Über einige Aspekte der neueren Traumatherapien

von Thomas Gruner

Über einige Aspekte der neueren Traumatherapien
Tuesday 01 February 2005

Im vergangenen Jahrzehnt hat sich die psychotherapeutische Forschung und Praxis auch in Deutschland konkreter der realen Lebensgeschichte derjenigen Menschen zugewandt, die therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen, weil sie in ihrer Kindheit schweren sexuellen oder körperliche Übergriffen innerhalb der Familie ausgesetzt waren. Die Tatsache, dass viele Kinder misshandelt und sexuell missbraucht werden, wurde nun ebenso anerkannt wie die Langzeitfolgen der Traumatisierung im Leben des Erwachsenen. Es etablierte sich die sogenannte Traumatherapie, die nun nicht mehr nur Opfern staatlicher Gewalt (Folteropfern) zur Verfügung stand. Ferner öffnete sich die Forschung allmählich der Tatsache, dass auch männliche Kinder ebenso wie Mädchen sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind und dass die als Kind erlittene Gewalt auch im Leben des erwachsenen Mannes massive Schwierigkeiten und Leidenszustände bewirken kann. Eine in diesem Zusammenhang in Deutschland sehr bekannte Autorin ist Dr. Luise Reddemann mit ihrem Hauptwerk “Imagination als heilsame Kraft” (zuletzt erschienen 2003), in dem die zentralen Gedanken der neuen Traumatherapie formuliert werden.

Ich möchte hier Fragen und Anmerkungen artikulieren, die einzelne Aspekte der Traumatherapie (wie sie in der Literatur nicht nur von Reddemann in unterschiedlicher Akzentuierung durchgehend diskutiert werden) bei mir auslösten. Dies mache ich sehr bewusst von außen, als interessierter Leser, denn ich bin der Auffassung, dass jede Theorie mit der individuellen Lebenserfahrung verglichen werden sollte. Zu fragen ist nach dem Verbleib der Realität in der therapeutischen Praxis. Dabei zeigt sich, dass der Geschichte des ehemaligen Kindes wie dem emotionalen Erleben der Klientinnen und Klienten auch mit Hilfe neuer theoretischer Konzepte oftmals ausgewichen wird, indem “therapeutische Interventionen” die möglichst genaue Kenntnis der realen Vorkommnisse in der Kindheit und des tatsächlichen Charakters der Eltern umgehen oder ganz vermeiden. Das wirkt sich nachteilig auf jene Minderheit von Hilfesuchenden aus, die sich dieses Wissen unbedingt erarbeiten und sich den Folgen der Traumatisierung in ihrem späteren Leben stellen wollen.
Manchmal ist es sicherlich besser, wenn ein Mensch, der sich in großer seelischer Not befindet, wenigstens zum Teil therapeutische Hilfe oder überhaupt die Möglichkeit eines Gesprächs erhält. Dennoch besteht in meinen Augen weiterhin die Notwendigkeit, nicht auf halber Strecke stehen zu bleiben, sondern die Therapieangebote konsequent von gesellschaftlich vermittelten Klischees, versteckten moralischen und religiösen Dogmen und von ihrem direkten oder indirekten Erziehungsauftrag zu befreien. Voraussetzung meiner Überlegungen ist dabei immer, dass jeder Hilfesuchende selbst entscheidet, ob überhaupt und in welchem Maße er sich mit seiner Lebensgeschichte auseinandersetzen möchte.

“Heilsame Imaginationen” und die “Ressourcen” der Klienten als Schutz gegen bedrängende Gefühle

Viele Therapeuten, die sich auf die Behandlung der sogenannten posttraumatischen Belastungsstörung konzentrieren, sind sich der Tatsache bewusst, dass in der Kindheit erlittene Gewalt zu einem Gefühlsstau führen kann, der das Alltagsleben des Betreffenden massiv beeinträchtigt. Die Klienten sollen durchaus ihre Gefühle in der Therapie zum Ausdruck bringen, zugleich wird mit Hilfe verschiedener Techniken und Übungen versucht, die Intensität des emotionalen Erlebens zu steuern, letztlich abzuschwächen, in der guten Absicht, dieses für den Klienten erträglicher zu gestalten, ein plötzliches Aufbrechen der Abwehr zu verhindern.
Eine sehr bekannte imaginative Übung in diesem Zusammenhang bietet beispielsweise an, eine Patientin, die in der Kindheit vergewaltigt wurde, möge sich vorstellen, ihre belastenden wiederkehrenden Erinnerungen seien lediglich ein schlechter Film, nicht eine vergangene Realität, die in die Gegenwart einbricht. Diesen Film schließe sie nun in einen Tresor, der mittels einer komplizierten Zahlenkombination sorgsam verschlossen werde und somit nicht mehr auftauchen könne.

Wenn ich mich mit dieser Übung auseinandersetze, bin ich versucht, zu formulieren, dass man der Patientin am Ende noch empfehlen wird, die Zahlenkombination schleunigst zu vergessen, damit sie gar keinen Zugang zu diesem “Film” mehr bekommt. Starke seelische Schmerzen erzeugen verständlicherweise ebenso starke Ängste und vielen Betroffenen wird jedes Angebot sehr gelegen kommen, das ihnen ermöglicht, weder die Schmerzen noch die Ängste fühlen zu müssen oder zumindest zeitweilig erneut verdrängen zu können. Doch die Angst vor den schmerzhaften emotionalen Erlebnissen weicht, wenn diese verständlich und im Kontext der Geschichte des Kindes als folgerichtig erlebt werden. Dann wird nach und nach von innen heraus klarer, dass die Ereignisse in der Vergangenheit stattgefunden haben und der Erwachsene durchaus die Möglichkeit hat, retraumatisierende Faktoren aus seiner Gegenwart auszuschließen oder (wenn das nicht immer möglich ist) anders mit diesen umzugehen. Die Erfahrung, dass die mit den Gewalterfahrungen verbundenen Gefühle vom Erwachsenen ganz anders verarbeitet werden können als von einem hilflosen Kind, könnte durchaus ermutigend und stärkend wirken, aber dafür müssten diese Gefühle erlebt und nicht vorschnell verriegelt werden, sei es im Inneren oder in einem imaginierten Tresor.

Der spezielle Inhalt dieser Übung macht deutlich, dass sehr reale Erlebnisse des Kindes in den Bereich des Irrealen verbannt werden. So war beispielsweise der Inzest eben gerade kein schlechter Horrorfilm sondern Wirklichkeit. Und mir leuchtet nicht ein, warum eine Patientin so tun soll, als verhielte es sich anders. Vom Irrealen ist es nur ein kleiner Schritt zum Irrationalen, was Übungen verdeutlichen, mit deren Hilfe sich der Klient mit der Vorstellung vertraut machen soll, in seinem Inneren existierten lauter kleine helfende Wesen. Ein in der Familie misshandeltes Kind wird sich unter Umständen der Phantasie überlassen, es sei umgeben von unsichtbaren Helfern. Ein erwachsener Mensch hätte dies nicht unbedingt nötig, er würde vielleicht ganz reale Fähigkeiten der Selbsthilfe in sich entdecken, je mehr er merkt, dass er auch sehr belastende Ereignisse der Kindheit anschauen und allmählich als Teil seiner Vergangenheit integrieren kann: Es ist furchtbar bis heute, aber so und nicht anders ist es gewesen. Auf der einen Seite möchte die Traumatherapie ganz zurecht helfen, starke regressive Zustände zu vermeiden, auf der anderen Seite fördert sie durch solche Übungen das Verbleiben der Klienten in einer nicht mehr angemessenen kindlichen Verfassung. Es könnte doch immerhin sein, dass ein Mensch mehr bewältigen kann, als manche Therapeuten glauben wollen, und kleine Feen und Elfen nicht mehr braucht.

Das von den Eltern bedrohte Kind lernt sehr früh, Gefühle abzuspalten oder in eine Phantasiewelt zu flüchten. Diese Überlebensstrategie behält auch der Erwachsene meist unbewusst bei. Immer, wenn er sich gefährdet oder belastet fühlt, kann er “aussteigen”.
Ein Mann schilderte diesen Vorgang in einer Gruppe einmal so: Er habe in einem Seminar auf der Universität Protokoll schreiben müssen. Die Diskussion sei sehr hitzig verlaufen, die Seminarteilnehmer hätten sich erbittert bekämpft, vermutlich weil sie sich profilieren wollten. Diese Situation sei auch deswegen für ihn so unerträglich gewesen, weil man sehr beengt beieinander gesessen habe. Der Mann konnte sich an ein plötzliches Panikgefühl erinnern, es sei für ihn so gewesen, als ob er wieder als kleiner Junge verängstigt am Tisch mit den Eltern sitze, die sich laut und gewalttätig stritten. Er berichtete weiter: Und plötzlich war ich buchstäblich weg. Ich habe im Seminar gesessen, bin danach mit der Bahn nach Hause gefahren. Erst in der Wohnung wachte ich sozusagen auf. Ich merkte, dass ich mich an das Seminar nicht mehr erinnern konnte, weder an die Diskussion noch an den Anlass der Auseinandersetzung. Auch an die Heimfahrt – ich musste ein Mal umsteigen – konnte ich mich nicht mehr erinnern. Ich war sehr erschrocken, denn schließlich sollte ich ein Protokoll verfassen, ich stellte aber fest, dass ich offenbar mitgeschrieben hatte, den Verlauf der Diskussion in Stichpunkten festgehalten, doch auch daran konnte ich mich nicht erinnern. Mir wurde zum ersten Mal klar, wie oft in meinem Leben ich in eine solche Verfassung geraten bin, eigentlich ohne es zu merken, dabei will ich doch bei mir bleiben; ich will herausfinden, wovor ich Angst bekomme und warum.

Bei Reddemann werden die hier angedeuteten Übungen auch unter dem Schlagwort “bewusstes Dissoziieren” empfohlen. Ich meine, dies kann in der Praxis verhindern, dass ein Klient in der Tiefe begreift, was seine Gefühle auslöste, woran sie ihn erinnern, warum sie ausgelöst wurden. Jemand, der sehr lange abgetrennt war von seinen echten Gefühlen, wird diese womöglich nicht so schnell wieder verlassen wollen. Denn die echten, intensiven Gefühle (auch und gerade die schmerzhaften, ängstigenden) sind Teil unserer Authentizität, die ja vor allem von gewalttätigen Eltern in der Kindheit bekämpft wurde. Übrigens brauchen wir den Zugang zu unseren Emotionen und realen Erlebnissen in der Kindheit, um wenigstens eine Chance zu haben, die Depression (als ein Ausdruck des Selbstverlustes) aufzulösen. (Gegen verinnerlichte Schuldgefühle oder den Selbsthass werden solche Übungen ganz sicher nichts ausrichten können, denn dazu müsste man sich schon genauer und intensiver die Übergriffe der Eltern ansehen.)
Der Organismus eines misshandelten Kindes reagiert auf Krisen und Belastungen mit einer inneren Fluchtbewegung. Hier wäre später wohl eher ein Prozess des Umlernens erforderlich, das konsequente Bemühen, in der Gegenwart zu bleiben, um heraus zu finden, ob und wie der Erwachsene heute mit der Überforderungssituationen umgehen kann.

Die Psychoanalyse behauptet gerne, mit den Gefühlen der Klienten zu arbeiten, tatsächlich werden diese aber durch die Forderung nach Einsicht und theoriekonforme Deutungen meist schnell erstickt. Eine ähnliche Folge ließe sich bei den verschiedenen Übungen und “Interventionen” im Rahmen der Traumatherapie befürchten.
In diesem Zusammenhang hat mich auch “EMDR” nicht überzeugt, ein Verfahren, das anfänglich wie eine “Wunderwaffe” gegen Traumafolgen angepriesen wurde, was mein Misstrauen begründete. Nach zwölf Sitzungen mit dieser Methode wurden Klienten gleichsam als geheilt entlassen. Dies hat sich inzwischen offenbar geändert, doch fehlt mir der Glaube, dass das sogenannte rapid eye movement im Wachzustand tatsächlich zu einer echten Aufarbeitung der Vergangenheit beiträgt. Die verschiedenen Techniken, die im Kontext von “EMDR” zusätzlich in Anwendung kommen, wie Fingerschnippen und Händeklatschen, hinterlassen bei mir den Eindruck, als ob die Klienten eher von ihren Emotionen abgelenkt werden sollen oder dass auf Hokuspokus zurück gegriffen wird, um sich nicht ernsthaft mit der beklemmenden Biographie der Hilfesuchenden befassen zu müssen. Im Gegensatz zu diversen Übungen habe ich “EMDR” niemals selbst ausprobiert und möchte es daher bei der Artikulation dieser Zweifel belassen.

Eine in der Kindheit schwer misshandelte Frau erzählte mir einmal, wie sie von ihrer Therapeutin ermuntert wurde, ihr tief verinnerlichtes Empfinden von Selbsthass und Selbstekel zu bekämpfen, indem sie sich an Spiegel, Wände und Türen kleine Zettel heften sollte mit Sätzen wie: Ich bin schön, ich habe einen Wert, ich bin in der Welt willkommen. Auch in den Therapiestunden sollte sie diese Sätze immer wieder laut aussprechen, bis sie sich diese schließlich selbst glauben könne. Dieser Effekt, so meinte die Frau, sei aber nie eingetreten. Offenbar war die Therapeutin nicht auf die Idee gekommen, dass durch solche “positiven Kognitionen” die machtvollen negativen Botschaften der Eltern an das Kind kaum aufzuheben sind und dass es darauf ankommt, sich selbst endlich eine Existenzberechtigung zuzubilligen. Man kann Menschen sicher vieles einreden und in der Not flüchten manche verständlicherweise in den Selbstbetrug. Es fragt sich nur, wie lange es dauert, bis sich das echte Gefühl der Entwertung wieder meldet, um daran zu erinnern, dass ein Mensch sich seit so langer Zeit durch die Augen der Eltern sieht. Aus der eigenen Erfahrung heraus meine ich, dass es sich lohnen könnte, im Detail zu realisieren, wie die Eltern welche Botschaften dem Kind vermittelten. Wie kam das Gefühl der Wertlosigkeit zustande? Wozu brauchten es die Eltern, ihr Kind zu entwürdigen? Nach und nach kann ein innerer Widerstand gegen die Lügen, die lebensverneinenden Botschaften der Eltern wachsen, nämlich dann, wenn in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ein Selbst- und Selbstwertgefühl wächst, das heißt ein Mensch parteilich auf der Seite des Kindes stehen kann, das er gewesen ist.

Es erscheint mir wenig sinnvoll, Überlebensstrategien zu nutzen (etwa das “Aussteigen”), die in der Kindheit eine (und oft die einzige) Notlösung darstellten, in der Gegenwart aber sehr oft Leben verhindern und den Umgang mit den Erfordernissen des Alltags erschweren. In diesem Zusammenhang wird viel von der “ressourcen-orientierten” Arbeit mit den Klientinnen und Klienten gesprochen. Die Fähigkeit von Kindern, innerhalb eines bedrohlichen Familienklimas Strategien des Überlebens zu entwickeln, ist in der Tat erstaunlich. Und sehr oft verblassen hinter den Folgen der frühen Verletzungen die Möglichkeiten, die bewahrt werden konnten, die dem Erwachsenen jetzt eigentlich zur Verfügung stünden, wäre er nicht so sehr mit depressiven Zuständen oder starken seelischen Schmerzen beschäftigt, die die sogenannten Ressourcen verschlingen können. Manche Menschen übersehen lange, was für eine gewaltige Lebensleistung sie auch als Erwachsene buchstäblich stemmen, indem sie sich oft unter sehr widrigen Umständen dennoch intensiv mit den Schrecken ihrer Kindheit konfrontieren. Diese Arbeit hingegen umfassend zu würdigen, kann das Selbstvertrauen stärken.

Es ist mehr als notwendig, Klienten, deren Selbstwertgefühl ohnehin gegen Null geht, nicht nur als Bündel von Störungen zu begreifen. Es kann aber sein, dass ein Mensch zunächst dringend einen Ort braucht, an dem er seine Leiden und Klagen artikulieren kann, weil ihm bislang niemals zugehört wurde. Verweist aber ein Therapeut sogleich auf Leistungen, die der Klient trotz allem (und nicht etwa aufgrund der Misshandlungen) erreicht hat, wird doch letztlich die Botschaft vermittelt: Was hältst du dich mit deinen schmerzhaften Gefühlen und der Vergangenheit auf, freue dich doch lieber, dass du zum Beispiel eine berufliche Ausbildung absolvieren konntest. In meinen Augen wird damit eine Situation hergestellt, die der in der Kindheit stark gleicht. Es ist wieder niemand da, der der aktuellen Not aufmerksam zuhört, diese nicht bagatellisiert oder beschwichtigt. Und es könnte sein, dass einige Therapeuten das eigene Unbehagen vor den Gefühlen der Klienten immer wieder dazu nötigt, auf das Positive in deren Leben hinzuweisen, mit dem diese aber gerade nun ganz und gar nichts anfangen können, weil ihre Gefühle nun einmal so sind, wie sie sind. So kommt der Eindruck zustande, dass auch die Traumatherapien sehr oft dem Gebot gehorchen: Du sollst nicht fühlen, was du fühlst. Wenn dies der Fall ist, arbeiten sie tatsächlich in der Sphäre der Imagination.

Die Neubewertung des Traumas und dessen sinnstiftende Ausdeutung als Therapieziele

Als am 26. Dezember 2004 die südasiatischen Küsten von einer gigantischen Flutwelle verwüstet wurden, waren auch zahlreiche deutsche Touristen unter den Opfern der Katastrophe. Die Fernsehsender berichteten ausführlich über das Ereignis und befragten überlebende Opfer vor Ort. Ein Mann wurde in einem thailändischen Krankenhaus interviewt, er wartete auf seine Evakuierung nach Deutschland und stand sichtlich unter Schock. Sehr verstört und hilflos erzählte er, dass seine Frau und seine beiden kleinen Töchter ums Leben gekommen waren, er alleine nach Hause zurück kehren müsse. Daraufhin befragte die Moderatorin der Sendung einen in Köln ansässigen Psychotherapeuten, der sich auf die Behandlung traumatisierter Menschen spezialisiert hat: Ob es für diejenigen, die Angehörige verloren hätten, nicht sinnvoll sei, einen Therapeuten aufzusuchen und wie Therapie in diesem Fall helfen könne. Unbedingt sei hier eine Psychotherapie erforderlich, meinte der Therapeut, weil damit zu rechnen sei, dass starke Gefühle auftauchten, wenn der Schockzustand nachließe, die allein nicht zu bewältigen wären. Der Therapeut würde dann helfen, die Gefühle auszudrücken und die Katastrophe immer wieder durchzusprechen, und zwar solange, bis ihr innerhalb der Lebensgeschichte eine positive Bedeutung oder ein Sinn zuerkannt werden könne. So habe etwa der Mann, dessen Familie ausgelöscht wurde, ohne die Katastrophe niemals erfahren können, dass er imstande sei, dieselbe zu überleben.

Es geht also um eine Umwertung der traumatischen Ereignisse und um eine sinnstiftende Verarbeitung der schrecklichen Erfahrungen. Was aber bedeutet das?
Ich denke, es ist sehr entscheidend, ob es einem Menschen gelingt, den Kindheitstraumen im erwachsenen Leben immer mehr die Macht zu nehmen, so dass im günstigen Fall die Traumatisierung und ihre Folgen nicht mehr so stark den Alltag beherrschen und vergiften.
Doch wie soll man etwas, das furchtbar war, nachträglich anders empfinden oder bewerten? Positiv am Ende? Das drängt sich immerhin auf. Welche positive Bedeutung, welchen Wert hat die Misshandlung eines Kindes in dessen späteren Leben als Erwachsener? Ich vermag nichts dergleichen zu entdecken.
Für mich bedeutet seelisches Wachstum das Gegenteil: nicht die Umdeutung einer Biographie, sondern die Fähigkeit, mit ihr ohne Beschönigungen umgehen zu können. Die Vorschläge der Traumatherapie mögen gut gemeint sein, sie sind jedoch naiv und vor allem besteht die Gefahr der Manipulation von Klienten und der Verdrehung lebensgeschichtlicher Fakten.

Ähnlich sehe ich es in der Frage der sinnstiftenden Verarbeitung. Es entsteht der Eindruck, auf irgendeine Weise könne dem Missbrauch innerhalb der Biographie doch ein Sinn zugesprochen werden. Macht der sexuelle Missbrauch eines Kindes Sinn? Und wenn ja, welchen? Ist es nicht grausam, von einem Mann, der seine Kinder und seine Frau durch eine Katastrophe verlor, zu verlangen, diesem, sein gesamtes weiteres Leben überschattenden Einbruch einen positiven Begleiteffekt abzugewinnen?
Frau Reddemann ist beispielsweise der Auffassung, die (wie sie zugesteht, schwer zu erreichende) Krönung einer Therapie sei es, wenn die in der Kindheit vergewaltigte Klientin so weit komme, ihrem Schicksal dankbar zu sein, denn ohne den Inzest wäre sie ja nicht die Persönlichkeit geworden, die sie ist. Was mag damit gemeint sein? Die Klientin hätte ohne die Inzesterfahrung einen weniger lauteren Charakter, keine emotionale Tiefe, weniger Phantasie? Ich zweifele und frage mich weiter, ob Reddemann und ihren Kollegen bewusst ist, sich mit diesen und ähnlichen Überlegungen nolens volens letztlich einem sehr bekannten, in meinen Augen kriminellen Guru anzuschließen, der (ohne psychotherapeutische Ausbildung, versteht sich) Klientinnen gegen Zahlung von (selbstredend) viel Geld dazu nötigt, sich vor ihren imaginierten Vätern zu verbeugen und ihnen für den Missbrauch zu danken, so dass einige völlig psychotisch werden oder suizidal.

Selbstverständlich ist es das Bedürfnis eines jeden Menschen, seinem Leben einen Sinn zu geben, sich fest in der Welt verankert zu fühlen. Dieses Bedürfnis kann durch extreme Erlebnisse torpediert und so die ganze Existenz in Frage gestellt werden. Das ist eine äußerst bedrohliche und tief erschütternde Erfahrung, die unter Umständen das Gefühl hinterlässt, man stehe ganz und gar mit leeren Händen da, habe nichts mehr, woran man sich halten könne, nicht einmal sich selbst.
Es mag sein, dass auch ein anderer Weg als der, dem Missbrauch auf Biegen und Brechen einen Sinn zu verleihen, offen steht: die Auseinandersetzung mit der Frage nämlich, was die sehr frühe Begegnung mit der Sinnlosigkeit für das eigene Leben bedeutet hat, wie stark diese Erfahrung, die ganze Persönlichkeit, das Fühlen, Denken und Handeln prägte. Die Ereignisse der Kindheit bleiben dabei allerdings ohne jeglichen Sinn, eine Tatsache, die manche Menschen vermutlich verkraften könnten. Niemand kann nämlich sagen, es sei ausgeschlossen, das erwachsene Leben durchaus sinnvoll zu gestalten, trotz einer verheerenden Kindheit. Dies stellt sich womöglich ganz unspektakulär dar, indem ich mich etwa endlich an meinen authentischen Bedürfnissen orientieren oder Lebensfreude empfinden darf. Eine Garantie gibt es dafür sicherlich nicht.

Zahlreiche Publikationen innerhalb der Traumatherapie können auf Mystifizierungen jedoch nicht verzichten. Luise Reddemann etwa ergeht sich in längeren Reflexionen darüber, was sie vom Schamanismus gelernt habe. Ich kann keinen Einwand dagegen finden, Erkenntnisse der Ethnologie in die Betrachtung der Welt und der individuellen seelischen Vorgänge zu integrieren. Nur sollte man nicht vergessen, dass Menschen, die in einer hoch technisierten Kultur leben, vielleicht doch andere Antworten benötigen als die Mitglieder indigener Völker in entlegenen Dschungelgebieten oder der sibirischen Tundra. Mir ist auch nicht einsichtig, was die Religion im weitesten Sinne in der Therapie verloren hat. Klienten, die spirituelle oder religiöse Tröstungen bevorzugen, werden diese sicher selbständig finden, eine Therapie, die die Zuflucht zur Mystik propagiert, läuft in Gefahr sich dem Irrationalen zu verschreiben. In der Literatur zur Traumabehandlung, die aus den Vereinigten Staaten stammt (z.B. Kritsberg, dt. 1995; Carnes 1997), von der die gegenwärtige Traumatherapie in Deutschland stark inspiriert ist, findet sich angefangen mit den sogenannten Zehn-Schritte-Programmen aber fast ausnahmslos das Therapieziel der Hinführung des Klienten zu Gott oder einer wie auch immer gearteten höheren Macht. Und was geschieht mit jenen, die sich diesem Ziel nicht anschließen wollen oder können? Fallen sie der Verdammnis anheim? Dies würde gut zu dem wieder auflebenden rigiden religiösen Fundamentalismus unserer Epoche passen.

Die Argumentationsweise innerhalb der Fachpublikationen hinterlässt vor diesem Hintergrund bei mir ein Unbehagen. Man könnte sie auch so interpretieren, dass Therapeuten wieder eine Möglichkeit mehr geliefert bekommen, ihre eigenen Ängste in Schach zu halten. Und: Offenbar soll gesichert bleiben, dass die realen Eltern (aber auch die Eltern als Institution) nicht zu sehr angegriffen werden, egal wie sie mit ihren Kindern umgingen.

Positive Erfahrungen mit den Eltern und die “heilsame therapeutische Begegnung”

In zahlreichen Psychotherapien wird die Haltung vertreten, das Schicksal der Hilfesuchenden werde erleichtert, wenn sie erkennen würden, dass die misshandelnden Eltern nicht nur negative Seiten hatten. In diesem Zusammenhang wird auch vom möglichen Rückgriff auf gute Bindungsanteile im Verhältnis Eltern / Kind gesprochen. Ich habe mich mit diesem komplexen Aspekt schon mehrmals befasst und beschränke mich an dieser Stelle auf einige Ergänzungen.
Positive Ereignisse in der Kindheit sind in der Regel der Erinnerung zugänglich; manche Menschen klammern sich an diese Augenblicke scheinbarer Normalität wie Ertrinkende an einen Strohhalm. Ich frage mich aber trotzdem, was denn wohl daran gut oder positiv ist, wenn ein Mensch feststellt, dass ein missbrauchender Elternteil nicht nur negative Verhaltensweisen gegenüber dem Kind zeigte. Die Mehrheit der Missbraucher ist nicht rund um die Uhr sadistisch. Und wenn schon. Vermutlich sind viele Therapeuten der Ansicht, dass dadurch auf weitere “Ressourcen” zurück gegriffen werden könne oder aber Verschiedenes nicht so schlimm gekommen ist, wie es am Ende noch hätte kommen können. Das kann ja sein, doch auch hier sehe ich eine potentielle Quelle für Verwirrungen, indem man sich auf die Suche begibt nach den “guten Seiten” der Eltern und damit die kindliche Abhängigkeit des Erwachsenen von den frühen Eltern verfestigt, anstatt sie mehr und mehr aufzulösen. Ich erlebte bei mir und einigen anderen, dass ein echter Schritt nach vorne geschafft war, wenn Menschen die missbrauchenden und misshandelnden Eltern (und nur von diesen ist hier die Rede) endlich dahin schicken konnten, wo sie hingehören. Denn wie freundlich diese Eltern phasenweise gewesen sein und wie sehr sie behauptet und sich selbst geglaubt haben mögen, das Kind zu lieben: Missbrauch ist niemals Liebe, er ist eigentlich Hass auf das Kind (Rache und Vergeltung).

Ich finde entscheidend, dass ein Klient in der Therapie neue und andere Formen der Kommunikation und Beziehung erleben, erlernen, ausprobieren kann. Gegenerfahrungen zur Kindheit sind ja in vielen Bereichen notwendig, damit (wiederum im günstigen Fall) etwa die tiefe Prägung des Ausgeliefertseins nicht mehr so sehr das erwachsene Leben beherrscht.
Aber auch eine positive Beziehungserfahrung in der Therapie kann nicht verhindern, dass in der Kindheit erfahrene negative Beziehungsmuster sich blind wiederholen, solange das Verhältnis zu den Eltern, die Manipulationen und Verstrickungen nicht wahrgenommen werden. Eine gute zwischenmenschliche Beziehung heute hebt allein den Wiederholungszwang nicht auf, er muss durchschaut werden, denn Menschen wiederholen auf verschiedenen Ebenen das Elend ihrer Kindheit so lange, bis dieses realisiert und verstanden wurde.

Es gibt etliche Publikationen, die in diesem Zusammenhang das Stichwort “heilende Begegnung” sehr in den Vordergrund rücken. Angesichts der Lebensrealität vieler Traumatisierter würde ich persönlich jede Schöpfung mit dem Wort “heil” (von heilsam über Heilung bis Heiler) ersatzlos streichen, auch und gerade mit Blick auf die epidemische Verbreitung des Gurutums innerhalb der Therapeutenszene. Wie schnell mag es einem Therapeuten gefallen, sich als “Heiler” zu deklarieren, um seinem früh angeschlagenen Ego zu schmeicheln.

Jeder Mensch, der einst auf irgendeine Art und Weise Schaden an Körper und Seele genommen hat, sehnt sich im Inneren nach einem Zustand der Unversehrtheit. Dieser ist allerdings wohl nicht zu erreichen. Techniken und Methoden respektive therapeutische Interventionen können einzelnen (nicht allen) Klienten möglicherweise hilfreich sein in akuten seelischen Notlagen. Doch wissen wir eigentlich sehr wenig darüber, welche Schäden unter welchen Bedingungen veränderbar sind und welche auch unter günstigen Bedingungen vielleicht überhaupt nicht. Hier bevorzuge ich für mich einen sehr nüchternen Blick. Therapie ist ja während eines relativ kurzen Zeitraums (oder mehrerer Intervalle) nur ein Teil innerhalb eines langen, meist mühsamen Prozesses.
Vor dem Hintergrund der Forschungsergebnisse der Neurobiologie bleibt überhaupt offen, wie Schäden in der Organisation des Gehirns repariert werden können, die zu einem Zeitpunkt entstanden, in dem dieses hochsensible Organ sich entwickelte. Daran knüpft sich für mich die Frage, wie ein Mensch sich dennoch selbst behilflich sein kann in verschiedenen belastenden Situationen.

Die Spuren des Traumas im Leben der Betroffenen

Vernünftig, der seelischen Stabilisierung Hilfesuchender zuträglich, ist in meinen Augen innerhalb der neueren traumatherapeutischen Praxis der erklärte Verzicht auf die Manipulation des Klienten, um starke regressive Zustände zu erzeugen, wie das etwa in den Primärtherapien mit so verheerenden Folgen betrieben wurde und wohl auch noch betrieben wird. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob Übungen auf Dauer eine Veränderung erzielen, wenn sich ein Zustand der Regression herstellt oder eine Klientin “dekompensiert”. Solche Zustände können sich schleichend aufbauen, manchmal durch äußere Auslöser von einem Augenblick zum nächsten auftreten. Das ist eine sehr schwierige Frage, die auch abhängig ist von den aktuellen, sich häufig verändernden Lebensumständen. Die frühe Erfahrung kann eben nicht gelöscht werden und so ist es immer wieder möglich, dass sie auflebt. Und manche biographische Fakten, die sich im Laufe von verfehlten Jahren ergaben, sind so ohne weiteres nicht zu ändern. Ich vermute, dass etliche Menschen mit starken Verlusten werden leben müssen. Die Verluste, die Entbehrungen, Versagungen, enttäuschten Hoffnungen und Lebenswünsche bedürfen doch der Aufmerksamkeit und Würdigung, auch wenn dies dem allgemeinen Dogma des “positiven Denkens” widerspricht. Das muss nur niemanden bekümmern.

In diesem Kontext las ich häufig, manche Klienten klammerten sich an die Opferrolle, wollten ihr Leid nicht loslassen. Ich glaube zwar nicht, dass ein Mensch aus freien Stücken leidet, es kann aber sein, dass von Anfang an abgelehnte Kinder ihr späteres erwachsenes Leben als eine Art Bußgang begreifen, um durch größtmögliche Opfer doch noch die Liebe der Eltern zu verdienen. Manche Menschen machen andere darüber hinaus durch anhaltendes Klagen zum Container für die Gefühle, die sie selbst nicht fühlen können oder wollen. Doch finde ich, dass man auch hier sehr genau hinsehen sollte, denn einige Biographien sind einfach schrecklich, da kann sich der Betreffende gar nicht anders fühlen, als zu leiden. Dieses Leid wird immer wieder auftauchen, weil (und solange) es eine folgerichtige Reaktion auf bedrückende, manchmal erstickende Lebensumstände ist; es ist kein Verschulden des Klienten, es kann nicht umgedeutet werden, höchstens ignoriert oder bagatellisiert. Dies würde dann aber kaum zum Wohle der Klienten geschehen, sondern eher jenen Therapeuten nutzen, die sich mit der eigenen Hilflosigkeit nicht konfrontieren wollen.

Einige, keineswegs alle, Autoren der neuen Therapiemethoden sind mittlerweile so weit, Verhaltensweisen und Beschädigungen der Klienten nicht als Unarten zu deklarieren, die es zu korrigieren gelte. Offenbar wurde verstanden, was für ein Bruch mit der Welt und den Menschen der Missbrauch in der Kindheit darstellen kann. Dieser Bruch ist vielfach nicht zu heilen. Der Verlust des Vertrauens in sich selbst, ist dabei wahrscheinlich die schrecklichste Folge. Ich zweifele, ob beispielsweise ehemalige Inzestopfer jemals eine Zuversicht entwickeln können, die andere Menschen mitbringen, jedenfalls dann nicht, wenn sehr wenig Positives in der Kindheit war und der Missbrauch früh begann, als Ersatz für Liebe genommen werden musste. Ein Mensch kann aber sicher das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung und die eigenen Gefühle wieder zurück gewinnen. Das bedeutet auch, auftauchendes Misstrauen manchmal als ein sehr gesundes Signal des Körpers zu erkennen, dass erneut ein Missbrauch vor der Tür steht, dass eine alte Falle zugeschnappt hat. Und ich bin auch überzeugt davon, dass man lernen kann, dann konsequent zu handeln, sich aus vergifteten oder gestörten Beziehungen zu lösen.

Leider leben wir in gesellschaftlichen Zusammenhängen, die es in der Kindheit geschädigten Menschen ausgesprochen schwer machen, ihren Platz in der Welt zu erobern. Wer für längere Zeit nicht funktioniert, bekommt kein Bein mehr unter den Tisch, wird und bleibt mitunter ein Fall, sei es für die Psychiatrie oder für die Sozialbehörden, wird unweigerlich an den Rand gedrängt. Eine Gesellschaft, die Menschen ausschließlich den Kriterien der Effizienz und Profitmaximierung unterwirft, erzeugt Lebensängste und Leid. Auch diejenigen, die in der Kindheit eine wirkliche Substanz erwerben konnten, werden zu kämpfen haben, um eine Nische zu finden, in der sie sich selbst (ihren Bedürfnissen) treu bleiben können. Früh Traumatisierte sind hierbei immer wieder mit Umständen konfrontiert, die alte Schmerzen reaktivieren, denn die Gesellschaft grenzt aus, wen sie nicht brauchen kann. Dies betreiben Politik und Ökonomie inzwischen fast wollüstig. Zugleich untersagt die herrschende Ideologie den Ausdruck authentischer Gefühle wie Trauer und Zorn. Wir sollen lustig sein und viel Spaß haben, Leid darf nicht artikuliert werden, weil es in dieser Gesellschaft keinen Grund geben darf für berechtigtes Leid. Schöner als jetzt kann es ja nicht mehr werden.
Somit gibt es nur wenige Perspektiven, die die Hoffnung erlauben, Menschen könnten ihre authentischen Bedürfnisse endlich leben. Im Gegenteil: Je mehr diese in der Therapie eventuell erwachen, um so schärfer können sich Konflikte im Alltagsleben abzeichnen. Dann käme es wohl darauf an, ob ein Mensch die Fähigkeit erwirbt, sich diesen Konfliktlagen wirklich zu stellen. Das ist schwierig in einem sozialen Umfeld, das lediglich die Anpassung fordert und oft nur die Verweigerung mit all ihren problematischen Folgeerscheinungen als Reaktion zulässt. Nicht jeder ist also gestört, weil er gegen Zumutungen rebelliert und sich weigert, unter Normalität zu verstehen, acht Stunden am Tag einen erbärmlichen, unterbezahlten Job zu absolvieren. Dies wirft die Frage nach der Stärkung des Eigensinns in der Therapie auf, inwieweit den Klienten ermöglicht wird, sich damit auseinander zu setzen, wie viel Anpassung, wie viele Kompromisse, aber auch wie viel Einsamkeit sie für sich als zumutbar empfinden und bewältigen können. Von der Pädagogik gefärbte Diagnosen, die Menschen von außen aufdrängen, was “normal” oder angemessen sei und was nicht, helfen hier kaum weiter.

Die Borderline-Diagnose

Viele Menschen, die in der Kindheit sexuell ausgebeutet wurden, plagen sich mit einer Fülle von Symptomen, die in alle Bereiche des Lebens eingreifen: Ihre Gefühle sind entweder wie abgestorben oder aber es tauchen unvermittelt heftige Emotionen auf, die dem Betreffenden selbst völlig unverständlich sind. Je grausamer ein Kind misshandelt wurde, um so stärker ausgeprägte autistische Züge zeigt mitunter der Erwachsene. Die starken, nicht integrierten Gefühle können so quälend werden, dass ein Mensch in die Sucht flüchtet, um sie nicht spüren zu müssen und um immer wieder auftauchenden Selbstmordwünschen zu entgehen, aber auch der Leere, die die Eltern in ihm hinterließen. Das ganze Leben entgleist, eine berufliche Entwicklung kann verunmöglicht werden, weil die gesamte Kraft allein für das Aushalten und Überleben des Unerträglichen aufgezehrt wird. Von einer Partnerschaft wagen viele nicht einmal zu träumen, sie können sich logischerweise nicht vertrauensvoll öffnen und die sexuelle Entwicklung wurde oftmals zerrüttet. Diese umfassende Not verschärft den Selbsthass, dessen Wurzeln in der Kindheit durch die verheerenden direkten und indirekten Botschaften der Eltern gelegt wurden. Leben kann man das wohl nicht nennen und auf diese Weise mag sich das Überleben mitunter eher wie der Aufenthalt in einem Straflager anfühlen.

Diese Menschen brauchen natürlich Hilfe, und wenn sie zu einem Therapeuten gehen und ihre Verfassung schildern, wird ihnen immer häufiger mitgeteilt, was mit ihnen los ist. Sie hätten eben, heißt es dann, eine Borderline-Persönlichkeitsstörung. Vermutlich handelt es sich bei dieser seit etlichen Jahren so beliebten Diagnose um einen Versuch der psychotherapeutischen Forschung und Praxis, die Fülle der Symptome irgendwie unter einen Hut zu bekommen, etwas benennen und somit fassbarer machen zu können, das sonst unerklärlich, vielleicht auch unheimlich oder abstoßend bliebe. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist eigentlich gar nicht der Begriff, das Etikett, sondern die Tatsache, dass die sogenannten “Borderliner” (wie man sie gerne nennt) als äußerst schwer, sogar als überhaupt nicht behandelbar gelten. Sie sind die schwierigen, manchmal unheilbaren Fälle und ihnen wird in der Regel nicht zugetraut, sich an ihre Kindheit erinnern zu können.

Vielleicht sähe dies ganz anders aus, wenn man sich die Mühe machte, die Symptome nicht als charakterliche Verfehlung, sondern als inzwischen destruktiv gewordene Überlebenstechniken aus der Kindheit, vor allem aber als stumme Sprache des Klienten zu identifizieren, die entschlüsselt, also verstanden werden muss, damit sie überflüssig werden kann. Die Symptome erzählen indirekt ja auch, wie es dem Kind mit den Eltern ergangen ist. Sie bringen zum Ausdruck, was eine Klientin nicht unmittelbar, bewusst sagen kann und sind sehr oft verknüpft mit der frühesten Lebenszeit eines Menschen, die der bewussten oder bildhaften Erinnerung nicht oder im letzten Fall nur in Träumen zugänglich ist. Das macht den Umgang mit den Symptomen in erster Linie zu einer Geduldsprobe für die Betroffenen.

Ich glaube kaum, dass es Klienten gelingt, die Botschaften ihrer Symptome zu verstehen und sich damit ihrer Realität als Kind anzunähern, wenn ihnen von Anfang an vermittelt wird, wie schwierig, problematisch, im Grunde unerträglich sie für den Therapeuten sind. Deutlich wird dies in einem Buch des Sozialpädagogen Heinz-Peter Röhr, das oberflächlich betrachtet zwar sehr einfühlsam auf die Fülle der Probleme Traumatisierter eingehen will, zwischen den Zeilen aber kaum mehr vermittelt als das pure Ressentiment gegenüber Menschen, die in ihrer Kindheit tatsächlich massiven Angriffen auf ihre Persönlichkeit ausgesetzt waren (“Weg aus dem Chaos”, 2000). Da nimmt es nicht wunder, wenn sie sich nun gegen jeden Versuch der Erziehung zur Wehr setzen, wenigstens dann, wenn sie mit Botschaften und Forderungen konfrontiert werden, die sie seit ihrer Kindheit im Schlaf singen können. Der Autor beschreibt, wie die anstrengenden Patienten zur Pünktlichkeit angehalten werden müssen, sich in die Gemeinschaft einer Klinik nicht einfügen wollen, Therapiegruppen aufmischen und andere Gruppenteilnehmer mit ihrer Widerborstigkeit anstecken. In jedem Fall habe sich der Therapeut massiv den Eigentümlichkeiten der Patienten entgegen zu stemmen. Ich bezweifele gar nicht, dass manche Menschen nicht empfänglich sind für psychotherapeutische Bemühungen, doch bekommt man den Eindruck, ein Vater klage über seine ungeratenen Kinder: Was habe ich nicht alles für dich getan, und das ist nun der Dank.

Tatsächlich will es etlichen Therapeuten nicht recht gelingen, die Pädagogik aus ihren Maßnahmen auszuschließen. Entsprechend dürftig sind die Ergebnisse. So erwähnt etwa Röhr einen Patienten, der nach langer Behandlung ein gutes Verhältnis zu Gott habe aufbauen können. Dann scheint ja alles in Ordnung zu sein?
Ich bin überzeugt davon, dass Klienten ihre Symptome nicht dadurch loswerden, indem man ihnen diese in der Therapie regelrecht untersagt, nach dem Motto: Du darfst keine Drogen konsumieren, das schickt sich nicht vor Gott und den Menschen; du darfst deine sexuellen Störungen nicht ausagieren; du darfst keine unverständlichen und bedrohlichen Gefühle haben, weil das alles eine Krankheit beweist, die du nicht haben sollst, und deshalb musst du dich in bestimmter Weise verhalten. Du darfst auch keinen Hass empfinden aufgrund der Zumutungen der Gesellschaft und der Übergriffe deiner Eltern, weil sich dieses Gefühl auch nicht gehört.
Diese Haltung wird schon seit Jahren den Umgang der meisten Klienten mit sich selbst geprägt haben. Der pädagogische Impetus ist bei Röhr besonders deutlich, kommt aber auch dann zum Vorschein (so u.a. bei Reddemann), wenn es um den Umgang mit der Übertragung geht. Der Therapeut bestimmt oftmals, welche Reaktion des Klienten eine Übertragung sei, die sich in der Traumatherapie nicht entfalten soll. Ich glaube auch, dass die Arbeit mit der Übertragung allein kaum ausreicht, um schweren Verletzungen in der Kindheit die Macht zu nehmen, doch werden wenigstens in der Theorie einige Fragen nicht beantwortet: Was ist, wenn die Reaktion eines Patienten keine Übertragung ist, sondern ein ganz berechtigter Unmut über einen Misstand in der Therapie, oder wenn sich berechtigte Kritik und Übertragungsgefühle mischen?
Leider lässt sich die Übertragung ja nicht vermeiden, weil die Gefühle, die eigentlich den Eltern gelten, oftmals einen Umweg einschlagen, indem sie sich zunächst an andere Personen heften. Innerseelisch ist das ein eher normaler Vorgang, der natürlich das Alltagsleben vergiften kann und gerade deshalb Raum in einer Therapie braucht.

Der Göttinger Professor Ulrich Sachsse, dessen Vorträge unter anderem im Internet zu lesen sind, zeigt in seinem Buch “Selbstverletztendes Verhalten” (zuletzt 2002), dass er zuweilen geradezu mit Brachialgewalt gegen die Symptome seiner Patientinnen vorgeht. Diese müssen – koste es, was es wolle – verschwinden und so werden Medikamente ohne Ende verabreicht, in dem Irrglauben, Gefühle und Symptome seien nicht mehr da, wenn man sie aufgrund der Manipulation mit chemischen Substanzen nicht mehr wahrnehmen oder nicht mehr fühlen könne. Ein Versuch, die Symptome als stumme Sprache des Kindes, das ein Mensch einst war, zu verstehen, findet nicht statt. Und so liegt die Schlussfolgerung immerhin nahe, dass es gerade diese stumme Sprache ist, die eliminiert werden soll.
Ich behaupte dabei nicht, diese Maßnahmen würden ergriffen, um die Patienten zu schikanieren oder ihnen zu schaden. Ich persönlich habe Psychopharmaka nie eingenommen und weiß nur von anderen, dass sie sich entweder fast euphorisch oder wie abgestellt fühlten, ihre Symptome zeitnah nach dem Absetzen der Medikamente vollständig wieder auftauchten. Im engeren Umfeld erlebte ich ein Mal, dass schwere dämpfende Mittel, die ausdrücklich verabreicht wurden, um einen Suizid auszuschließen, diesen nicht verhindern konnten. Es mag sein, dass die Mehrheit der Therapeuten bewusst helfen will und sich mit gutem Gewissen um entsprechende Methoden bemüht. Problematisch wird es, wenn die professionellen Helfer die Maßnahmen und Botschaften ihrer eigenen Erziehung nicht durchschaut und in Frage gestellt haben. Sie kennen sie einfach nicht. Dann müssen sie diese zwangsläufig bei ihren Klienten wiederholen. In diesem Zusammenhang werden dann Diagnosen und Deutungen oftmals wie eine Waffe verwendet, Therapie wird zum Versuch, Anpassung und Konformität zu erzwingen: Du sollst so sein, wie ich dich haben will, wie alle anderen sind, wie ich denke, dass es richtig ist.

Wenn innerhalb einer therapeutischen Beziehung das ehemalige Kind zu Wort kommen kann, wenn Klient und Therapeut gleichberechtigt und gemeinsam herauszufinden versuchen, welche in der Kindheit aus Notwehr erworbenen Verhaltensmuster heute selbstschädigend sind, ob überhaupt und welche Alternativen es gäbe, wenn die Bedürfnisse und der eigene Wille des Klienten gestärkt werden, wenn ein Mensch von innen heraus das Kind, das er war, emotional verstehen, für sich selbst Partei ergreifen kann, wenn die Rebellion, das Aufbegehren in der Therapie erwünscht sind, brauchte man womöglich Diagnosen, Deutungen und Theorien kaum noch oder allenfalls am Rande. Die Theorie scheint immer noch ein Bollwerk zu sein, es fragt sich nur wogegen. Deutlich wird dies auch an der oft entfremdeten wissenschaftlichen Sprache, mit der das Schicksal von in der Kindheit misshandelten Menschen schwerlich beschrieben oder erfasst werden kann.

1999 veröffentlichte eine Frau unter Pseudonym einen Bericht über ihre seelische Erkrankung: “Ich heiße Berit und habe eine Borderline-Störung”. Berit Anders bringt dem Leser ihre innere Not und die Gefährdung, in der sie sich befindet, sehr nahe. Über ihre Kindheit, die offenbar grauenhaft war und von Vergewaltigungen, eventuell auch einem Mordversuch durch den Vater geprägt, schreibt sie nur in Andeutungen. Sehr lange sucht sie vergeblich nach therapeutischer Hilfe, bis sie zuletzt in einer psychosomatischen Klinik einem Therapeuten begegnet, der ihr endlich gestattet, starke Gefühle zum Ausdruck zu bringen, und sie nicht maßregelt. Dafür ist Berit ihm dankbar. Der Therapeut erklärt ihr dann, dass sie an einer Borderline-Störung leide, ihr Überleben sei im metaphysischen Sinne reine Gnade und sie möge aufhören, um ein besseres Leben zu kämpfen, das sie nicht erreichen könne, denn ihre Störung sei nicht heilbar. Sie müsse (vermutlich zu Ungunsten ihrer Lebenswünsche und Bedürfnisse) kapitulieren. Berit Anders befolgt diesen Rat, schreibt auch nach dem Verlassen der Klinik viele Briefe an den Therapeuten, stellt sich tapfer ihrer Medikamentenabhängigkeit entgegen, renoviert ihre kleine Wohnung, findet einen Job weit unter ihren Fähigkeiten, der sie über Wasser hält, ist weiterhin einsam, gleicht die Einsamkeit aber durch regelmäßige Besuche von Selbsthilfegruppen für “Borderliner” etwas aus. Sie macht genau das, was sich der Therapeut für sie vorgestellt hatte, eine gewisse Stabilisierung ist auch eingetreten.
Manche Schicksale erlauben vielleicht nicht mehr sehr viele Veränderungen. Allerdings hat die in meinen Augen verfrühte und bedenkliche Botschaft des Therapeuten, Berit Anders möge aufgeben, um ein besseres Leben zu ringen (im Klartext, sich den Botschaften der Eltern zu widersetzen) Wirkung gezeitigt. Der Kampf setzt sich fort, nunmehr gegen die hartnäckig weiterhin auftauchenden Symptome, die mittlerweile über den Körper ausgedrückt werden. Berit Anders hat starke, manchmal unerträgliche chronische Schmerzen in der Kehle, und ist ständig von Rückfällen in die Psychopharmakasucht bedroht. Offensichtlich beabsichtigt der Körper ganz und gar nicht, zu kapitulieren. Gegen Ende des Berichts könnte erklärlich werden, was die Schmerzen zum Ausdruck bringen. Fast beiläufig erwähnt die Autorin, dass sie ein einziges und erklärtermaßen auch zum letzten Mal in ihrem Leben anlässlich eines Gruppenabends aussprach, von ihrem Vater vergewaltigt worden zu sein. Eine Frau hatte das Thema artikuliert und Berit Anders konnte ihr folgen. Aber reicht es, ein Mal über ein Verbrechen zu sprechen, das einem Kind angetan wurde und das ganze Leben ruinierte? Warum ist es nicht möglich gewesen, die Vergangenheit in den Therapien ausführlich zu erzählen? Warum musste statt dessen eine Hoffnungslosigkeit zementiert werden, die den Körper angreift? Wie mag es der Autorin heute, einige Jahre nach der Niederschrift ihres Berichts wohl ergehen?

Möglicherweise ist die Borderline-Diagnose doch mehr eine Trutzburg für die Therapeuten, die Angst haben vor dem ungebärdigen, wilden, aber auch verzweifelten und höllische Qualen leidenden Kind in ihren Patienten. Arno Gruen hat bereits in den achtziger Jahren anhand seiner Untersuchungen über den Plötzlichen Kindstod gezeigt, dass Hoffnungslosigkeit töten kann (“Der frühe Abschied”, 1988 u. 1993). Die Seele bringt sie ganz sicher um.

Einige Sätze über den in der Kindheit traumatisierten Mann

Er ist in der Therapie angekommen, so viel lässt sich feststellen. Überhaupt wird realisiert, dass Männer zu Gefühlen fähig sind. Neuerdings sind sie sogar im Stande, Leid zu empfinden. Wer hätte dies gedacht. Dass auch der kleine Junge Opfer sexueller Gewalt werden kann, wird noch untersucht, gedreht und gewendet, jedoch nicht mehr bestritten. Sogar die Mütter kommen als Täterinnen ins Gerede. Verschwindend geringe Einzelfälle, versteht sich, aber immerhin. Man möchte beinahe schon die Sektkorken knallen lassen, doch leider zeigen die meisten Forschungen, wie sehr sie von Ideologie beherrscht sind, die sich selbst nicht weiß. Es wird viel untersucht, wie unterschiedlich Männer und Frauen die sexuellen Attacken in der Kindheit verarbeiten und man findet, was man längst wusste: Die Männer werden gewalttätig und zu Tätern, die Frauen richten die Gewalt allenfalls gegen sich selbst. Nichts Neues unter der Sonne, mithin. (Dabei befragt man in der Regel natürlich gerade nicht Frauen, die ihre Kinder misshandeln, missbrauchen oder dem sexuellen Missbrauch durch Männer überlassen.)
Vor diesem Hintergrund ist auch bezeichnend, wie schwer es manchmal für Männer ist, in Traumakliniken einen Behandlungsplatz zu finden. Professor Sachsses Station nimmt beispielsweise nur Frauen auf, die Klinik, der Dr. Reddemann vorsteht, schränkt die stationären Plätze für Männer immer wieder ein.

Im Jahr 2003 waren in einer Talkshow des Zweiten Deutschen Fernsehens unter anderen eine junge Frau zu Gast und ein Psychotherapeut, der in einem bekannten Berliner Zentrum tätig ist, das sowohl in der Familie missbrauchte Kinder als auch ihre Väter (als Täter) therapeutisch behandelt. Die junge Frau erzählte emotional sehr beteiligt von den Übergriffen ihres Stiefvaters und meinte dann sinngemäß: Ich weiß nicht, ob ich meine Mutter nicht mehr hasse, ich habe so darauf gewartet, dass sie mich von diesem Mann befreit, denn sie hat alles gewusst. Doch hat sie mir niemals geholfen. Mein Stiefvater hat mich sexuell ausgebeutet, aber meine Mutter hat mich verraten.
Es war sehr interessant, den neben ihr sitzenden Therapeuten zu beobachten, wie er allmählich unruhig wurde, auf seinem Sessel hin und her rutschte, wie er sichtlich schwitzte, ihm die Gesichtszüge entgleisten und er schließlich kaum einen Satz zu Ende bringen konnte: Ja, natürlich, so etwas könne es schon geben, dass die Mutter … Sie hat ja wohl nicht geholfen, aber doch war auch sie Opfer, das ist schmerzlich … Man weiß natürlich nicht, ob die Mutter etwas wusste … Die Mutter hat ja auch gelitten … Der Vater war der Täter …. Das ist immer ganz schwierig …. Man kann es auch nicht beurteilen, weder von außen noch subjektiv … .

Dieser Therapeut hat vor einem größeren Fernsehpublikum öffentlich genau die Peinlichkeiten von sich gegeben, die Klienten in geschlossenen Therapiestunden so oft geboten bekommen. Ideologie ist stets ein Mittel, an dem man sich festklammern kann, um etwas anderes Entscheidendes nicht sehen zu müssen. Dies gilt auch für die feministische Ideologie, der sich inzwischen so viele Männer gehorsam angeschlossen haben, und die political correctness. So reaktionär sich die Gesellschaften zu ihrem eigenen Unglück auch entwickeln, der Feminismus lässt sich offenbar nicht abschütteln.

So viele Traumatherapeuten, die enge Fassung des Traumabegriffs

Wer noch vor etwa zehn Jahren ausdrücklich eine Therapie suchte, um sexuelle Übergriffe in der Kindheit zu verarbeiten, musste oftmals eine wahre Odyssee hinter sich bringen. Es gab kaum professionelle Helfer, die sich mit dieser Thematik auseinander setzten. Viele Männer und Frauen erlebten immer wieder, dass sie mit ihrer konkreten Lebensgeschichte auf Ablehnung stießen. So ist es ein Fortschritt, wenn nun Therapieformen existieren, die sich gezielt mit der Traumatisierung durch den Inzest und ihren Folgen befassen, dies zu einem Teil durchaus auch engagiert.
Recherchiere ich heute zum Beispiel im Internet oder in Bibliotheken, stelle ich verblüfft fest, dass sich nun zahlreiche Analytiker, Verhaltenstherapeuten und Tiefenpsychologen der Behandlung ehemaliger Inzestopfer verschrieben haben. Diese Therapeuten “behandeln” nun so ziemlich alles, von Sucht bis zu sexuellen Funktionsstörungen, von Ängsten bis zu Depressionen, vor allem aber “Traumafolgen”. Ich frage mich, ob es sich hier um einen echten Zuwachs an Erkenntnis handelt, oder ob in der Kindheit missbrauchte Menschen nicht vielmehr als Marktlücke entdeckt wurden. Die Traumatherapie hat auch etwas Inflationäres bekommen, immerhin besteht die Gefahr, zumal die Traumatheorie in Deutschland keineswegs zum regulären Inhalt eines Diplomstudiengangs im Fach Psychologie gehört. Wenn ich in dem Stadtteil, in dem ich lebe, zum Supermarkt gehe, komme ich an einem aufwendig sanierten Haus vorbei, an dessen Eingangsportal ein großes vergoldetes Praxisschild auf eine “Diplompsychologin und Psychologische Psychotherapeutin” hinweist, die folgendes anzubieten hat: “Geistheilung und Traumatherapie”. Das gibt mir zu denken.

Die Fokussierung des Traumabegriffs auf schwere körperliche Misshandlungen und sexuellen Missbrauch klammert darüber hinaus zahlreiche Erfahrungen in Kindheiten aus. Es ist immerhin denkbar, dass ein Kind weder geschlagen noch sexuell ausgebeutet wird. Vielleicht werden seine Bedürfnisse niemals beantwortet, seine Gefühle nie wahrgenommen, der ganze kleine Mensch einfach nicht gesehen. Der Erwachsene könnte später unter schweren Symptomen leiden, auf ein sehr reduziertes Leben zurück geworfen sein, ohne dass er überhaupt weiß, warum es ihm so elend geht. Schließlich ist in der Kindheit ja nichts geschehen. Er hat bloß nichts bekommen. Dieser Mensch brauchte doch eine ebenso intensive Zuwendung und ebenso viel Mühe, sich seiner wahren Geschichte anzunähern, wie ein Klient, der in der Kindheit vergewaltigt wurde. Es könnte auch sein, dass im Rahmen der Traumabehandlung Folgen einer verdorbenen Kindheit übersehen werden, die nicht aus sexuellem Missbrauch erwachsen, für die allein sich manche Menschen jahrelang in Therapie begeben.

Die theoretischen Publikationen nehmen zwar die Realität innerfamiliärer (auch sexueller) Gewalt und die Folgen für den Erwachsenen zur Kenntnis, sind aber stark damit beschäftigt, die Fakten zu vernebeln und die tatsächlichen, authentischen Gefühle der Klienten durch “Imaginationen”, Übungen oder an Zaubertricks erinnernde Methoden wie “EMDR” in Schach zu halten. Damit vermitteln jene Theorien letztlich jedoch die Botschaft: Du darfst nicht leiden, nicht klagen, dich nicht beschweren, jedenfalls nicht zu lange, auch wenn es genug Gründe dafür gäbe – übrigens ganz im Einklang mit dem “Zeitgeist”, der die Menschen nötigt, noch das größte Elend positiv zu werten. Für den gängigen Rückgriff auf einen antiquierten, hausbackenen Mystizismus, nach dem Motto, in jedem Unglück stecke auch der Keim zu etwas Gutem, kann ich überhaupt keine Notwendigkeit entdecken. Das kommt mir eher vor wie ein arg billiger Trost.

Vielleicht bedarf es also nicht unbedingt einer speziellen Traumatherapie, sondern Therapeutinnen und Therapeuten, die die Lebensgeschichte und die Authentizität ihrer Patienten nicht fürchten. Es gibt viele Möglichkeiten, eine Sprache, einen Ausdruck dafür zu finden, was die Übergriffe in der Kindheit einem Menschen ausgemacht haben, wodurch allmählich auch der Mut wächst, zu der eigenen Persönlichkeit zu stehen, auf sich selbst zu bestehen und die eigenen Interessen zu vertreten. Vielleicht würde dies als Beitrag zum Aufbau der Fähigkeit, sich selbst helfen zu können, bereits genügen. Ich meine, dass letztlich niemand in einer bleiernen Hoffnungslosigkeit versinken müsste, dass es aber auch nicht darum gehen kann, Hoffnung als Selbstzweck zu vermitteln. Es geht doch eigentlich um die aufrichtige Auseinandersetzung mit biographischen Fakten, vergangenen wie gegenwärtigen. Das erscheint mir überfällig. Niemand, auch kein Therapeut, kann wissen, wie sich ein solcher Prozess entwickelt und wie er ausgeht. Das Ende ist wohl immer offen. Ich schließe mit einem Zitat des dänischen Familientherapeuten Jesper Juul, das den modernen Therapien womöglich als Orientierung dienen könnte:

“Das ganze 20. Jahrhundert hindurch haben wir uns daran gewöhnt, dass geringes Selbstwertgefühl, Missbrauch und andere Formen destruktiven Verhaltens, psychosomatische Leiden, Depressionen und vieles mehr den Status von Volkskrankheiten haben. Zwei Dinge können dieses Bild jetzt an der Schwelle zu einem neuen Jahrhundert ändern. Vom Ideal des gut angepassten Massenmenschen entfernen wir uns, und wir haben genug Kenntnisse und Erfahrungen über die Gesundheit und Entwicklung von Menschen sammeln können, die auf vielerlei Weise unser Menschenbild vollständig auf den Kopf stellen.” (“Das kompetente Kind”, 2004)

© Thomas Gruner, Februar 2005