Der Fall Jessica

von Alice Miller

Der Fall Jessica
Thursday 01 September 2005

Dieser Artikel wurde dem Spiegel angeboten, aber die Redaktion hat ihn nicht publizieren können, weil “wir die Affäre Jessica schon so erschöpfend behandelt hatten”. Damit werden solche “Affären”, wie auch kürzlich der Mord an den 9 Kindern, abgeschlossen, ohne dass die Presse die Gelegenheit benutzt, aus solchen Fällen Schlüsse zu ziehen und die Leser über die Gründe der angeblich unbegreiflichen Morde aufzuklären.

Es geschah nicht während des Krieges, nicht in der Dritten Welt, nein, es geschah mitten in Europa, in einem der kultiviertesten Länder. Da haben die Eltern im Jahre 2005 ihr kleines Mädchen namens Jessica verhungern und schließlich sterben lassen. Sie sahen seelenruhig zu, wie das Kind sogar eigene Haare und Stücke aus der Matratze aß, um seinen Hunger zu stillen, aßen dabei selber alles, worauf sie Lust hatten, tranken reichlich Alkohol dazu, ließen es sich schmecken, und taten bis zuletzt nichts, um das Leben des Kindes zu retten.

Es ist begreiflich, dass die meisten Menschen meinen, man könne sich diesen bodenlosen Hass auf ein Kind überhaupt nicht erklären, obwohl das Gegenteil wahr ist. Diese extreme Grausamkeit wird von der breiten Öffentlichkeit als völlig unverständlich empfunden, und die Journalisten rätseln über das “Unbegreifliche”. Erstaunlich ist aber, dass auch die Gutachter feststellen, sie würden diesen Fall nirgends einordnen können, obwohl doch die Presse fast täglich von perversen Kindesmisshandlungen berichtet. Doch die Frage nach deren Ursachen wird dort ebenfalls selten gestellt. Man bekommt den Eindruck, dass es eine wortlose Übereinstimmung darüber gibt, das Thema der Ursachen nicht zu berühren.

In den Gutachten der Psychiater fällt dieses Tabu sehr stark auf. Sie sagen nicht, was sie absolut wissen müssten, nämlich, dass die Grausamkeit des späteren Verbrechers in seiner Kindheit produziert wird, zu der entscheidenden Zeit der Ausbildung seines Gehirns. Ist es denkbar, dass sie es nicht wissen? Doch gerade am Falle Jessicas kann man dies deutlich erkennen und zeigen, zu welchen Folgen übliche Kindesmisshandlungen wie Schläge und Verwahrlosung in der Kindheit der Täter später führen konnten.

Eine Schulkameradin der Mutter Marlies erzählte, dass diese als Kind sehr verstört gewesen war, sie stotterte, sabberte, zitterte und kam immer total verängstigt in die Schule. Auch Marlies selber erwähnte wichtige Einzelheiten, z.B. dass ihre Mutter zugeschaut hatte, als der Großonkel sie als Kind sexuell belästigte und dass sie sie niemals in Schutz genommen hatte. Angeblich erfuhr man auch von einer Verwandten, dass das sechsjährige Kind mit den Eltern in deren Bett Pornofilme hatte anschauen müssen. Marlies hat zweifellos nicht nur ein großes Trauma erlebt, das die Gutachter angeblich nicht fanden, sondern ihre ganze Kindheit hindurch extreme Grausamkeiten erfahren, die sie mit der Gefühllosigkeit abzuwehren versuchte. Doch schließlich rächte sie sich für die Hölle ihrer Kindheit an der kleinen Jessica. Mit diesem Hinweis will ich nicht sagen, dass sie kein Verbrechen beging, sie beging ein entsetzliches Verbrechen. Wie jedes Kind liebte sie ihre Mutter, doch sie durfte sich nie gegen diese wehren, und ihre ganze, jahrelang aufgestaute und nie erlebte Wut auf die Mutter entlud sich an dem kleinen Mädchen, deren langsames Sterben sie offenbar sadistisch genoss, wie ihre Mutter einst ihre Leiden genossen haben dürfte. Sie quälte Jessica ganz einfach für das, was ihre Mutter ihr einst angetan hat. Marlies’ Partner erzählte, sie hätte die Verwahrlosung Jessicas als “Verteidigungsmaßnahme” verstanden. Dieses Wort trifft den Sachverhalt sehr genau. Viele Mütter wehren sich erst bei ihren Kindern für das einst erfahrene Unrecht. Marlies ist natürlich trotzdem schuldig und wird dafür bestraft werden.

Die verwirrenden Äußerungen der Gutachter, die die Ursachen der Verbrechen verschleiern oder gar leugnen, hinterlassen den Eindruck, dass ihnen ihre große Verantwortung kaum bewusst ist. Ein Psychiater, Professor und Gutachter gilt als Autorität. Was geschieht mit seinen Äußerungen, wenn er selbstbewusst und leichthin erklärt, dass er nicht an traumatische Ursachen der Verbrechen glaubt, als ob es sich hier um seinen privaten Glauben handelte und nicht um handfeste Beweise, die nun endlich ausnahmsweise vorliegen.

Man muss nur die Fakten und Ursachen von der Frage der Schuld trennen. Eine Mutter, die tötet, ist zweifellos schuldig, weil sie erwachsen ist und eine Wahl hatte. Nur als Kind war sie ein hilfloses Opfer, aber als Erwachsene ist sie es nicht mehr. Ein Fachmann könnte hier Klarheit schaffen, zum Zwecke der Aufklärung und zur Verhütung künftiger Verbrechen, er könnte das Gericht und die Bevölkerung darüber informieren, wie es zu extremer Grausamkeit immer wieder kommt. Dies nicht zu tun, die Bevölkerung, die Medien und die Gerichte nicht richtig zu informieren, ja, sie sogar zu verwirren, bedeutet zwar noch keine Straftat, aber eine schwerwiegende Unterlassung auf jeden Fall.

Die Grausamkeit eines Menschen wird ihm nicht vom Himmel zugeteilt, sondern von seinen Eltern und Erziehern, sie BILDET sich im Gehirn eines Kindes aus, das auf grausame Weise behandelt wird. Dieses bereits etablierte Wissen, dem wir uns heute nicht mehr entziehen können, müsste eigentlich zum ABC der forensischen Psychiatrie gehören, es darf auf keinen Fall länger verheimlicht oder bagatellisiert werden, wenn wir Infantizide und andere Verbrechen für die Zukunft verhüten wollen.

Auf der ganzen Welt gibt es nämlich Abermillionen Mütter und Väter, die ihre Eltern und Ahnen lieben und ehren, die ihnen die Schläge und Misshandlungen niemals nachtragen, diese sogar für richtig und harmlos erachten und daher das gleiche mit ihren Kindern praktizieren. Um sich von ihrer unterdrückten Wut und der daraus folgenden dauernden Spannung zu befreien, benutzen sie ihre wehrlosen Kinder, sehr oft ohne dies zu realisieren. Am Falle Jessica könnten sie ihr Verhalten zu verstehen lernen und vielleicht auch etwas daran ändern. Dafür bräuchten sie die Unterstützung von mutigen, verantwortungsvollen Fachleuten, Gutachtern und Berichterstattern.

Das Entsetzen über Jessicas schrecklichen Tod hätte zweifellos einigen Menschen die Augen öffnen und sie zu der Frage führen können, wie es dazu kommen kann, dass Eltern so oft ihre Kinder hassen und misshandeln. Doch soviel ich weiß, wurde in der öffentlichen Diskussion kaum etwas getan, um junge Eltern mit diesen Fragen zu konfrontieren. Es wurden stattdessen nichts sagende, ausweichende und unverbindliche Äußerungen von Gutachtern vorgelegt. Doch vielleicht ist es noch nicht zu spät. Junge Eltern haben immer noch die Chance, dank diesem Prozess um den Fall Jessica vieles über die Produktion der Gewalt zu lernen, wenn sie von ernsthaften und gut informierten Fachleuten begleitet werden. Und das ist dringend nötig, denn Jessicas Tragödie ist kein Einzelfall, sie ist die Spitze des Eisberges, der nicht länger verborgen bleiben darf.