von Alice Miller
Wie kommt das Böse in die Welt?
Saturday 01 June 2002
Es kann heute gar kein Zweifel darüber bestehen, dass das Böse existiert und dass es Menschen gibt, die zur extremen Destruktivität fähig sind. Dank dem Fernsehen kann sich heute jeder ein Bild davon verschaffen. Doch diese Feststellung bestätigt keineswegs die verbreitete Behauptung, dass es Menschen gibt, die böse auf die Welt kommen. Ganz im Gegenteil, alles hängt davon ab, wie diese Menschen bei der Geburt empfangen und später behandelt wurden. Kinder, die von Geburt an Liebe, Respekt, Verständnis, Freundlichkeit und herzliche Zuwendung erfahren, entwickeln selbstverständlich andere Eigenschaften, als ein Kind, das von Anfang an auf Verwahrlosung, Missachtung, Gewalt oder gar Misshandlung stößt, ohne dass ihm jemals ein wohlwollender Mensch beisteht, der es an die Liebe glauben lässt. Wenn dies fehlt, wie es in den Kindheiten aller von mir untersuchten Diktatoren der Fall war, wird das Kind dazu neigen, die erlittene Gewalt zu glorifizieren und sie später in grenzenlosen Ausmaßen auszuüben, wo immer es ihm möglich ist. Denn jedes Kind lernt durch Nachahmung. Sein Körper lernt nicht das, was wir ihm mit Worten beibringen wollten, sondern das, was dieser Körper erfahren hat. Daher lernt ein geschlagenes, verletztes Kind zu schlagen und zu verletzen, während das beschützte und respektierte Kind lernt, Schwächere zu respektieren und zu beschützen. Weil es nur diese Erfahrung kennt.
Das Neugeborene ist unschuldig
Der bekannte amerikanische Kinderarzt Dr. Brazelton hat eine Gruppe von Müttern gefilmt, als sie ihre Babies gehalten und gefüttert haben, jede auf ihre besondere Weise. Nach mehr als 20 Jahren wiederholte er dieses Experiment mit Frauen, die aus diesen Babies herausgewachsen sind und nun selber Mütter wurden. Es war verblüffend, dass sie ihre Babies in der genau gleichen Art gehalten haben, wie sie selbst von ihren Müttern gehalten worden waren, obwohl sie natürlich keine bewussten Erinnerungen aus dieser ersten Lebenszeit haben konnten. Damit lieferte Brazelton unter anderem den Beweis, dass wir in unserem Verhalten von unbewussten Erinnerungen gesteuert werden, die lebensbejahend und freundlich oder traumatisch und destruktiv sein können.
Der französische Gynäkologe Frederic Leboyer hat in den 70er Jahren gezeigt, dass Kinder, die ohne Gewalt entbunden und liebevoll empfangen werden, nicht verzweifelt schreien, sogar einige Minuten nach der Geburt lächeln können und keine Zeichen irgendwelcher Destruktivität aufzeigen. Wenn man sie nicht von den Müttern trennt, wie das noch in den Kliniken der 50er Jahre üblich war, entwickelt sich zwischen Mutter und Kind eine Vertrauensbeziehung, die für das ganze Leben positive Auswirkungen hat. Denn in der Gegenwart ihres Neugeborenen kommt es bei der Mutter zur Ausschüttung des sogenannten Liebeshormons (Oxytocin), das der Mutter ermöglicht, die Signale des Kindes intuitiv zu verstehen und auf seine Bedürfnisse empathisch einzugehen. Diese Phänomene beschreibt Michel Odent in seinem neuesten Buch „Die Wurzeln der Liebe, Wie unsere wichtigste Emotion entsteht“, Walter Verlag 2001.
Warum sind diese wichtigen, bahnbrechenden Erkenntnisse über die Natur des Menschen nicht in die breite Öffentlichkeit durchgedrungen? Die Werke von Leboyer haben zwar das Bild der Geburtenpraxis verändert, aber die philosophischen, soziologischen, psychologischen und letztlich auch theologischen Folgerungen, die seine Entdeckung des unschuldigen Neugeborenen nahe legt, scheint die Gesellschaft noch nicht wahrgenommen zu haben. Das zeigt sich auf vielen Gebieten, in Schulen, im Strafsystem, in der Politik. All diese Gebiete sind von der Vorstellung beherrscht, Strafen, insbesondere körperliche Strafen, die man „Korrekturen“ nennt, seien wirksam und unschädlich. Es herrscht noch wenig Kenntnis davon, dass man mit körperlichen Strafen das Böse erschafft, den man später – mehr oder weniger vergeblich -mit vermehrtem Schlagen auszutreiben versucht.
Das Böse wird mit jeder Generation neu erschaffen
Im Mittelalter war es üblich, an den Wechselbalg zu glauben. Damit war das Kind des Teufels gemeint, das dieser den wohlmeinenden Müttern in die Wiege legte, nachdem er ihnen ihr eigenes gestohlen hatte. Es ist zwar nicht bekannt, mit wem der Teufel seine bösen, teuflischen Kinder gezeugt haben sollte und was er mit den guten, gestohlenen machte, aber Tatsache ist, dass die Mütter von sogenannten Wechselbalgen dazu angehalten wurden, dieses Kind streng zu erziehen, das heißt besonders grausam zu züchtigen, damit es zu einem edlen Menschen heranwächst.
Heute glauben wir nicht mehr an Wechselbalge, aber der Glaube an die Wirksamkeit der Strafen, die Idee, dass man mit Strafen ein böses Kind „zur Vernunft“ bringen könne, scheint den meisten Menschen immer noch unumstößlich. Sogar Sigmund Freud glaubte, dass ein Sadist Freude habe am Quälen der anderen, weil er seinen Todestrieb, mit dem wir alle angeblich geboren werden, nicht genug sublimieren konnte.
Eine ganz neue Version vom angeborenen Bösen liefert die Genetik. Es soll Gene geben, so wird häufig behauptet, die manche Menschen zu bösen Taten treiben, auch wenn sie „viel Liebe“ in der Kindheit erfahren. Ein solcher Mensch ist mir allerdings bis heute nie begegnet. Alle Kindheitsgeschichten der Serienverbrecher und Diktatoren, die ich untersuchte, weisen ausnahmslos extreme Grausamkeiten auf, die aber in der Regel von den Betroffenen selbst geleugnet werden. Nicht nur von ihnen. Ein Großteil der Gesellschaft scheint diese Zusammenhänge zu leugnen oder zu ignorieren.
Wenn man die Gentheorie ernst nimmt, müsste man in der Lage sein zu erklären, weshalb ausgerechnet in Deutschland, ca. 30 Jahre vor dem Dritten Reich so viele Kinder, viele Millionen, mit schlechten Genen geboren seien, Kinder, die später ohne weiteres bereit waren, Hitlers grausame Befehle auszuführen. Warum gab es davor und gibt es heute keine solche Anhäufung der schlechten Gene in Deutschland? Ich stelle diese Frage immer wieder, bekomme aber keine Antwort darauf, weil sie gar nicht beantwortet werden kann. Hitlers Helfer waren alle früh zum Gehorsam erzogene, brutal gezüchtigte, gedemütigte Kinder, die ihre unterdrückten Gefühle von Zorn und ohnmächtiger Wut später an Unschuldigen abreagiert haben, weil sie es, mit Hitlers Segen, endlich durften, ohne eine Bestrafung zu riskieren. Heute ist die Erziehung in Deutschland im allgemeinen anders. Doch da, wo die Brutalität der Erziehung immer noch besteht, werden ihre Methoden allzu deutlich im Verhalten der Jugendlichen manifestiert, die ebenfalls die Schmerzen der erlittenen Demütigungen verleugnen, Sündenböcke attackieren und ihr Verhalten ideologisieren.
Die Gentheorie nützt uns zum Verständnis des Bösen so wenig wie das Märchen vom Wechselbalg und die Theorie des Todestriebes. Laut statistischen Erhebungen (Olivier Maurel, La Féssée, La Plage 2001) sind immer noch mehr als 90% der Weltbevölkerung davon überzeugt, dass Kinder Schläge brauchen. Wir müssen uns endlich der Wahrheit stellen, dass das Böse zwar existiert, aber nicht angeboren ist, sondern von der Gesellschaft produziert wird, täglich, stündlich, ohne Unterbruch, in der ganzen Welt. Das geschieht sowohl in der Geburtenpraxis wie auch in der Erziehung der kleinen Kinder, die später zu Verbrechern WERDEN können, wenn ihnen niemals ein helfender Zeuge beisteht. In den Kindheiten von Serienmördern und Diktatoren ließen sich solche helfenden Zeugen nicht finden.
Die Dynamik der Grausamkeit am Beispiel der Diktatoren
Jeder Diktator quält sein Volk auf die gleiche Art, wie er einst gequält wurde als Kind. Demütigungen, die er später als Erwachsener in seinem Leben erfahren hatte, hatten einen viel geringeren Einfluss auf sein Handeln, als die emotionalen Erlebnisse der ersten Jahre, die in seinem Gehirn für immer kodiert, aber meistens nicht abrufbar sind. Da fast jeder Diktator sein Leiden (seine einstmalige grenzenlose Hilflosigkeit angesichts der Brutalität) verleugnet, kann er es nicht auflösen, er braucht immer wieder Sündenböcke, um die alte, aus der Kindheit stammende Angst zu rächen und sie nicht fühlen zu müssen. Das lässt sich am besten an Beispielen erläutern:
Adolf Hitlers Vater Alois war ein uneheliches Kind. Es bestand der Verdacht, dass er der Sohn eines jüdischen Kaufmanns aus Graz war, in dessen Haushalt seine Mutter, Maria Schickelgruber angestellt gewesen war, als sie schwanger wurde. Der Verdacht war nicht leicht von der Hand zu weisen, weil Adolf Hitlers Großmutter für ihr Kind 14 Jahre lang Alimente von diesem Kaufmann erhielt. Alois musste sehr unter diesem Verdacht gelitten haben, unzählige Änderungen seines Namens (Heidler, Hydler etc) erbringen dafür den Nachweis. Es war für ihn eine unerträgliche Scham, als unehelich geboren und der jüdischen Herkunft verdächtigt zu sein. Und die Demütigung ließ sich nicht aus der Welt schaffen. Der leichteste Weg für ihn, sich der aufgestauten Wut zu entledigen, war die tägliche Züchtigung seines Sohnes Adolfs. Ich habe diese Geschichte ausführlich im Buch „Am Anfang war Erziehung“ beschrieben und in den beiden letzten Büchern, „Wege des Lebens“ und „Evas Erwachen“, wieder aufgenommen, um die Entstehung von Hass zu illustrieren und die Rolle der Kindheit in diesem Prozess zu verdeutlichen. In der ganzen Geschichte des Antisemitismus und der Judenverfolgung hatte noch kein Herrscher die Idee gehabt, jeder Bürger seines Landes müsse sich bis zur dritten Generation legitimieren, dass er kein Jude sei, um nicht umgebracht zu werden. Das war Hitlers ganz privater Wahn, der auf die Unsicherheit seiner Existenz als eines ständig bedrohten und gedemütigten Kindes in der eigenen Familie zurückführt. Millionen haben mit ihrem Leben bezahlt, damit dieses Kind, später ein kinderloser Erwachsener seine Rache nehmen konnte, indem er unbewusst das Szenario seiner Kindheit auf die politische Bühne projizierte.
Es sträubt sich alles in uns, diese von unserem Bewusstsein unabhängige Aktivität unseres körperlichen und emotionalen Gedächtnisses zu erkennen. Das ist begreiflich, weil diese Erkenntnisse neu und noch ungewohnt sind, aber vor allem, weil sich die Regie dieses Gedächtnisses unserer Kontrolle entzieht. Doch gerade die Kenntnisnahme dieser Phänomene kann uns eine bessere Kontrolle und einen besseren Schutz vor deren Auswirkungen erlauben. Eine Mutter, der die Hand gegen ihren Willen „ausrutschte“, weiß im allgemeinen nicht, dass sie ihr Kind nur deshalb schlägt, weil ihr Körper und dessen Erinnerungen sie dazu treiben. (Müttern, die als Kinder nicht geschlagen wurden, rutscht die Hand gewöhnlich nicht aus). Doch wenn sie es weiß, kann sie besser damit umgehen, sie kann sich besser kontrollieren und sowohl ihrem Kind wie auch ihr selber Leid ersparen.
Ähnlich wie Hitler wusste Stalin nicht, dass ihn sein Körpergedächtnis dazu trieb, seine private Geschichte der unheimlichen Bedrohung als Kind ohne rettende Zeugen auf der Bühne der großen Sowjetunion auszuspielen. Hätte er das gewusst, er hätte seine Ängste besser kontrollieren können, und Millionen hätten nicht sterben müssen. Und wäre dieses Wissen damals schon Gemeingut, hätten die Regierungen in den letzten fünfzig Jahren inzwischen vielleicht geeignete Strategien entwickelt gehabt, die die gefährliche Ansammlung von Macht zu Zwecken der Angstabwehr eines Einzelnen verhindern könnten. In dieser Richtung ist in dieser langen Zeit nichts geschehen.
Stalin, ein Einzelkind, geboren wie auch Hitler nach drei toten Kindern, wurde von klein auf von seinem fast immer betrunkenen, jähzornigen Vater geschlagen und litt trotz großer Erfolge bis an sein Lebensende an einem Verfolgungswahn, der ihn Millionen von unschuldigen Menschen umbringen ließ. Wie das Kind einst fürchten musste, jeden Moment vom eigenen unberechenbaren Vater umgebracht zu werden, so hatte nun der erwachsene Stalin sogar Angst vor seinen engsten Mitarbeitern. Doch nun hatte er die Macht, die es ihm erlaubte, diese Furcht mit Hilfe der Demütigung anderer abzuwehren.
Mao war der Sohn eines „strengen“ Lehrers, der ihn mit schwerer Zucht zum Gehorsam und zur Weisheit erziehen wollte. Wir wissen, welche Weisheiten Mao später seinem Riesenvolk mit angeblich besten Absichten, aber mit Gewalt und um den Preis von 35 Millionen Toter beibringen wollte. Ceauçescu wuchs auf mit zehn Geschwistern in einem Zimmer und zwang später die rumänischen Frauen zu ungewollten Kindern.
Die Reihe von Beispielen ist unendlich. Leider weigern wir uns diese Tatsachen anzuschauen. Doch wir könnten aus ihnen lernen, wie Hass entsteht, und wären ihm in Zukunft weniger ausgeliefert, wenn wir sein Entstehen ernstnehmen würden.
Die Entstehung von Hass
Warum suchen wir so eifrig das angeborene Böse in den Genen? Aus dem einfachen Grund, weil die meisten von uns geschlagene Kinder waren und das Aufflammen der verdrängten Schmerzen der einst erlittenen Demütigungen fürchten. Da wir gleichzeitig die Botschaft erhielten, dies sei zu unserem Besten geschehen, lernten wir, die Schmerzen zu unterdrücken, aber die Erinnerung an die erlittenen Demütigungen blieb in unserem Gehirn und in unseren Körpern gespeichert. Da wir unsere Eltern liebten, glaubten wir ihnen, dass Schläge gut für uns waren. Die meisten glauben es bis heute und behaupten, man könne Kinder nicht ohne Schläge, also ohne Demütigung, erziehen. Damit bleiben sie im Teufelskreis der Gewalt und der Verleugnung der einst erlittenen Demütigung, das heißt im Bedürfnis nach Rache, Vergeltung, Strafe. Die in der Kindheit unterdrückten Emotionen der Wut verwandeln sich im Erwachsenen in mörderischen Hass, der von religiösen und ethnischen Gruppen ideologisch verbrämt wird. Die Demütigung ist ein Gift, das schwer auszurotten ist, weil es zur Ausrottung gebraucht wird und neue Demütigungen produziert, die nur eine Spirale der Gewalt und eine Verschleierung der Probleme bewirken.
Um aus diesem Kreis herauszukommen, muss man sich der eigenen Wahrheit stellen. Einst WAREN wir gedemütigte Kinder, Opfer der Ignoranz unserer Eltern, Opfer ihrer eigenen Geschichte und unverarbeiteter Kindheit. Aber heute, als Erwachsene, müssen wir es nicht länger bleiben. Wir haben die Möglichkeit, uns unserer Geschichte zu stellen, zu erkennen, dass das Schlagen von Kindern nutzlos und sogar gefährlich ist, weil sich dadurch Hass und Vergeltungswünsche entwickeln, die sich gegen uns und die ganze Gesellschaft entladen werden, unausweichlich, wenn wir im Nichtwissen, in der selbstgewählten Ignoranz verbleiben. Als Kinder hatten wir keine Wahl, als die Wahrheit zu verleugnen, wir hätten sonst den Schmerz nicht ausgehalten, nicht überlebt. Die Verleugnung des Leidens sichert einem geschlagenen Kind das Überleben in einer unerträglichen Situation. Es wird den Schmerz möglicherweise sein ganzes Leben bagatellisieren. Allerdings ist der Preis, den es dafür zu bezahlen gilt, sehr hoch, weil der Körper die Wahrheit kennt, und das emotionale Gedächtnis sich manchmal nur in Krankheitssymptomen äußern kann. Vor allem aber äußert es sich in der unumstößlichen Meinung, dass Kinder Schläge brauchen.
Im Gegensatz zum Kind haben wir als Erwachsene andere, gesündere Optionen als die Verleugnung. Wir können uns für das Wissen, das Bewusstsein entscheiden und uns nicht einzig vom emotionalen, unbewussten Wissen unseres Körpers treiben lassen, das uns in Angst vor der Wahrheit festhält. Vielleicht lebt in vielen von uns ein kleiner Stalin, der trotz der unendlichen Macht immer noch Angst vor seinem Vater hatte und sich an die Verleugnung klammerte. Wie Hitler glaubte er, dass die Zerstörung von Millionen ihn schließlich von seiner quälenden Angst vor dem Vater befreien würde. Das tat sie aber nicht. Diese Illusion treibt viele einst gedemütigte Kinder zum Verbrechen.
Mit unserem heutigen Wissen ausgestattet, können wir allmählich zu anderen Vorstellungen und Lösungen gelangen, als denjenigen, die uns in einer tausendjährigen Tradition der Gewalt, Strafe, Vergeltung (und der dahinter stehenden Schwäche, Ignoranz und Angst) vermittelt wurden. Wenn wir in ihnen stecken bleiben, lernen wir nicht aus den Fakten, die sich uns ständig anbieten. Diese sind nicht nur bei Massenverbrechern zu finden, sondern auch in den positiven Beispielen der Geschichte, die ebenfalls Jahrtausende unbeachtet blieben.
Wie Jesus erzogen wurde
Der von allen christlichen Kirchen angebetete Jesus ist bei Eltern aufgewachsen, die ihn als ein Kind Gottes angesehen haben. Es ist anzunehmen, dass sie ihn nie geschlagen haben. Sie brachten ihm die größte Hochachtung und Liebe entgegen. Wir wissen, welchen Menschen diese auf Liebe, Toleranz und Respekt beruhende Erziehung hervorgebracht hat. Was er bekommen hat, gab er weiter: Mitgefühl, Toleranz, Liebe, Respekt. Wie kommt es, dass sich in 2000 Jahren kein Vertreter der Kirche daran orientierte? Dass sich niemals die Kirche gegen das Schlagen der kleinen Kinder ausgesprochen hat? Dass zwar Barmherzigkeit, Toleranz und Vergebung für Erwachsene gepredigt und ausgeübt, aber den Kindern ausdrücklich verweigert wird? Dass die Eltern Jesu niemals den Gläubigen als Vorbild empfohlen wurden? Dass stattdessen christliche Schulen in Afrika Einspruch erheben, wenn die Regierung der Republik Komores das Schlagen der Kinder in Schulen verbieten will? Es heißt in dieser Petition, dass das Strafen der Schulkinder zu den religiösen Pflichten gehöre All das kann man sich nicht anders erklären, als dass die handelnden Erwachsenen in der Tradition der Macht, der Vergeltung und der Rache gegen verleugnete Demütigungen stehen, die sie ahnungslos an die nächste Generation weitergeben.
Konsequenzen
Heute können wir die Läsionen in den Gehirnen der geschlagenen oder verwahrlosten Kinder auf dem Bildschirm des Computers sehen. Zahlreiche Artikel der Hirnforscher, unter anderen von Bruce D. Perry, der auch Kinderpsychiater ist, geben darüber Auskunft, nicht nur in Fachzeitschriften, sondern auch im Internet. Es ist höchste Zeit, aus dem langen Schlaf zu erwachen. Es drohen uns nirgends die Gefahren der Vernichtung, die vielen von uns in der Kindheit tatsächlich, real drohten. Wir brauchen uns nicht mehr gegen etwas zu wappnen, das bereits geschehen ist. Doch es drohen uns Gefahren in unserem Innern, wenn wir das Wissen unseres Körpers ignorieren. Es kann gefährlich sein, die wahren Beweggründe unseres Handelns nicht erfassen, nicht verstehen zu können. Indessen kann uns die Kenntnis unserer Geschichte davon befreien, vor bereits vergangenen Gefahren fliehen zu müssen, immer wieder überholte, unbrauchbare Strategien anzuwenden und emotional blind zu bleiben. Wir haben heute die Chance, aus Erfahrungen zu lernen und neue kreative Lösungen für Konflikte zu suchen, die auf Respekt beruhen. Das können wir, wenn wir uns darüber im Klaren sind, dass die Demütigung des anderen niemals eine wirkliche, dauerhafte Lösung bewirken kann, sondern – sowohl in der Erziehung als auch in der Politik – neue Brutstätten der Gewalt errichtet. Kinder, die zu Hause bei ihren Eltern die Methoden der Demütigung und Bedrohung lernen, werden in der Schule ausüben, was sie zu Hause gelernt haben. Und sie lernen es spätestens im Alter von anderthalb Jahren, wie eine Umfrage bestätigt hat, also in der Zeit der Ausformung ihres Gehirns. Daher die Langzeitwirkung dieser Lektionen, dieser Schule der Gewalt.
Mit Video-Kameras gegen diese simple Wahrheit anzukämpfen, ist eine Art Blindekuh Spiel. Wir müssen uns schon etwas anderes einfallen lassen: zuhören, hinschauen und eine ehrlichen, respektvollen Umgang zu riskieren, statt nur an den Schutz einer bestrafenden, zerstörerischen Macht zu glauben. Auch wenn wir als Kinder nicht lernen konnten, einer respektvollen Kommunikation zu vertrauen, es ist nie zu spät, dies zu lernen. Dieser Lernprozess scheint mir eine sinnvolle und hoffnungsvolle Alternative zum Selbstbetrug mit Hilfe der Macht.
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