Körper und Moral

von Alice Miller

Körper und Moral
Sunday 01 June 2003

(Ein Buch unter dem Titel “Die Revolte des Körpers” ist in Vorbereitung und wird voraussichtlich im April 2004 erscheinen.)

Ich las vor kurzem eine Mitteilung über eine Therapiegruppe mit Kriegsveteranen, die an ihren schweren in Vietnam erlittenen Traumen zwei Jahre gearbeitet haben. Nachdem sie gelernt hatten, ihre eingefrorenen Emotionen dank der Empathie der Gruppe leben zu lassen, tauchten bei all diesen Menschen die Traumen ihrer Kindheit auf, und alle waren der Meinung, dass diese noch viel schmerzhafter waren, als die späteren Erlebnisse im grausamen Krieg. Diese Mitteilung gab mir den letzten Impuls zum Schreiben dieses Artikels, den ich schon vor einigen Wochen schreiben wollte, nachdem ich nämlich einen Brief und einen Artikel von einem Forschungsteam in San Diego erhalten hatte, der mir sehr aufschlussreich erschien.

Das Team hat 17 000 Menschen, im Durchschnittsalter von 57 Jahren, befragt wie ihre Kindheit gewesen war und welche Krankheiten sie in ihrem Leben zu verzeichnen hatten. Es hat sich eindeutig herausgestellt, dass die Zahl der schweren Erkrankungen bei einst misshandelten Kindern um ein vielfaches größer war, als bei Menschen, die ohne Misshandlungen aufgewachsen sind, auch ohne erzieherische Schläge. Diese hatten sich im späteren Leben nicht über Krankheiten zu beklagen. Der Titel des kurzen Artikels war: Wie man aus Gold Blei macht, und der Kommentar des Autors lautete: Die Resultate sind eindeutig, vielsagend, aber verborgen, versteckt.

Warum versteckt? Weil sie nicht publiziert werden können, ohne dass sich die Anklage gegen die Eltern erhebt, und das ist in unserer Gesellschaft immer noch verboten. Auch in den heutigen Therapien: Zuerst werden die Patienten dazu ermutigt, ihre starken Emotionen zuzulassen, das kann man jetzt überall lesen und hören. Mit dem Erwachen der Emotionen tauchen gewöhnlich die verdrängten Erinnerungen aus der Kindheit auf, Erinnerungen an den Missbrauch, die Ausbeutung, die Demütigungen und Verletzungen, die in den ersten Lebensjahren erlitten wurden. Mit all dem kann ein Therapeut nicht umgehen, wenn er diesen Weg nicht selber gegangen ist. Therapeuten, die das getan haben, sind aber immer noch selten anzutreffen. Also bieten die meisten ihrem Klienten die Schwarze Pädagogik an, das heißt die Moral, die ihn einst krank gemacht hat. Der Körper versteht diese Moral überhaupt nicht, kann nichts mit dem Vierten Gebot anfangen, er lässt sich auch nicht mit Worten täuschen, wie unser Verstand es tut. Der Körper ist der Hüter unserer Wahrheit, weil er die Erfahrung unseres ganzen Lebens in sich trägt und dafür sorgt, dass wir mit der Wahrheit unseres Organismus leben können. Er zwingt uns mit Hilfe der Symptome, diese Wahrheit auch kognitiv zuzulassen, damit wir in Harmonie mit dem in uns lebendigen, einst missachteten und gedemütigten Kind leben können.

Das Kind konnte nicht anders, als seine Verfolger zu idealisieren, zu lieben, von ihnen eine Änderung zu erwarten und sich an sie zu klammern, weil es niemand anderen hatte als seine Eltern. Gerade die Kinder, die am schwersten misshandelt wurden, hängen ihr Leben lang an ihren Eltern, wenn sie keine erfolgreiche Therapie gemacht haben. Der Erwachsene jedoch, der durch die Folgen der frühen Misshandlungen an seiner Gesundheit leidet, kann diesen Weg gehen, er kann sich sowohl von seinen Erwartungen, als auch von seinen Idealisierungen und Bindungen an die Eltern, die er Liebe nennt, lösen. Wenn er das nicht tut, bleibt er in der Situation eines abhängigen Kindes und bezahlt dafür nicht nur den Preis der Krankheit sondern auch sehr häufig der eingeschränkten Sensibilität für seine eigenen Kinder. Wenn er es aber tut, kann er die Liebe, die er den Eltern entzogen hat, seinen Kindern zufließen lassen.

Ich weiß, dass das, was ich hier schreibe, vieles in Frage stellt, das wir im Religionsunterricht und als Kinder im Elternhaus gelernt haben, vor allem dem Vierten Gebot. Aber es ist nun mal so, dass uns erst heute die Zusammenhänge bekannt sind und dass wir als Erwachsene von diesem Wissen profitieren können. Wir können selber entscheiden, ob wir das ewige Kind bleiben wollen, weil wir uns von einst misshandelnden Eltern nicht zu lösen vermögen, und dies mit Krankheiten bezahlen oder das Erwachsenwerden wagen, auch wenn wir deswegen der traditionellen Moral widersprechen müssen.

Der ungarische Schriftsteller und Nobelpreisträger Imre Kertesz erzählt in seinem berühmt gewordenen Buch Roman eines Schicksalslosen von seiner Ankunft im Konzentrationslager Auschwitz. Er war damals noch ein Junge von 15 Jahren, und er beschreibt sehr genau, wie er alles Abstruse und Grausame, das ihm dort bei der Ankunft begegnet ist, als etwas Positives und für ihn Günstiges zu deuten versuchte. Ich denke, dass jedes misshandelte Kind eine solche Haltung annehmen muss, um zu überleben. Es deutet seine Wahrnehmungen um und versucht auch dann Wohltaten zu erblicken, wo ein Außenstehender ein offensichtliches Verbrechen sehen würde. Ein Kind hat keine Wahl, es muss verdrängen, wenn es keine helfenden Zeugen hat und den Verfolgern total ausgeliefert ist. Aber später als Erwachsener, wenn diese Menschen das Glück haben, wissenden Zeugen zu begegnen, haben sie eine Wahl. Sie können ihre Wahrheit zulassen, aufhören, den Täter zu bemitleiden, zu verstehen und ihm helfen zu wollen; sie können dessen Taten eindeutig verurteilen. Dieser Schritt beinhaltet eine große Erleichterung für den Körper. Nun muss er nicht den erwachsenen Teil mit Drohungen an die tragische Geschichte des Kindes erinnern, er fühlt sich von ihm verstanden, respektiert und geschützt, sobald der Erwachsene seine ganze Wahrheit kennen will.

Wir können uns vielleicht nicht immer all das geben, was wir als Kinder vermissten, aber etwas können wir als Erwachsene auf jeden Fall lernen: nämlich uns den Respekt zu geben, den uns die Eltern schuldig geblieben sind. Und damit können wir uns besser verstehen. Mit dem Respekt für uns selbst beginnt die Reparatur der Folgen der Misshandlungen. Wir können uns die Würde zurückholen, die man uns gestohlen hat, als man uns nicht als fühlende Menschen behandelte, sondern wie fügsame, leblose Objekte benutzt hat. Mit dem Wiedergewinn der eigenen Würde und der Erkenntnis unserer Wahrheit hören wir auf, die Eltern zu idealisieren, weil wir dies nicht mehr wie damals in der Kindheit nötig haben. Wir wissen, dass selbst wenn sich die Eltern auch verändern sollten, nichts an den alten Verletzungen vernarben kann, solange WIR uns nicht verändert haben.

Es nützt nichts, wenn wir unsere Eltern verstehen, nur sie selber könnten etwas bei ihnen verändern. Unsere Symptome sind die ungehörte Sprache des Kindes, das die ganze Wahrheit kennt und unseren Respekt erwartet. Wenn wir das Kind nicht mehr im Stich lassen wollen, sondern ihm die Achtung geben, auf die es so lange schon wartet, braucht es keine Symptome mehr. Es muss unsere Empörung hören und zwar eindeutig, ohne wenn und aber. Dafür brauchen wir einen Begleiter auf diesem Weg, einen wissenden Zeugen, der unsere Empörung über die Eltern teilen kann, der uns unterstützt und der nicht aus Angst vor der Strafe seiner eigenen Eltern in die analytische Neutralität flüchtet.
In Du sollst nicht merken zeigte ich am Leben Franz Kafkas und anderer Schriftsteller auf, dass das Schreiben ihnen zwar zum Überleben verholfen hatte, aber nicht genügte, um das in ihnen eingesperrte Kind vollständig zu befreien, ihm seine einst verlorene Lebendigkeit und Sicherheit zurück zu geben, weil der wissende Zeuge unentbehrlich ist für diese Befreiung.

Diesen Mechanismus der Abspaltung vom Bewusstsein und der Darbietung der verdrängten Wahrheit in der Literatur konnte ich bei vielen Schriftstellern beobachten. In der Kunst ist die Wahrheit verborgen, versteckt, und so muss man die moralischen Urteile der Gesellschaft nicht fürchten, denn hier in der Kunst ist alles erlaubt. Doch der Preis, den der Schriftsteller für seine Verleugnung bezahlt, ist häufig sehr hoch, wie wir aus den zahlreichen Beispielen sehen. Und der Preis wäre heute nicht mehr nötig, wenn wir das bereits bestehende Wissen ernstnehmen würden.

Menschen, die als Kinder bedingungslos geliebt wurden, können als Erwachsene mühe- und zwanglos ihren alten Eltern die Zuneigung erweisen, die sie einst selbst von ihnen empfangen haben. Menschen hingegen, die als Kinder misshandelt und betrogen wurden, entwickeln oft einen unterschwelligen Hass, den sie nicht selten an ihren Kindern auslassen, und den eigenen Eltern erweisen sie Dienste aus purer Pflicht, meist gekoppelt mit der Erwartung, dass diese endlich zu den Eltern werden, nach denen sich das Kind gesehnt hat. Daher führt die kindliche Treue im Erwachsenen, gepaart mit Moral (es hat mir gut getan, ich habe die Schläge verdient, alle Eltern machen gelegentlich Fehler usw.), nicht selten zur Heuchelei und Gewalt gegenüber Unschuldigen.

Was erreicht man mit dem Vierten Gebot? Kann ein Gebot echtes Mitgefühl erzeugen? Können wir einem Menschen Liebe diktieren, dessen Körper in der frühesten, ausschlaggebenden Zeit Gewalt und nicht Liebe gespeichert hat? Wir erreichen nur, dass er seine wahren Gefühle, der Moral zuliebe, tief unterdrückt, was oft zu Krankheiten wie Tumorenbildung und Kreislaufstörungen führt. Aber aus der Welt schaffen, können wir den unterdrückten und oft gegen das eigene Selbst gerichteten Hass nicht, wie auch immer wir es mit Hilfe der Moral versuchen.

So geschieht es selten, dass jemand den Mut hat, deutlich und ehrlich zu sagen: Ich habe keine Liebe von meiner Mutter empfangen und empfinde keine Liebe für sie. Sie ist mir fremd. Sie ist einsam und könnte einen liebenden Sohn gebrauchen, aber ich will nicht lügen, um ihr diese Illusion zu geben. Ich bin mir und ihr die Wahrheit schuldig, dass ich als Erwachsener keine echte Liebe für sie empfinden kann, weil ich als Kind so unter ihrer Blindheit gelitten habe. Jemand, der so zu denken wagt, wird für seine Kinder nicht mehr gefährlich sein und wird wohl kaum mit schweren, unbegreiflichen Erkrankungen rechnen müssen, weil er die Signale seines Körpers wahrnimmt, bevor es zu spät sein kann.

Seitdem ich das an mir selbst als Tochter und als Mutter und an anderen Menschen erfahren habe, habe ich verstanden, warum mir die Primärtherapie nicht geholfen hat. Im Teufelskreis von wiederholten quälenden Schmerzen konnte ich zwar Facetten meiner Kindheitsgeschichte erkennen, aber nicht die Position des Kindes verlassen, das in seiner Ohnmacht stecken blieb. Noch viel weniger half mir die Psychoanalyse, die Partei für die Eltern nimmt und damit die Schuldgefühle und die Abhängigkeit des Kindes zementiert.
Meine Lektüre von zahlreichen Biographien und von erschütternden Berichten in den ourchildhood Foren haben mich zu Folgerungen geführt, die ich hier in einigen Punkten verkürzt formuliere:

1- Die “Liebe” des ehemals misshandelten Kindes für seine Eltern ist keine Liebe. Sie ist eine mit Erwartungen, Illusionen und Verleugnungen belastete Bindung, die einen hohen Preis von allen Beteiligten fordert.
2- Den Preis dieser Bindung zahlen in erster Linie die eigenen Kinder, die im Geist der Lüge aufwachsen, weil man ihnen automatisch das zufügt, was einem angeblich “gut getan hat”. Auch der Betreffende zahlt für seine Verleugnung nicht selten mit Gesundheitsschäden, weil seine “Dankbarkeit” im Widerspruch steht zum Wissen seines Körpers.
3- Der Misserfolg sehr vieler Therapien lässt sich durch die Tatsache erklären, dass sich die meisten Therapeuten selber in der Schlinge der traditionalen Moral befinden und ihre Klienten ebenfalls da hineinzuziehen versuchen, weil sie nichts anderes kennen. Sobald die Klientin zu fühlen anfängt und fähig wird, z.B. die Taten ihres inzestuösen Vaters eindeutig zu verurteilen, steigt in der Therapeutin vermutlich die Angst vor der Bestrafung durch die eigenen Eltern auf, wenn sie ihre Wahrheit sehen und aussprechen sollte. Wie anders lässt es sich verstehen, dass die Vergebung als Mittel der Heilung angeboten wird? Therapeuten schlagen sie häufig vor, um sich selbst zu beruhigen, wie die Eltern es auch getan haben. Aber weil das so ähnlich klingt, braucht der Patient viel Zeit, um die Pädagogik zu durchschauen. Wenn er sie schließlich erkennt, kann er den Therapeuten nicht verlassen, weil inzwischen die neue toxische Bindung bereits entwickelt wurde. Für ihn ist jetzt der Therapeut die Mutter, die ihm zur Geburt verhalf, weil er hier zu fühlen angefangen hat. So fährt er fort, die Rettung vom Therapeuten zu erwarten, statt auf seinen Körper zu hören, der ihm mit seinen Signalen die Hilfe anbietet.
4- Wenn er dann, von einem empathischen Zeugen begleitet, seine Angst vor den Eltern (oder Elternfiguren) durchleben und verstehen konnte, kann er allmählich die destruktiven Bindungen auflösen. Die positive Reaktion des Körpers wird nicht lange auf sich warten lassen, dessen Mitteilungen werden immer verständlicher für ihn werden, sie hören auf, in rätselhaften Symptomen zu sprechen. Er wird dann entdecken, dass seine Therapeuten sich und ihn, (oft ungewollt) getäuscht haben, denn die Vergebung verhindert geradezu die Vernarbung der Wunden, von deren Heilung schon gar nicht zu sprechen. Das kann jeder an sich selbst feststellen.