihr Leben den Eltern zum Opfer bringen, weil dies ihre Pflicht sei. Indem die Geschwister buchstäblich den Teufel an die Wand malen, schützen sie sich vor der Realisierung ihrer eigenen Vergangenheit, schonen die Eltern, indem sie den Hass auf den Bruder oder die Schwester übertragen, und helfen den Eltern, den “bösen Sohn”, die “böse Tochter” als schwarzes Schaf zu sehen: undankbar, ausgestattet mit einem schlechten Charakter. In solchen Familien wird sehr selten die Frage gestellt: Warum bist du gegangen? Vielmehr wird verurteilt und Schuld zugewiesen, um das brüchige System aufrecht erhalten zu können. Der Erwachsene, der die Trennung von den Eltern braucht, hat das Gefühl, nun alles zu verlieren, vollkommen allein auf der Welt, mit nichts in den Händen dazustehen. Aber in Wahrheit hat es ja nie eine echte Familie gegeben, ein wirklicher Verlust findet nicht statt, eher der Zugewinn einer schmerzhaften Erkenntnis, da war ja nie etwas. Und das ist die eigentliche große Wunde.

Alle Gefühle, die ein Erwachsener gegenüber Vater und Mutter empfindet, sei es Liebe oder Hass, Abscheu oder Zuneigung, Ekel und Angst, haben immer ihre Wurzel in der spezifischen Geschichte des Kindes mit den Eltern. Ein Kind hat niemals die Chance, diese Geschichte zu beeinflussen oder zu verändern. Eine schlechte Geschichte wird ihm aufgezwungen. Auch der Erwachsene kann diese oftmals nicht wirklich zu einem guten Ende bringen, denn der schmerzhafte Ausgang der Geschichte mit den Eltern war längst vorgezeichnet. Es kommt sehr drauf an, wie viel Eigenes ein Mensch in sich hat retten oder aufbauen können, wie viel Bewusstsein und emotionales Verständnis er für seine Biographie entwickelt, um seine authentischen Bedürfnisse nach und nach stärken und verwirklichen zu können, auch ohne die entscheidende Lebenssubstanz, die Grundlage für die Existenz, die die Eltern ihm in der Kindheit hätten schaffen müssen, aber (sei es bewusst, sei es unbewusst) versagt haben.
Die verlorenen Söhne und Töchter werden im Gegensatz zum Evangelium des Lukas keine Feste mit den Eltern feiern, sie bleiben den Eltern in den meisten Fällen verloren und sie werden oft darum ringen, gerade nicht als “Tagelöhner” zu leben, denn genau deshalb, weil sie so lange “Tagelöhner” waren, haben sie ja ihre Familie verlassen. Entscheidend ist wohl, dass sie sich selbst nicht verloren gehen.

© Thomas Gruner, August 2004