Frenzy

von Thomas Gruner

Frenzy
Tuesday 01 March 2005

Kindheit, Hass und der Zwang zu töten: “Base Instincts – What Makes Killers Kill?”
von Jonathan Pincus

Der bekannte Hollywood-Regisseur Alfred Hitchcock gab seinem letzten, in den siebziger Jahren produzierten Film den Titel “Frenzy” und beschrieb damit den Zustand des Protagonisten, eine besondere Spielart des Wahns, der diesen zwang, Frauen zu erwürgen. Gerade die Populärkultur stellt häufig Menschen dar, die aus den moralischen Übereinkünften herausfallen und scheinbar grundlos grausame, auch schwer nachvollziehbare Verbrechen begehen. Ein weiteres Beispiel hierfür ist etwa der Film “Das Schweigen der Lämmer”: der Mörder Hannibal Lector, der seine Opfer häutete und verspeiste. Das große Publikumsinteresse an dieser Thematik reflektiert, ungeachtet der Intentionen der Unterhaltungsindustrie, dass die (landläufig sogenannten) >Verrückten, Durchgeknallten und Irren< auf viele Menschen eine seltsame Faszination ausüben; es scheint so, als ob sie uns etwas mitteilten, das rätselhaft bleibt, uns aber doch etwas angeht, wenn auch nur aus weiter Ferne.

Der amerikanische Neurologe Jonathan Pincus befragte zahlreiche gewalttätige Kriminelle und Serienmörder, die in amerikanischen Gefängnissen auf die Vollstreckung der Todesstrafe warteten. Meist wurde er von der Verteidigung beauftragt, durch neurologische Untersuchungen Material zu liefern, das helfen könnte, die Todesstrafe in eine lebenslängliche Haft umzuwandeln.
Pincus war von Beginn seiner beruflichen Laufbahn an interessiert, die Ursachen extremer Gewalttätigkeit zu untersuchen. Hierbei konzentrierte er sich zunächst nicht unbedingt auf die Familiengeschichte der einzelnen Häftlinge. Er erwartete kein bestimmtes Ergebnis, sondern offenbar erschloss sich ihm selbst erst allmählich das Ausmaß der an Kindern verübten Misshandlungen und ihrer Langzeitfolgen. Die Resultate seiner Befragungen stellte der Autor 2001 mit seinem Buch “Base Instincts” der amerikanischen Öffentlichkeit vor.

Die Interviews mit Gewaltverbrechern, “serial killers” und ihren Familienangehörigen lieferten ohne jede Ausnahme schlüssige und eindeutige Beweise dafür, dass:

1. sämtliche Täter in ihrer Kindheit extremer körperlicher und sexueller Gewalt durch die Eltern ausgesetzt waren,
2. der konkrete Ablauf der Morde überwiegend ein Spiegelbild der als Kind erlittenen Brutalität darstellt,
3. die Kontrolle der seit der Kindheit aufgestauten Aggressionen und überbordenden Hassgefühle nicht durch einen genetischen Defekt, sondern durch Fehlentwicklungen und Schädigungen verhindert wird, die bereits das Gehirn des kleinen Kindes als Folge brutaler Misshandlung oder schon während der Schwangerschaft aufgrund des Drogenkonsums der Mutter davontrug,
4. Armut und soziale Verelendung das Ausagieren aggressiver Impulse verstärken und fördern können, aber nicht verursachen (denn ein nicht kleiner Teil der Serienmörder stammt aus weißen Mittelstandsfamilien, die Produktion von Hass und Perversionen betrifft also alle gesellschaftlichen Schichten),
5. den Morden ein starkes Bedürfnis nach Rache und Vergeltung für das eigene erlittene Unrecht zugrunde liegt,
6. alle Täter es nicht wagten, ihre misshandelnden Eltern eindeutig anzuklagen, die selbst erlittene Gewalt zu verurteilen, auch wenn ihnen Fakten aus der Kindheit bekannt waren,
7. die im Zusammenhang mit den Taten ausagierten sexuellen Perversionen identisch waren mit den Perversionen der Eltern, deren Opfer das Kind einst wurde,
8. die Biographie der Mörder eine Art geschlossenes System des Schreckens darstellt, der an die Gesellschaft zurück gegeben wird, indem Unbeteiligte und ihre Angehörigen ebenso gequält werden und leiden müssen, wie ehemals das Kind.

Pincus argumentiert frei von psychotherapeutischen oder ideologischen Dogmen. Er stellt einfache, aber klare Fragen und bringt damit eindeutige und leicht zu verstehende Antworten zum Vorschein. Mir ist nicht bekannt, welches Echo das Buch in der amerikanischen Öffentlichkeit gefunden hat. Es enthält natürlich eine Provokation, weil es den amerikanischen Mythos der glücklichen und heilen Familie in Frage stellt und zeigt, dass die Zerstörung der Gesellschaft auch von innen heraus, in der Familie ihren Anfang nimmt. Nahezu gar nichts ist heil im Paradies: Vielleicht war der Autor über diesen Befund selbst erschrocken. (Ich fand lediglich den Kommentar eines deutschen Forensikers, der offenbar die seltsame Auffassung vertritt, die von Pincus dokumentierten Fakten seien erstens längst bekannt und zweitens müssten sie unwahr sein, denn ein derartiges Ausmaß an Kindesmisshandlungen könne es nun einmal nicht geben.)
Der Wert dieses Buches ist, wie ich meine, weniger in seinen Ergebnissen zu sehen (die in der Tat längst Bestandteil des Allgemeinwissens sein sollten, aber eben noch häufig ignoriert oder verspottet werden), sondern vielmehr in der Beweiskraft, der zwingenden Logik der von Jonathan Pincus präsentierten Biographien. Entscheidend dabei ist, dass diese Logik auf jede Lebensgeschichte eines in der Kindheit misshandelten oder vernachlässigten Menschen übertragbar ist. Die Biographie ist immer ein Spiegel der Kindheit, ein Mensch lebt genau so, wie mit ihm einst umgegangen wurde. Das Leben des Erwachsenen erzählt in all seinen Facetten gleichsam die Geschichte des Kindes, das er war.

In der Frage der Behandlung der schweren Perversionen und ungeheuer aggressiven Impulse konzentriert sich der Autor mehr auf die Verabreichung von Medikamenten, was insofern einleuchten könnte, als das Gemeinwesen, aber auch Mithäftlinge gerade vor Serienmördern zunächst geschützt werden müssen. Das Buch lässt die Frage offen, ob und in welchem Maße extreme seelische und mentale Schädigungen tatsächlich “geheilt” werden können. In einem anderen Zusammenhang, nämlich bei der Lektüre der Briefe Jürgen Bartschs an den Journalisten Paul Moor, drängte sich mir immer wieder die Frage auf, ob Bartsch den Zwang zu mörderischen Inszenierungen nicht hätte auflösen können, gerade weil er seiner Kindheitsgeschichte näher kam und offenbar ein echtes Entsetzen über seine eigenen Verbrechen zum Ausdruck brachte. Ich frage lediglich, eine Antwort gibt es nicht. Wie Jürgen Bartsch später mit dem Bewusstsein seiner Schuld hätte weiter leben können, entzieht sich dabei meiner Vorstellungskraft (Moor, Paul: “Jürgen Bartsch – Selbstbildnis eines Kindermörders”; Reinbek bei Hamburg 2003, Rowohlt Taschenbuch).
Den Aspekt des Umgangs mit der Destruktivität halte ich in jedem Fall für entscheidend, denn diese artikuliert sich ja nicht nur in Morden oder durch Gewalt gegenüber den eigenen Kindern, sondern oft auch in selbstzerstörerischen Verhaltensmustern, deren Wurzeln sehr wahrscheinlich ganz am Beginn eines Menschenlebens zu suchen sind, einer Zeit, die der herkömmlichen Erinnerungsfähigkeit nicht zugänglich ist. Wir stehen noch sehr am Anfang der Überlegung, was einer so frühen und hartnäckigen Prägung entgegen gesetzt werden kann. Sicher geht es um die Identifikation mit dem eigenen Kinderschicksal, aber das einst Erworbene, Aufgezwungene wird doch später nicht einfach verlernt, vergessen oder außer Kraft gesetzt.

Pincus zeigt allerdings, dass eine Entwicklung zur Gewalttätigkeit in vielen Fällen rechtzeitig verhindert werden könnte. Dies belegt anschaulich die von ihm beschriebene Arbeit einer “Social Health”-Organisation im amerikanischen Bundesstaat Hawaii, die sogenannten Problemfamilien über einen längeren Zeitraum eine intensive sozialtherapeutische Betreuung anbot, wodurch bereits bestehende massive Verhaltensauffälligkeiten der Kinder einer erstaunlichen Veränderung zugänglich waren. Die Eltern erhielten Hilfen im Umgang mit ihren eigenen Aggressionen, ihnen wurde überhaupt erst vermittelt, dass Kinder Bedürfnisse haben, die beantwortet werden müssen.
Wenn diese keineswegs tiefenpsychologisch orientierte Unterstützung in relativ kurzer Zeit eine produktive Entwicklung in Gang setzte, wie effizient könnte sich erst eine Gesellschaft selbst helfen, wenn sie das Wissen um die verheerenden Folgen der Kindesmisshandlung endlich zulassen und entsprechend notwendige Angebote der Hilfe konzipieren und finanzieren würde. Dass die gegenwärtigen Systeme daran kein Interesse haben, weil die vorhandenen Reichtümer lieber weiterhin von einer relativ kleinen Kaste vergeudet werden sollen, liegt auf der Hand und bedarf keiner Diskussion.

“Base Instincts” erschien noch nicht in deutscher Sprache, deshalb war es mir wichtig, das Buch auf dieser Webseite ausführlich vorzustellen, auch als Ergänzung zu meinem Artikel “Perversion und Gesellschaft”, der hier im vergangenen Jahr publiziert wurde. Ich habe mich dafür entschieden, die Geschichte des Prostituiertenmörders Whitney Post in Auszügen zu übersetzen, weil dieser von Pincus untersuchte “Fall” ohne die Notwendigkeit von Analysen und Deutungen die von mir eingangs formulierten acht Punkte unmittelbar plausibel macht (Kapitel 6: “Anatomy of Evil”, S. 128 bis 156 der Taschenbuchausgabe). Eigene Kommentare füge ich nur zurückhaltend, in Form kurzer Überschriften, ein.

Auf bizarre Sexualdelikte reagieren die Öffentlichkeit und die Medien mit ostentativ zur Schau getragenem Unverständnis. Spektakulär wird über grausame Verbrechen berichtet, um sie sogleich wieder zu vergessen. Die innere Logik und die Folgerichtigkeit der Gewaltdelikte werden dabei leider übersehen.
Post stellte zu fast allen seinen Opfern zunächst eine Art Vertrauensverhältnis her. Er bat sie in seinen Lastwagen und fuhr mit ihnen in die Außenbezirke seines Wohnortes. Bevor er gewalttätig wurde, nahm er mehrmals die Dienste der Frauen in Anspruch, die sich so im Kontakt mit ihm sicher fühlten und zu weiteren Zugeständnissen im Rahmen der sexuellen Praktiken bereit waren. Da einige Frauen die Übergriffe überlebten, sind Post’s Perversionen bezeugt.
Die Frauen wurden innerhalb eines akribischen Rituals gefesselt, immer so, dass sie ihren Mörder nicht ansehen konnten, die Hände auf dem Rücken, die Beine zusammengebunden. Post’s sexuelles Interesse galt zunächst ihren Füßen. Später schlug er einige Frauen mit verschiedenen Gegenständen, auch seinem Gürtel, blutig. Je lauter eine Frau vor Schmerz schrie, je mehr sie in Panik geriet, umso brutaler wurde ihr Mörder. Er biss und verstümmelte ihre Füße, den ermordeten Frauen trennte er in der Regel schließlich die Füße ab. Einer Prostituierten wurden die Brüste amputiert.
Die Überlebenden stimmen darin überein, dass sie während der Tortur entweder bewusstlos wurden oder in ihrer Todesfurcht in einen ‚dissoziativen’ Zustand gerieten. Sie gaben keinen Laut mehr von sich und dies habe ihnen das Leben gerettet. Bei einigen Opfern entschuldigte sich Post nach der Tat, versuchte sie zu trösten und fuhr sie in die Stadt zurück.

Wie sich Hass entlädt, Post’s erstes Opfer, die Prostituierte Miss Griffith, sagt aus:

“… Als ich ihn bat, er möge nicht so fest zubeißen, machte er genau das Gegenteil. Er biss noch härter zu. Anstatt nur in meine Füße zu beißen, … biss er auch in meine Waden. Es war heftig, und je mehr ich schrie, umso stärker biss er zu. … Ich schrie, ich wand mich, fragte ihn, warum er das mache. Ich sagte ihm, ich würde ihm das Geld zurück geben. Ich erinnere mich, dass ich heiser wurde. Ich kann mich nicht daran erinnern, ob ich mich selbst noch schreien hörte oder ob ich nur den Mund aufriss und keinen Laut mehr von mir geben konnte. … Er biss mich in die rechte Seite meiner Brust. … Er besaß etwas, das scharf genug war, in meine Fußsohle zu schneiden. … Ich konnte das nicht deutlich sehen, aber es sah aus, wie ein Dosenöffner … Er schnitt meine Fußsohle ab. … Er hatte meine Beine und Füße längere Zeit geschlagen. Dann fing er an, meine Fußsohle abzuschneiden. Und er sagte mir, er würde meine Brüste oder mein Gesäß abschneiden und ich sollte mir aussuchen, was mir lieber wäre. Ich wählte den Hintern. … Ich versuchte, zu entkommen, aber ich verlor meine Kräfte. Ich war zu stark gefesselt. Ich erinnere mich, dass ich nass geschwitzt war durch die Versuche, mich zu befreien. Ich erinnere, wie ich meine Energie vollkommen verlor. Dann fühlte ich mich völlig von mir abgespalten. Ich weiß noch, dass ich ab einem gewissen Punkt sehr ruhig wurde und unfähig war, irgendetwas zu sagen oder zu machen. Und dann hörte er auf. … Er löste die Fesseln … und verließ den Wagen. Ich zog mich so schnell wie möglich an. Ich bemerkte, dass meine Füße bluteten, aber ich hatte nichts, um die Blutung zu stoppen. Ich zog einfach meine Strümpfe und Schuhe an. … Dann fragte ich ihn: >Warum hast du das nach der ganzen Zeit, die wir uns kennen, getan? Warum hast du mich laufen lassen?< Und er sagte: >Ich habe in meinem Leben noch niemanden umgebracht.< … Er brachte mich den ganzen Weg wieder zurück und setzte mich da ab, wo ich es wollte. Und dann, als ich aus dem Wagen stieg, küsste er mich zum Abschied auf die Wange. …”

Whitney Post ist Angehöriger der weißen Mittelschicht und zum Zeitpunkt der Befragungen 32 Jahre alt, verheiratet, selbständig tätig. Er ermordete sechs Prostituierte und quälte weitere Frauen. Alle anderen Fakten erzählen er selbst sowie seine Geschwister.

Ein frommes Heim, die Lüste der Eltern und die Panik der Kinder:

“Sein [Post’s] Vater, Hubert, war Pfarrer in einer fundamentalistischen Kirchengemeinde. Das vom Vater angeordnete Lesen und Auslegen der Bibel betraf sämtliche Bereiche des Familienlebens, in dem die Achtung vor den Eltern die oberste Regel darstellte. So sprach Whitney nur ungern mit seiner Mutter, denn wenn er anderer Meinung war als sie, wurde dies als ‚Widerrede’ betrachtet, was zu der Drohung führte: ‚Geh’ in dein Zimmer und warte, bis dein Vater heim kommt.’ Whitney beschrieb sein Zimmer als ein Gefängnis, in dem er auf die Bestrafung zu warten hatte. Manchmal kam Hubert erst Stunden später und in der Zwischenzeit zitterte Whitney aus Furcht vor den zu erwartenden Schlägen.
Die Bestrafung hatte immer einen rituellen Charakter. Wenn der Vater eintraf, zwang er Whitney, auf seinem Bett zu knien oder auf dem Bauch zu liegen, wobei er seine Hände hinter dem Rücken mit einem Gürtel oder Strick fesselte, so dass es dem Jungen unmöglich war, sich zu schützen. Hubert zerrte Whitney’s Unterhosen bis zu den Knöcheln und machte auf diese Weise auch seine Beine unbeweglich. Whitney war es verboten, sich zu bewegen, zu protestieren oder zu weinen, andernfalls hätte er noch mehr Peitschenhiebe riskiert. Whitney musste sein Gesicht in die Kissen drücken, ihm war untersagt, zu sehen, wie der Vater die Hiebe mit dem Gürtel austeilte. Whitney wurde zehn- bis zwanzigmal auf sein Gesäß, den Rücken, die Schenkel und die Fußsohlen geschlagen. Die Schläge dauerten mehrere Minuten und ereigneten sich zwei oder drei Mal wöchentlich in einem Zeitraum von zehn Jahren, zwischen Whitney’s fünften und fünfzehntem Lebensjahr …”
“… Ich interviewte eine der jüngeren Adoptivschwestern, Michelle. … Sie sagte: >Wenn unser Vater uns schlug, endete das immer in einer Art Rausch. Er war immer in einem Rausch. Wir wurden mit einem Gürtel geschlagen. Das waren nicht nur ein paar Schläge, sondern viele, ganz schnell hintereinander … . Du musstest dich hinknien und deine Hände hinter dem Rücken zusammen halten. Nur die Jungs mussten die Hosen für Dad herunter lassen, aber Mom schlug sowohl die Jungen als auch die Mädchen mit den Händen oder einer Fliegenklatsche auf das nackte Gesäß und auf die Füße. Mein Vater schlug mich auch, aber Whitney besonders hart. Man sollte meinen, er hätte sich schlecht gefühlt, nachdem er jemanden so schwer geprügelt hatte. Aber Dad ging völlig darin auf, er genoss es. … Ich betete immer, er möge bei einem Autounfall sterben, bevor er nach Hause käme.< …”

Die Verwechslung von sexueller Ausbeutung mit Zuneigung, der Missbrauch als giftige Nahrung und die allgegenwärtige Heuchelei:

“… Whitney erzählte, seine Mutter nahm einen Kleiderbügel, wenn sie ihn schlug. Sie benutzte einen Kleiderbügel aus Draht wie eine Peitsche, ein bösartiges Instrument. Bei anderen Gelegenheiten disziplinierte sein Vater ihn und die Geschwister, indem er ihre Arme so lange quetschte, bis Blutergüsse entstanden. … Dabei hatte der Vater stets ‚einen irren Blick’. Die Geschwister stimmten überein, dass Whitney für die schwersten Bestrafungen ausersehen war.
Das Familienklima war ausgesprochen missbilligend gegenüber allem, was Sexualität betraf. Weder die Funktion der Geschlechtsteile noch ihr anatomischer Name durften jemals erwähnt werden. Allerdings gab es ein beachtliches verführerisches Verhalten, oft vermischt mit Bestrafungen. Massage war ein Teil des Familienlebens. Es gab in der Familie keinerlei Zuwendung oder Umarmungen, aber Massage bot die Gelegenheit einer gewissen körperlichen Nähe, erzeugte jedoch auch Schmerz, der üblicherweise sexuell aufgeladen war. Hubert war der Masseur seiner Kinder. … Die Massage artete in regelrechte Schläge aus. … Whitney’s Geschwister meinten, sie hätten die Massage genossen, sie sei aber oft sehr schmerzhaft gewesen.
In meinem Gespräch mit der älteren Schwester Susan, sagte diese, ihre Eltern seien äußerst puritanisch gewesen und feindselig gegenüber jenen Bereichen der Anatomie oberhalb der Knie und unterhalb des Bauchnabels. Sie erzählte, ihr Vater versuchte, seine Söhne vor der ‚unverzeihlichen Sünde’ (Selbstbefriedigung) zu bewahren, indem er ihnen heiße Soße auf den Penis schmierte. Sie bezeugte weiter, dass die Hände ihres Vaters während der Massagen in ihre Unterhose wanderten, was sie erschreckte. Susan sagte, sie sei erschrocken gewesen, weil sie >nicht wusste, was geschehen würde<.
Sie lehnte eindeutig ab, dass ihr Vater sich ihr gegenüber auf irgendeine Art und Weise sexuell missbräuchlich verhalten habe. Ebenso offen machte sie gleich zu Beginn des Interviews klar, dass sie nichts sagen würde, was ihren Eltern Leid zufügen könnte. Sie war entschlossen, ihren Eltern jede weitere Peinlichkeit zu ersparen.
Allerdings gab Susan an, dass ihre Mutter gewöhnlich nur mit einem Slip bekleidet in den Hof ging, wobei ihre Brüste, aber auch das Gesäß und die Schamhaare durch den dünnen Stoff sichtbar waren. Als Kinder wurden Susan und eine weitere Schwester, Sherry, von den Eltern genötigt, sich außerhalb des Hauses nackt aufzuhalten. Sie fühlten sich sehr unangenehm dabei, mussten jedoch gehorchen.
Alle Kinder wussten, dass Rodina [die Mutter] ihrem Mann Hubert eine sexuelle Beziehung verweigerte, denn Sex verletzte sie. Sie alle wussten, dass Hubert sich sexuell unbefriedigt fühlte. Ich fand bemerkenswert, dass in einem angeblich puritanischen Haus derartig intime Details der elterlichen Beziehung Allgemeinwissen der Kinder waren.
Michelle zufolge verließ ihr Vater nach jeder Prügelstrafe allein das Haus und kehrte einige Zeit später zurück. An einem Wochenende schlug Hubert die Kinder besonders bösartig und verließ das Haus. Michelle folgte ihm heimlich nach draußen. Hubert ging in einen Schuppen hinter dem Haus und sie sah, wie er onanierte. Zu dieser Zeit war sie ungefähr sieben Jahre alt. Erstaunt ging sie zu ihrer Mutter und fragte: >Was bedeutet es, wenn ein Mann die Hosen offen hat und sein Ding ist draußen und in seiner Hand und er spielt damit?< >Alle Männer sind schrecklich und hässlich<, antwortete Rodina, >und sie tun Frauen ekelhafte Dinge an. Du solltest niemals zulassen, dass sie das mit dir machen oder dich anfassen.<“

Der Sohn als Container der Perversionen der Eltern und die fatale Loyalität:

“Ich war besorgt, ob es mir gelingen würde, etwas über die Herkunft von Whitney’s speziellem Interesse an Füßen heraus zu finden, abgesehen davon, dass beide Eltern ihn auf seine Beine und Füße geschlagen hatten. Er erzählte mir, dass es seine Aufgabe war, die Füße seiner Mutter zu massieren. Ich bat ihn, das zu beschreiben: Seine Mutter lag im Schlafzimmer nur mit einem Slip bekleidet auf dem Bauch und wies ihn an, ihre Füße zu reiben. Er hasste das und bemühte sich, ihre Füße nur so kurz wie irgend möglich massieren zu müssen. Aber sie befahl immer, die Füße weiter zu massieren, wobei sie stöhnte und keuchte. Whitney fühlte sich schrecklich und dachte, dass dies doch eher die Aufgabe des Ehemannes sei. Er konnte aber nicht ablehnen, denn dies wäre ein ‚Widerwort’ gewesen, für das er Schläge bekommen hätte. So war er hilflos verstrickt in einer sexuell sehr aufgeladenen, inzestuösen Situation. …
Whitney berichtete …: >Es war unangenehm, nicht genau so wie die Angst einer Frau vor der Berührung mit einer Schlange, aber ekelhaft.< Er zitterte, als er das sagte.
Whitney erzählte mir, wie er mit den Füssen der Prostituierten masturbierte. Die Frauen waren nackt und lagen bäuchlings oder knieten auf dem Vordersitz. … Dann praktizierte er seinen Penis zwischen ihre Füße.
Ich teilte Whitney mit, dass ich die Auffassung vertrat, in seiner Familie habe erheblicher sexueller Missbrauch stattgefunden, von dem er mir womöglich deshalb nicht berichte, weil er sich nicht erinnern könne. … Er antwortete mir, dass er buchstäblich lieber sterben würde, bevor andere im Detail erfuhren, was seine Eltern ihm angetan haben.”
“… Michelle … erzählte mir, dass sie Zeugin wurde, wie ihr Vater eine weitere Adoptivschwester, Teresa, sexuell missbrauchte. >… Ich ging auf das Haus zu. Meine Schwester Teresa stand da …, gebückt, Dad stand hinter ihr. Er hatte seine Hosen herunter gelassen, Teresa weinte. Ich schrie auf. Mein Vater hielt inne, raffte seine Sachen zusammen und schlug mich. Er sagte: Niemand wird dir glauben. Dann sperrte er mich … ein. Später kam er zurück und schlug mich erneut.<“

Die Unschuld der Eltern und die weiße Weste der Frömmigkeit

“Als ich Hubert mit Michelle’s Bericht konfrontierte, war seine Antwort verwirrt. >Ich glaube das nicht<, sagte er, >Michelle ist nicht ehrlich. Ich kann ihr nicht glauben. … Vielleicht lügt sie nicht immer absichtlich. Vielleicht habe ich damals gerade uriniert.< …
In einem Gespräch machte Hubert deutlich, dass er seinen Sohn lieber hingerichtet sähe, als durch die falschen Anschuldigungen bloß gestellt zu werden, die man gegen ihn, den liebvollen Vater, erheben würde. … Ich erzählte ihm, dass auch Whitney selbst lieber hingerichtet würde, als seinen Vater in Verlegenheit zu bringen. Hubert weinte und schien wie von einer schweren Last erlöst. … Ich fragte ihn: >Sie sagen also, dass Sie nicht getan haben, von dem Michelle und Teresa berichteten, Sie hätten es getan?< Er antwortete: >Wenn ich jemals so etwas getan hätte … Ich habe keine Ahnung, was in Whitney’s Kopf vor sich ging, als er mordete. Ich bin niemals zu Bett gegangen, ohne um Vergebung für die Fehler zu bitten, die mir am Tag unterlaufen waren. Whitney war vom Teufel beeinflusst. Er befolgte nicht die Lehren der Kirche. …<
… Rodina eröffnete unser Gespräch, indem sie erklärte: >Meine Eltern waren gesellschaftlich angesehene Leute. … Mein Vater war aufbrausend. Als ich ein kleines Kind war, holte er aus und verpasste mir eine Ohrfeige, so dass mein Mund blutete. Ich weinte. Mein Vater fühlte sich dabei schrecklich, denn er hatte so ein gutes Herz. Er war ehrlich. Einmal arbeitete ein Mann für ihn auf dem Hausdach und urinierte dort. Mein Vater schlug ihn so heftig, dass ein Krankenwagen gerufen werden musste. … Man glaubte, er wäre tot. … Mein Vater war gebildet und hatte eine schöne Kindheit. …”

Ein rätselhafter Trieb oder die Panik vor den realen Gefühlen des einstigen Kindes?

“Ich versuchte herauszufinden, in welcher Verfassung sich Whitney befand, wenn er mordete. … Er fühlte sich hoffnungslos, hilflos und dass seine Existenz wertlos sei: >Ich drehte mich im Kreis und kam nicht vom Fleck. Meine Geschäfte liefen ganz gut, aber es kam mir so vor, als hätte ich keine Zukunft. Ich brauchte den Kontakt zu Prostituierten. Ich wollte damit aufhören. Ich fühlte mich schuldig. Es war völlig verrückt. Ich war verzweifelt und fühlte mich total verloren.< In der Zeit, als er die Morde verübte, verlor er 33 Pfund an Gewicht. …
Er beschrieb lange Phasen der Depression, wie entmutigt und schuldig er sich fühlte, sich selbst hasste und daran dachte, sich selbst zu verletzen. Alkohol ermöglichte es ihm, sich locker und kühn zu fühlen, dass er sagen konnte, was er wollte, und in der Lage war, sexuell aktiv zu sein. …
Er hatte zahlreiche Narben, deren Herkunft ihm unbekannt war. Eine Narbe ging über den gesamten Unterarm, eine befand sich auf seinem rechten Ellenbogen, eine andere unterhalb des linken Ellenbogens, er hatte eine Geschwulst auf seinem rechten Schenkel und Narben auf seinem rechten Schulterblatt, … an den Seiten, auf dem Rücken, dem Gesäß und den Kniekehlen, eindeutige Folgen von Schlägen. …
Whitney’s diffuses Empfinden, ein Opfer zu sein, wuchs mit der Depression. Seine Perversion wurde dann auch bedrängender und oft fuhr er mehr als ein Mal am Tag in die Stadt, um nach Prostituierten Ausschau zu halten. Er brauchte sie nicht nur für Sex, er wollte sie beherrschen. Wenn er Prostituierte unter seiner Kontrolle hatte, erleichterte dies sein Gefühl, ein Opfer zu sein. … Er selbst war äußerst ambivalent gegenüber den Morden eingestellt. Er versuchte, sich unter Kontrolle zu bringen, und manchmal verhandelte er stundenlang mit sich selbst, während die Prostituierten gefesselt und nackt in seinem Wagen lagen. Ihr Schrecken steigerte aber sein Bedürfnis, sie zu foltern. …”

Ich finde, die Gegenüberstellung dieser kurzen Passagen aus “Base Instincts” macht deutlich, dass Zerstörungs-Lust, Zerstörungs-Wut (als wörtlich zu verstehende Befindlichkeiten) eine Ursache haben und erklärt werden können, was nicht bedeutet, sie zu billigen oder zu verharmlosen. Die von Pincus befragten Menschen beschrieben ihre Verfassung, aber auch die ihrer Eltern während der gewalttätigen Übergriffe gegen das Kind, häufig mit dem Wort “frenzy”, das in der deutschen Sprache mit den Begriffen “Ekstase” oder “Wahnsinn” keine adäquate Übersetzung gefunden hat. Ein “irrer Rausch” oder ein Zustand des “rauschhaften Irrsinns”, ist gemeint, und die Aussagen von Post und seinen Geschwistern zeigen unmittelbar, dass eben genau diese Verfassung schon dem Kind von den Eltern aufgezwungen wurde. Die Seele des Kindes ist gleichsam ein besetztes Land, etwas Eigenes kaum oder gar nicht vorhanden. So bleibt nur die Sprache der Grausamkeit als einzige und letzte Möglichkeit, um später zum Ausdruck zu bringen, was dem Kind einst geschehen ist.
(Indirekt wirft Pincus auch ein bezeichnendes Licht auf Klischeevorstellungen, die etwa Feministinnen so lieb und teuer sind: Kein männliches Kind kommt mit dem Phänomen des Frauenhasses auf die Welt, der eben ein Produkt sehr realer und konkreter Umstände ist. Liest man die Aussagen der Prostituierten, die Post’s Attacken überlebten, drängt sich überdies mit Blick auf Deutschland ganz nebenbei die Frage auf, wie eine Gesellschaft beschaffen ist, die nunmehr die Prostitution zu einem “normalen Beruf” erklärt hat. Niemand kann etwas dagegen einwenden, dass Prostituierte vom Stigma der Sittenwidrigkeit befreit werden und Zugang zu Leistungen der Sozialversicherung erhalten. Aber sind sie Arbeitnehmerinnen wie alle anderen? Ich zweifele. Mir scheinen solche und ähnliche Haltungen bestimmter gesellschaftlicher Gruppierungen vielmehr der Ausdruck einer grundlegenden Verkehrtheit des Fühlens und Denkens zu sein.)

Die Geschichte des Whitney Post ist zugleich die erbärmliche Geschichte eines kleinen Jungen, der in einem lückenlosen System panischer Angst und brachialen Terrors aufwachsen musste. Die zahlreichen von Pincus dokumentierten Biographien brachten mich immer wieder auf den Gedanken, dass es keine an Kindern (auch von Müttern) begangene Grausamkeit gibt, die nicht noch übertroffen werden könnte. Je extremer die Folter, die dem Kind zugefügt wurde, umso bizarrer, abstruser und brutaler die spätere Destruktivität des Erwachsenen. Tatsächlich wird sich eine Gesellschaft auch daran messen lassen müssen, wie sie mit ihren Kindern umgeht.
Amerikanische Gefängnisse und Verwahranstalten beherbergen zahlreiche Serienmörder, so dass von seltenen Einzelfällen nicht mehr die Rede sein kann. Dabei ist von der ebenfalls folgenschweren alltäglichen körperlichen und sexuellen Misshandlung von Kindern, die versteckter stattfindet und eher “vornehmer” ausgeübt wird, noch gar nicht die Rede. Die amerikanische Gesellschaft, macht Pincus’ Buch einmal mehr klar, ist ein von und durch Gewalt traumatisiertes Gemeinwesen. Das zeigt auch die Flut amerikanischer Filme und Serien, die unsere Kinos und Fernsehsender überschwemmen und ganz überwiegend die allgemeine, sozusagen zur Norm avancierte Brutalität thematisieren, mit der das Land nicht fertig wird, weil es die Ursachen und Folgen nicht begreifen kann. Die Ideologie der inzwischen fast vollständig ausgehöhlten Freiheit schützt dabei vor der bitter notwendigen Erkenntnis.

Deutsche Verhältnisse weisen klar in dieselbe Richtung. Berichte etwa über Ausschreitungen von Jungen und Mädchen gegenüber ihren Mitschülern häufen sich. Zeitungen bringen turnusmäßig Reportagen über die Entführung, Vergewaltigung und Ermordung kleiner Kinder. Gar nicht selten liest man in kurzen Nachrichten, eine Mutter oder ein Vater habe in einer “Überforderungssituation” kurzerhand das eigene Baby aus dem Fenster geworfen, weil es schrie. In einer Berliner Tageszeitung befasste sich neulich ein Artikel mit Eltern, die ihre sechs Monate alte Tochter zu Tode prügelten und traten. Ein Psychologe des zuständigen Jugendamtes meinte zu diesem Fall, Gewalt gegen das Kind komme leider immer wieder vor, letztlich könne man ihre Ursache jedoch nicht überzeugend erklären.
Auf die Überflutung des Internet mit privater oder kommerziell hergestellter Kinderpornographie muss ich nicht noch einmal näher eingehen. Häufig wird die Existenz eines nebulösen “Bösen” für die Gewalt verantwortlich gemacht. Gängig ist die Haltung: Das ist alles abscheulich, aber so etwas gibt es nun mal, da kann man nichts machen. Warum können wir uns nicht mehr empören; was ist los mit uns, dass wir ein solches Maß an Zerstörung und Zerstörtheit buchstäblich in unserer Mitte dulden? Oder ist im Hinblick auf den florierenden Wirtschaftszweig “Kinderpornographie und Kinderhandel” in der Tat der Gedanke so selbstverständlich geworden, gleichsam das Elfte Gebot, dass letzten Endes alles, was viel Geld einbringt, wenn nicht gut, so doch erlaubt ist?

Als Anfang 2002 ein 19-jähriger Schüler an einem Erfurter Gymnasium “Amok lief”, zahlreiche Lehrer und Mitschüler erschoss, begaben sich auch etwas seriösere Blätter kollektiv auf die Suche nach dem “Killergen”. Die Geistlichkeit trat auf den Plan, erhob buchstäblich den Zeigefinger und mahnte: Du sollst nicht töten. Vermutete man ernsthaft, zukünftige “Amokläufer” und Vergewaltiger würden sich diese Anweisung schleunigst hinter die Ohren schreiben und von ihren “dunklen Trieben” ablassen? Die politische Kaste drängelte sich ebenfalls medienwirksam in den Vordergrund, verkündete nahezu einmütig ihren Abscheu und schwor, dass man die Tat des jungen Mannes weder verstehen noch erklären könne. Jonathan Pincus’ Buch beweist gerade das Gegenteil. Die entsprechenden Schlüsse zu ziehen, wäre eigentlich die Aufgabe der Leser.

© Thomas Gruner, März 2005

Literatur:
Pincus, Jonathan H.: “Base Instincts – What Makes Killers kill?”; W.W. Norton & Company, New York 2001 (als Taschenbuch 2002)