Feminismus, Marxismus und Kindheit

von Alice Miller

Feminismus, Marxismus und Kindheit
Wednesday 01 December 2004

Ich las kürzlich ein Zeitungsinterview mit einer Schriftstellerin, die ich hier Frau X nenne, das mir nur allzu deutlich vor Augen führte, wie Ideologien die Sicht auf das verdrängte Leiden des Kindes und dessen Einfluss auf das ganze Leben verschleiern. Frau X, die früher Kommunistin war, und heute immer noch Feministin ist, erzählt offen und unverblümt über ihr Leiden, aber sie scheint die Bedeutung der prägenden Erlebnisse ihrer Kindheit absolut nicht wahrzunehmen. Sie scheint seltsamerweise kaum daran interessiert zu sein, sich ein Bewusstsein über sich selbst zu verschaffen, über ihre Geschichte und die Quelle ihres Leidens. So verhalten sich heute viele Autoren: Sie nehmen ihre Geschichte nicht ernst, verspotten sich selbst in einer tragischen Weise und bedienen sich dazu irgendwelcher Ideologien, was oft zu absurden Behauptungen führt, wie zum Beispiel, dass in unserer Gesellschaft nur Frauen, aber nicht Männer leiden.

Frau X berichtet zwar, dass ihr Vater sie als Kind häufig zu Dokumentarfilmen über die Vernichtungslager mitgenommen hatte, doch sie stellt sich nirgends die Frage, ob dies nicht eine sehr schwere Traumatisierung gewesen war, die sich auf ihr ganzes Leben auswirken konnte und unerträgliche Ängste hinterließ. Denn dass der Vater sich dessen nicht bewusst war und vielleicht die besten Absichten hatte, ändert nichts am Schaden, den das Kind erlitten hat.

Im Interview lässt sich zumindest keine Revolte gegen dieses Verhalten des Vaters beobachten, keine Wut, keine Empörung, kein Verständnis für das kleine Mädchen, dem man unerträgliche Ängste zugemutet hat, dem eine grauenhafte Welt präsentiert wurde, in der sich kein Kind zurechtfinden kann. Da die Mutter als sehr streng und machtgierig geschildert wird, muss man annehmen, dass der kleinen Tochter keine andere Zuflucht übrig blieb, als die Zuwendung des Vaters, der sie in die Kinos mitnahm und ihr das Gefühl der Nähe, gemischt mit panischer Angst, vermittelte. Doch die erwachsene Frau bringt ihre Ängste kein einziges mal in Verbindung mit diesen Kindheitserlebnissen. Diese liegen ja so weit zurück!

Und nun kommt am Schluss des Interviews die nicht überraschende Mitteilung: Frau X braucht eigentlich keine Therapie, denn sie hilft sich mit Beta-Blockern, Antidepressiva, mit Schlafmitteln und Valium. Sollte sie sich doch für eine Therapie entscheiden, so wäre das eine Verhaltenstherapie bei einem Therapeuten, der sie zwingen würde, im Kino zu bleiben, auch wenn die Türen geschlossen wären und sie nicht den Raum verlassen könnte, usw. …

Diese Idee von einer gewaltsamen Therapie, die der erwachsenen Frau die Wiederholung der beängstigenden Erfahrungen mit dem Vater anbieten würde, hört sich wie eine makabre Phantasie an. Aber sie passt genau in unsere heutige Gesellschaft, die sich darauf verschworen hat, die Ursachen des psychischen Leidens in der Kindheit nicht sehen zu wollen. Man „behandelt“ heute die schwersten psychischen Leiden mit Medikamenten, Drogen oder Antidepressiva und setzt außerdem verschiedene, häufig auch marxistische Ideologien ein, um diese Wahl zu rechtfertigen.

Frau X sagt in dem Interview, man müsste sie wie einen Hund dressieren, denn der Mensch ist (ihrer Meinung nach) ein Tier. Der Psychiater müsste sie jeden Tag am Abend durch fünf Theater oder ins Kino schleifen, und wenn sie hinauswill, müsste er sie festhalten und sagen: ‚Nein, Sie bleiben da sitzen!‘. Sie sagt, sie würde nur Erziehung, eine harte Dressur brauchen. Weshalb sehnt sich die Feministin nach einer harten Dressur? Ist das die Sprache der Mutter? Was hat diese zu den panischen Ängsten der Tochter beigetragen? Darf man das als Feministin noch fragen?

Selbstverständlich kann man einem Menschen keinen Vorwurf daraus machen, dass er das Leiden seiner Kindheit nicht sehen will. Diese Entscheidung wird auch kaum bewusst und frei getroffen, sondern ist die Folge eines tragischen Schicksals. Hätte das Kind einen helfenden Zeugen gehabt, dann hätte die Erwachsene später auf diese Erfahrung zurückgreifen können, hätte keine Ideologie gebraucht, um dieses Leiden zuzudecken. Diese Ideologien dienen manchem als Rettungsanker, auch weil sie den Schein der Fortschrittlichkeit verbreiten und vor der Isolierung schützen, indem sie von einer großen Gruppe geteilt werden.

Mir ist die verschleiernde Funktion der marxistischen Ideologie zuerst in meiner Studienzeit aufgegangen, an einer polnischen Universität, und später in der Schweiz, bei den marxistischen Psychoanalytikern, in deren Sprache ich kein Wort verstehen konnte. Auch ich konnte mich mit meiner einfachen Sprache nicht bei ihnen verständlich machen. Alles, was ich über Fakten aus meiner Praxis erzählte, wurde wie chinesisch aufgenommen, und ich muss gestehen, dass mir die theoretischen Diskussionen dieser Leute ebenfalls wie chinesisch vorkamen. Wir sind uns auch in Einzelgesprächen kaum wirklich begegnet. Ich empfand ihre Theorien wie eine Mauer, die zwischen uns stand, und meinte zuweilen, mit mir würde etwas nicht stimmen. Erst als ich begann, Bücher zu publizieren, machte ich die Erfahrung, dass es nicht an mir lag, wenn manche Menschen nichts mit meinen Gedanken anfangen konnten, weil sie an den Konstrukten hingen, die sie sich gebaut hatten, um ihre schmerzliche Realität nicht zu spüren. Da verstand ich, dass jede Ideologie dem Verdrängen der Fakten und deren Bedeutung dienen kann und daher nicht ungefährlich ist, weder für den Einzelnen, noch für die Gesellschaft. Denn viele, die diese Konstrukte nicht brauchten, konnten mich verstehen und sich selbst dabei näherkommen. Sie fühlten sich nicht gezwungen, sich bei Karl Marx abzusichern.

Es ist natürlich überhaupt nicht nötig, dass die Leser mich verstehen, solange sie sich selbst verstehen oder solange sie auch dies nicht brauchen, weil sie unter ihrer Selbstentfremdung gar nicht leiden. Wenn es ihnen wohl ist dabei, ist gar nichts dagegen einzuwenden. Doch manchen ist es nicht wohl dabei, und ich meine, dass unter anderen die Schriftstellerin X zu ihnen gehört, da sie ihr Leiden in dem Interview deutlich beschreibt, auch wenn sie es fröhlich verspottet und sich tapfer weigert, deren Quelle zu sehen. Das kann sich ja immer noch ändern.

Dieses Interview ist nur eines der vielen Beispiele der Blindheit und Gleichgültigkeit, die wir in unserer Gesellschaft dem Leiden des Kindes, das wir waren, entgegenbringen und die wir im Laufe der Jahre entwickelt haben. Diese Blindheit produziert erstaunliche Mitteilungen in der Presse, die auf angeblich wissenschaftlichen Forschungen beruhen und nachweisbar falsch sind. So z.B. wurde im Spiegel online am 26.11.04 ein Artikel unter dem irreführenden Titel „In jedem steckt ein Folterknecht“ publiziert, der eine angeblich große Entdeckung vorstellen sollte. Es wird hier behauptet, dass in einem berühmten amerikanischen Forschungsinstitut, dank großzügiger Finanzierung und u. a. aufgrund des Milgram-Tests „bewiesen“ wurde, dass jeder Mensch unter bestimmten Umständen zum Sadismus und zur Perversion fähig sei. Das ist absolut nicht wahr. In meinem Artikel „Der blanke Sadismus„, über die Wurzeln der Perversion, den ich als Reaktion auf die Folterungen in irakischen Gefängnissen geschrieben habe, kämpfte ich schon gegen diese These an, mit dem für mich absolut überzeugenden Argument, dass alle ehemaligen Insassen der Konzentrationslager auch Züge des Sadismus hätten aufweisen müssen, wenn diese Hypothese wahr wäre. Das war aber keineswegs der Fall. Die meisten haben ihre Würde behalten, obwohl sie mehrere Jahre hindurch gequält und gepeinigt wurden (aber als Erwachsene und unter vielen Zeugen, nicht als kleine Kinder). Diese Tatsache an sich widerlegt bereits die angeblich wissenschaftlichen Ergebnisse, die unkritisch im Spiegel online zitiert werden. Es ist nicht wahr, dass jeder Mensch zum Folterer werden kann. Es ist aber wahr, dass alle Menschen, die in der Kindheit ohne helfende Zeugen gequält wurden, unter bestimmten Bedingungen zu grausamen Taten fähig sind, sobald sie dazu eine Gelegenheit bekommen. Daher zeigte der Milgram-Test, dass sehr viele (aber eben nicht alle) der am Experiment beteiligten Personen fähig waren, auf Befehl zu foltern. Aber es gab auch Ausnahmen, und dies waren Menschen, die man in der Kindheit weder körperlich noch psychisch gequält hatte. Leider sind diese Menschen, fünfzig Jahre nach dem Milgram-Test, immer noch eine große Ausnahme.