von Thomas Gruner
Perversion und Gesellschaft, Teil 2
Wednesday 30 June 2004
3 „Ich denke immer, das bin gar nicht ich, die alle diese Dinge macht. Ich will das doch gar nicht. Es ist, als ob mein Vater mich immer noch zu diesen Männern schickt. Dabei suche ich in Wahrheit nur jemanden, der mir zuhört.“
(Aussage einer Frau, Ende 30: Die stumme Sprache des pervers gemachten Kindes)
Ein Mann, der als Kind von seinem Vater oftmals anal vergewaltigt wurde und dies seit einigen Jahren auch wieder erinnert, besucht eine Gesprächsgruppe, in der sich Männer und Frauen über ihre Kindheit austauschen, und berichtet folgendes: In seiner Nachbarschaft wohne eine „völlig kaputte“ Familie. Kürzlich sei ihm die 12-jährige Tochter im Treppenhaus begegnet und habe ihn buchstäblich „angemacht“. Sie habe ihm ganz eindeutig Sex angeboten. Für ihn sei schon klar, dass dieses Kind in der Familie missbraucht werde. Seither verfolge ihn aber die Phantasie, dieses Mädchen seinerseits zu missbrauchen. Jahrelang habe er geglaubt, aufgrund der Vergewaltigungen impotent zu sein. Er habe auch niemals zuvor sexuelle Phantasien mit Kindern bei sich feststellen können. Vielmehr sei er von Arzt zu Arzt gerannt, aber keines der verordneten Wundermittel bis hin zu Viagra, „für das ich bereits ein Vermögen ausgegeben habe“, konnte die Impotenz nur im Ansatz verändern. Der Mann sagt: „Alles Sexuelle war für mich mit Grauen verbunden. Die Vorstellung, mit einer Frau zu schlafen, kam überhaupt nicht auf. Homosexuell bin ich aber auch nicht, im Gegenteil, der Missbrauch durch meinen Vater hat in mir einen tiefen Ekel vor Männerkörpern hinterlassen, auch vor meinem eigenen. Männer machen mir überdies Angst. Aber jetzt, plötzlich, als dieses Kind sich da an mich heranmacht, passiert etwas mit mir. Ich bekomme eine Erektion, muss zwanghaft onanieren.“ Dem Mann bricht der Schweiß aus, er kann nicht weiter sprechen. Er wird sichtlich von Schamgefühlen überflutet. Ob er denn mit seinem Therapeuten darüber gesprochen habe, wird schließlich aus der Gruppe gefragt. „Ja“, antwortet der Mann, „nur meinte mein Analytiker, dass ich ins Gefängnis komme, wenn ich das Kind missbrauche. Das weiß ich nun aber selbst, ich würde das auch niemals machen. Mein Therapeut ist jedoch der Auffassung, dass die Phantasie an sich doch nicht verwerflich sei, im Gegenteil, ich solle sie ruhig ausleben, nur eben alleine. Das will ich aber nicht. Denn das bin nicht ich. Dann solle ich Ablenkung suchen, zum Beispiel mit Hilfe von Meditation oder Sport. Ich habe das sogar versucht, aber es hat keinen Sinn. Ich merke, dass es gar nicht um pädophile Phantasien geht, was mich erregt ist die Tatsache, dass dieses Mädchen den Missbrauch angeblich will. Der Kick ist die Vorstellung, ich sei dieses Mädchen, das von einem viel älteren Mann missbraucht wird und dies will. Ich erinnere mich, dass mein Vater immer zu mir sagte, wie sehr ich brauche und wolle, was er mit mir macht, und ich sei besser als jede Frau. Irgendwie habe ich das sogar selbst geglaubt. Es ist so ekelhaft. Seit mir das klar wurde, muss ich mich mehrmals am Tag spontan übergeben, ich würge lange Zeit und selbst dann, wenn der Magen völlig entleert sein muss, kommt immer noch dieses Würgen. Ich halte das nicht mehr aus. Ich bin fast 50 Jahre alt und habe mir in meinem Leben nichts Anderes gewünscht, als eine Familie, eine nette Wohnung, vielleicht ein Auto vor der Tür, einen Job. Braver geht es doch nicht mehr. Das alles blieb mir versagt, ich konnte keine Beziehung zu einer Frau eingehen, die über das Händchen-Halten hinausgeht. Seit Jahren bin ich arbeitsunfähig. Mein Vater hat mein ganzes Leben ruiniert. Ich fühle mich völlig am Ende. Was kann ich denn jetzt noch von meinem Leben erwarten, ich kann gar nicht zum Ausdruck bringen, wie verzweifelt ich bin.“
Nach einiger Zeit antwortet ein anderer Mann, Ende 30, und erzählt: „Ihr wisst ja, dass ich mich überhaupt nicht an Ereignisse aus meiner Kindheit erinnern kann. Ich habe auch niemals sexuelle Phantasien gehabt. Auch beim Onanieren nicht. Ich habe sozusagen onaniert wie ein Roboter, das gab mir eine gewisse Entspannung. Genau so habe ich später mit meiner Frau geschlafen. Ich bekomme mühelos eine Erektion, gewissermaßen wie ein Automat, nur empfinde ich nichts dabei. Ich bemerke wohl, wenn ich einen Samenerguss bekomme, aber ich fühle nichts. Weil dies immer so war, habe ich diesen Zustand auch lange Zeit nicht in Frage gestellt, im Gegenteil, irgendwie schmeichelte mir die Fähigkeit, jederzeit über meine Potenz verfügen zu können. So konnte ich meine Frau belügen und Leidenschaft heucheln. Irgendwann merkte ich, dass ich eigentlich gar nichts fühle, auch meiner Frau gegenüber nicht. Ich weiß, dass ich sie liebe, aber ich empfinde nichts. Ich kam mir vor wie tot, wie ein Zombie. Ich fühlte mich total leer. Als unser Sohn vier Jahre alt wurde, fing ich an zu träumen. Wie selten habe ich mich vorher an Träume erinnern können. Nun aber erwachte ich manchmal jede Nacht, ich träumte, ich sei ein kleiner Junge, ein Mann suche mich auf im Dunkeln, wenn ich im Bett bin, lege sich auf mich, presse seinen Penis gegen meinen Anus, es tut weh und von diesem Schmerz erwache ich. Zugleich kann ich nicht mehr unbefangen zu meinem Sohn sein, immer wieder tauchen Phantasien auf, dass ich ihn missbrauche. Ich bin völlig fassungslos deswegen. Ich weiß genau, dass mich Kinderkörper nicht erregen. Ich glaube oft, es ist seine völlige Arglosigkeit mir gegenüber, sein blindes Vertrauen, seine Naivität, die mich aggressiv machen, in mir plötzlich diese sexuellen Phantasien auslösen. Was ist, wenn meine Träume die Wahrheit erzählen? Ein Therapeut erklärte mir, diese könne durchaus, müsse aber nicht so sein. Homosexuelle Wünsche seien bei allen Männern normal. Aber ich habe keine homosexuellen Wünsche, schließlich geht es ja um Phantasien, ein Kind zu vergewaltigen. Was hat das mit Homosexualität zu tun. Ich wünsche mir so sehr, mit meiner Frau schlafen zu können und etwas dabei zu empfinden, für SIE zu empfinden. Ich habe keinen größeren Wunsch. Manchmal, wenn mein Sohn zu mir kommt, und meine Nähe braucht, höre ich eine Stimme in mir, die wörtlich sagt: Du bist ja so blöd und merkst nicht mal, dass du mich geil machst. Ich bekomme regelrecht sadistische Gefühle, mir ist, als hasste ich mein eigenes Kind. Es kommt mir so vor, als ob ich ihm etwas nehmen wolle, das man mir selbst mit Gewalt genommen hat. Er ist ein ausgesprochen hübsches Kind; dasselbe wurde übrigens auch immer von mir gesagt, obwohl ich selbst meine Kinderfotos zutiefst abstoßend finde. Zuweilen onaniere ich bei diesen Phantasien und merke, dass es vielmehr darum geht, gerade dieses hübsche Kind zu beschmutzen; ich will etwas zerstören, aber ich weiß nicht genau was. Das ist die eigentliche Erregung und bei dieser Vorstellung empfinde ich eine seltsame Genugtuung. Es kam schon vor, dass ich mir danach mit Rasierklingen in die Arme geschnitten habe, wie zur Strafe, aber auch, um überhaupt etwas zu fühlen. Inzwischen dreht mein Körper regelrecht durch, entweder habe ich Durchfälle ohne Ende oder ich leide tagelang unter Verstopfung verbunden mit schrecklichen Krämpfen. Seit langem bin ich krank geschrieben. Ich rase mit unglaublicher Geschwindigkeit auf einen Abgrund zu. Wenn ich doch nur erinnern könnte, was in meiner Kindheit geschah. So habe ich das Gefühl, im mir sitzt ein Monstrum, das meine Ehe, meinen Sohn und mein Leben zerstören will. Ich weiß nicht, ob sich das jemand vorstellen kann.“
Eine Frau, ebenfalls Ende 30, erweitert das zuvor Gesagte aus ihrer Sicht: „Diesen Hass, von dem du gesprochen hast, kenne ich gut. Ich wurde von meinem Vater nicht nur missbraucht, er nahm mich auch mit zu seinen Freunden. Ich musste sowohl meinen Vater als auch die anderen Männer oral befriedigen. Sie behandelten mich wie ein Spielzeug, steckten mir den Finger in die Vagina, kniffen mich und lachten. Sie fanden das lustig. Mein Vater achtete sehr darauf, dass ich Jungfrau blieb. Komisch, nicht. Aber das war ihm wichtig, vielleicht deshalb, damit nicht nachgewiesen werden konnte, dass ich missbraucht wurde. Mein Vater liebte es, wenn ich vor ihm nackt posierte. Er gab mir sehr genaue Anweisungen und onanierte dabei. Er keuchte und sagte immer wieder, wie schön ich sei. Ob ihr es glaubt oder nicht, das war das einzige Lob, das ich jemals zu Ohren bekam in meiner Kindheit. Ich bin überzeugt davon, dass meine Mutter wusste, was vor sich ging. Oft weinte sie und klagte mir ihr Leid, weil sie an Depressionen litt und ihre Ehe so eine Last sei mit diesem Mann, der immerzu Sex von ihr wolle. Sie war wohl froh und erleichtert, dass dieser Mann sich mir zuwandte. In ihren Augen war sie die unglücklichste Person der Welt, während ich von meinem Vater herumgereicht wurde. Meine Mutter konnte mich nie leiden, sie behandelte mich eher wie eine Dienstmagd für Küche und Garten. Meinem Vater diente ich zur Befriedigung seiner perversen Wünsche. Wozu war ich sonst auf der Welt. Manchmal, wenn mein Vater mich mitgenommen hatte zu anderen Männern, machte er mir danach ein Geschenk. Etwas, das ich mir immer gewünscht, aber nie bekommen hatte. Das war vermutlich mein Schweigegeld. Meine Eltern waren wohlhabend, jedoch geizig. Meine Mutter sagte dann immer zu meinem Vater: Wie du dieses Kind verwöhnst, sie wird noch überschnappen. Als ich zwölf Jahre alt war, endete der Missbrauch abrupt. Warum weiß ich nicht. Seither kümmerte sich mein Vater nicht mehr um mich. Er hat mich fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich als Kind jemals etwas gefühlt habe, weder Wut noch Verzweiflung. Ich war nur eine Puppe. Ich habe den Missbrauch auch nie wirklich vergessen. Meine Erinnerung war gegenwärtig, aber jahrelang habe ich die Dinge nie beim Namen genannt. Ich arbeitete hart in der Schule, denn mein einziger Wunsch war, sobald wie möglich mein Elternhaus verlassen zu können. Schon als kleines Mädchen starrte ich auf den Zeitpunkt, an dem ich „groß“ sein würde. Mit 19 ging ich dann in diese Großstadt, weit genug entfernt von meinen Eltern. Da ging die Hölle erst richtig los. Niemals in meinem Leben habe ich so eine Verlassenheit empfunden. Ich vernachlässigte das Studium und fand mich stattdessen in Kneipen wieder. Später zeitigte das Folgen, einen Beruf habe ich für mich nie finden können. Ich habe nur Aushilfstätigkeiten in Büros gemacht und war immer wieder über lange Zeiten arbeitslos. Das wird sich nicht mehr ändern, fürchte ich. Ich hockte also in ziemlich herunter gekommenen Schuppen am Tresen und ließ mich von jedem Mann abschleppen, Hauptsache er war hässlich genug. Hauptsache, ich ekelte mich vor ihm. Das muss ich so sagen. Oder ich lief, wenn es nicht zu kalt war, nachts durch die Straßen und ließ mich anquatschen. Dabei empfand ich eine starke Erregung, bekam Herzklopfen, wie andere Menschen, wenn sie verliebt sind. Ist das nicht pervers! Was mich erregte, war dieser Blick eines hässlichen Mannes, der gerne viel älter sein konnte, auf meinem jungen, für diesen Mann schönen Körper. Der dem geilen Blick dieses Mannes preisgegebene Körper war für mich der Höhepunkt der Verachtung. Ich kann sagen, dass eigentlich diese Verachtung mein Orgasmus gewesen ist. Manchmal wurde mir Geld angeboten, aber das nahm ich nicht an. Ich beneidete die Nutten, die für das, was sie tun, mit Geld entschädigt wurden. Ich aber war umsonst, gratis zu haben. Ich war ja nicht nur die Nutte meines Vaters, mein Körper war sozusagen sein Putzlumpen, etwas das man gebraucht und dann wegwirft. Ich war jedermanns Putzlumpen. Um all das überhaupt ertragen zu können, trank ich viel und rauchte unmäßig. Seit fast 20 Jahren mache ich immer wieder eine Therapie. Fast ohne jeden Erfolg. Inzwischen fühle ich Hass auf meine Mutter, auch auf meinen Vater. Aber den stärksten Hass empfinde ich immer noch mir selbst, eigentlich meinem Körper gegenüber, der meinen Vater so gereizt hat. Irgendwie ist mir, als ob ich mir oder dem Mädchen, das ich war, nicht verzeihen könne, immer wieder zu diesem Vater gegangen zu sein. Warum habe ich das alles mit mir machen lassen. Was suchte ich bei ihm. Meine Einsamkeit ist oft unerträglich. Wenn es gar zu schlimm wird, trinke ich und begebe mich wie eine Marionette, wie an einer unsichtbaren Schnur gezogen auf die Straße. Es kommt seltener vor, aber es passiert eben noch. Ich denke dann immer, das bin gar nicht ich, die alle diese Dinge macht. Ich will das doch gar nicht. Es ist, als ob mein Vater mich immer noch zu diesen Männern schickt. Dabei suche ich in Wahrheit nur jemanden, der mir zuhört. Das wurde mir vor einiger Zeit wie blitzartig klar. Ich stand auf der Straße und hatte nur eine Frage im Kopf: Warum hört mir nie jemand zu? Meine jetzige Therapeutin findet, dass ich nicht gesund werden könne, solange ich trinke und mich weiterhin so behandele, selbst in Not bringe. Ach, wie Recht sie hat, alleine wäre ich nie darauf gekommen. Ich fragte sie: Haben sie mir etwas anzubieten, das mir hilft, dieses elende Leben zu ertragen? Es darf ruhig bloß eine Kleinigkeit sein. Schweigen im Walde. Aber diese Frau hat zumindest den Vorzug, dass sie mir nicht mit irgendwelchem Hokuspokus, mit Ritualen kommt, die eher passen würden zu Urwaldmenschen aus der Steinzeit. Ich wollte auch immer eine Familie haben, einen Mann, der mir gefällt. Es ist unmöglich. Was sollte ein Kind mit einer solchen Mutter wie mir? Welcher Mann nimmt eine Frau, die doch nichts anderes ist als irgendein Stück Dreck? Ich würde es nicht wagen, einem Mann, der mir gefällt, nur unter die Augen zu treten. Aber jetzt ist es doch ohnehin zu spät. Ich glaube, mein einziger Wunsch in meinem Leben war es, geliebt zu werden. Einfach nur das. Blöd nicht. Am liebsten wäre ich tot.“
Ein homosexueller Mann berichtet etwas verblüfft von ähnlichen Erfahrungen. An seine Kindheit habe er eher allgemeine Erinnerungen. Seine Mutter sei ihm immerzu auf die Nerven gegangen, entweder mit Tränenfluten oder hysterischem Geschrei. Sein Vater habe sich selten um ihn gekümmert, sei morgens in aller Frühe aus dem Haus und abends sehr spät heim gekommen, vermutlich um der Frau aus dem Weg zu gehen. Ansonsten sei der Vater sehr still, im ganzen eher gleichgültig ihm gegenüber gewesen. Die Mutter habe gelegentlich unkontrolliert geprügelt. Solange er denken könne, habe er Frauen im Grunde für schwachsinnige Geschöpfe gehalten, die man lieber meiden sollte. Der weibliche Körper erzeuge in ihm ein Gemisch aus Ekel und Langeweile. Seiner Homosexualität sei er sich früh, bereits mit 14 Jahren, bewusst gewesen. Der Mann führt aus: „Aber schon vorher, vielleicht im Alter von 13 Jahren, fand ich mich im Wald wieder, der nicht weit vom Haus meiner Eltern entfernt war. Ich exhibitionierte mich dort vor alten Männern. Ich wollte, dass sie mich missbrauchen. Das ist allerdings nie geschehen. Zum Glück, muss ich heute sagen. Ich kann mich gut daran erinnern, dass ich bereits als Kind dachte, mit mir stimmt etwas nicht. Später als ich alleine lebte, fühlte ich mich oft quälend einsam. Wie gern hätte ich einen Freund gehabt, mit dem ich reden, gemeinsam etwas unternehmen kann. Ich bin aber nicht in der Lage, mit gleichaltrigen Männern zu schlafen. Deshalb habe ich auch nicht den Mut, jemanden anzusprechen. Stattdessen bin auch ich ständig unterwegs, ich suche einen Mann mit einem ganz bestimmten Äußeren, ich könnte seinen Körper genau beschreiben, nur das Gesicht, das sehe ich nicht vor mir. Mir kommt es wirklich so vor, als ob ich eine bestimmte Person suchen würde. Immer wieder sehe ich mir das Gesicht von Männern an, ob ich es wiedererkenne. Dieser Mann muss viel älter sein als ich. Auf Attraktivität kommt es überhaupt nicht an. Wenn ich, zum Beispiel in einem Park, jemanden finde, der meiner Suche annähernd entspricht, bekomme ich ebenfalls rasendes Herzklopfen. Irgendwie bin ich nicht erregt, ich bin aufgeregt. Ich fühle mich dann wie dieser Junge, der einen alten Mann verführt. Dabei weiß ich gut, dass Kinder Erwachsene in Wahrheit niemals verführen. Aber nur bei dieser Zwangsvorstellung kann ich eine Erektion bekommen und onanieren. Weitere sexuelle Handlungen lasse ich nicht zu. Wenn ich fertig bin, laufe ich ganz schnell weg, wie ein Kind vor einer Bedrohung. Ich empfinde dann auch ein unerklärliches Gefühl von Angst. Dann bekomme ich schreckliche Depressionen. Ich bin jetzt 36 Jahre alt. Im Gegensatz zu vielen anderen geht es mir noch gut. Ich habe einen festen Job, der mich zwar nicht interessiert, eher unterfordert, mir aber Sicherheit bietet. Meine gesamte freie Zeit, besonders die Wochenenden verbringe ich auf diese beschriebene Art und Weise. Ich habe schon Interessen, doch die kann ich nicht verfolgen. Ich muss immerzu suchen, suchen und weiß doch nicht was oder wen. Ich vereinsame zunehmend, mein ganzes Leben besteht nur aus dieser Suche. Ich fühle mich deswegen leer, mein Leben ist wie ein Gefrierschrank. Das ist grauenhaft. Ich trinke auch viel, rauche drei Päckchen Zigaretten am Tag. Ich wüsste auch nicht, wie ich die vielen Stunden des Wartens im Park ohne Bierdosen und Zigaretten hinter mich bringen sollte. Einmal habe ich in einer Klinik einen stationären Entzug versucht. Ich dachte, vielleicht finde ich dort jemanden, der mit mir spricht. Ich musste täglich im Garten arbeiten, wie zur Strafe. Gleichzeitig wollte ich das Rauchen aufgeben, aber die Ärzte beschworen mich geradezu, nicht zu viel von mir zu verlangen. Süßigkeiten durfte ich hingegen nicht essen, das wurde geahndet. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ein Therapeut jemals gefragt hätte, warum ich trinke. Es hieß immer: Sie dürfen nicht trinken, denken Sie an Ihre Leber, an Ihren Beruf. In den Gruppenstunden wurde sehr viel über Gott gesprochen, darüber dass wir uns Gott gegenüber für unsere Sünden rechtfertigen sollten. Dieses Zwölf-Schritte-Konzept ödete mich an, denn leider war ich nie naiv genug, an Gott oder eine „höhere Macht“ zu glauben. In der Einzelsitzung meinte der Therapeut, ich solle Nägel mit Köpfen machen und eine Beziehung zu einem Mann eingehen, der eben 30 Jahre älter ist. Es sei schließlich nichts dabei. Ich will das aber nicht. Ich hätte dem Therapeuten so gerne gesagt, dass ich trinke, weil ich einsam bin, niemanden habe, eigentlich nicht mal mich selbst. In einem Buch schrieb ein Schriftsteller einmal von seinen „Flaschenfreunden“, das habe ich sofort verstanden. Ich hätte den Therapeuten gerne gefragt, ob es möglich ist, dass ich nur deswegen eine ganz bestimmte Person suche und diese Zwangsvorstellungen habe, weil ich in der Kindheit missbraucht wurde. Es gab nie eine Gelegenheit für diese Frage zwischen all den Ratschlägen und Anweisungen für gutes Benehmen. Einmal hörte ich zufällig, wie das Pflegepersonal über die Therapeuten herzog: Den Patienten verbieten sie die Schokolade und zu Hause knallen dann die Korken. Ich habe die Klinik verlassen. Ich wünsche mir, herauszubekommen, was in meiner Kindheit passiert ist. Meine Eltern sind schreckliche Langweiler, sie sind dumm und spießig, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mich missbraucht haben. Ich erinnere nichts dergleichen. Ich weiß nur, dass sie sich niemals für mich interessierten, nicht dafür, wie es mir wirklich geht. Ich sollte viel essen und mein Vater war nicht so streng wie die Mutter. Viel mehr weiß ich nicht. Manchmal träume ich allerdings, dass ich ein kleiner Junge bin, der sich dem Vater anbietet für sexuelle Spiele. Es ist abartig. Ich verachte mich dafür. Ich habe das Gefühl, dass mir mein Leben zerrinnt. Ich fühle mich gejagt von einer unsichtbaren Kraft, zerrüttet, sehr erschöpft und müde. Mir ist der Gedanke überhaupt nicht fremd, lieber tot zu sein, als in einer solchen Einsamkeit vegetieren zu müssen. Wirklich, da kommt einem der Tod wie die Befreiung vor.“
Im Gegensatz zu anderen Menschen, erzählt eine 40-jährige Frau, könne sie sich an viele Details aus ihrer Kindheit erinnern. Sie habe auch Zugang zu ihren Gefühlen, spüre ihr Leiden. Oft müsse sie weinen, weil sie ihr Leben als unerträglich empfinde, wie von einem Fluch belastet. Doch weder die Kenntnis der Fakten noch das Erwachen der Gefühle habe eine wirkliche Veränderung in ihrem Leben bewirken können. Sie fragt: „Kann es sein, dass Menschen, die in der Kindheit immer wieder mit Gewalt konfrontiert waren, sozusagen auf Zerstörung oder Selbstzerstörung programmiert wurden, und dass wir uns diese Programmierung zwar bewusst machen können, sobald wir uns mit den Fakten auseinandersetzen, sie aber nicht wirklich aufzulösen ist? Dass den Zwängen vielleicht nicht mehr gehorcht werden muss, eine gesunde Entwicklung aber nicht mehr nachgeholt werden kann? Diese Fragen stelle ich mir so lange. Mein Vater wartete geradezu auf ein Vergehen meinerseits. Die geringste Nachlässigkeit, jede Bagatelle wurden zum Staatsverbrechen aufgebauscht und mit einem pompösen Ritual geahndet. Abends hatte ich anzutreten und stramm zu stehen, ich musste meine Sünden beichten. Dann schlug mich mein Vater auf das nackte Gesäß, immer wieder, mit dem Hosengürtel, dem Kochlöffel oder einem Kleiderbügel. In seinen Augen war er der Gerechte der Gerechten, denn für jede Untat war eine bestimmte Anzahl von Hieben, so nannte er das, vorgesehen. Diese zählte er auch genau ab. Kein Schlag zu viel, kein Schlag zu wenig; alles musste seine Ordnung haben. Am Ende musste ich mich für die Bestrafung bedanken und meinem Vater vergeben, wie auch er mir vergab. Er war ein sehr religiöser Mensch. Wenn mein Vater mir vergab, war ich ihm tatsächlich dankbar, weil ich dann glaubte, er würde mich doch lieben. Ich kann mich kaum an einen Tag erinnern, an dem all dies nicht geschah. Schon als Jugendliche habe ich keinen Freund haben können, ich mied einfach die Gelegenheiten und behauptete, ich wolle mich nicht verlieben, um unabhängig zu sein. Als junge Frau stellte ich fest, dass ich sexuell völlig empfindungslos bin, mein Körper ist tot. Wenn ich in Panik geriet aufgrund äußerer Umstände, konnte ich mich aber beruhigen, indem ich mich selbst befriedigte, was nur gelang, wenn ich phantasierte, ein kleines Mädchen werde in obszönen Posen vom Vater geschlagen. Oder ich stellte mir vor, wie ein Mann mir Schmerz zufügt und ich seiner Willkür und Macht in einem strengen System ausgeliefert bin. Mich erregt dabei der Gedanke an diese vollkommene Macht, die dieser Mann vor allem über meine Gefühle hat. In jedem anderen Zusammenhang verweigert sich der Körper, er kann keine Nähe ertragen. Ich habe diese Phantasie nie in die Realität umgesetzt, aber mein Leben wird doch weiterhin von meinem Vater tyrannisiert. Er hat mich niemals direkt sexuell missbraucht, überhaupt nicht berührt, es sei denn, er prügelte mich. Wie lange hat es gedauert, bis ich sehen konnte, dass er sehr wohl erregt, aufs Äußerste gespannt war, wenn er mich schlug. Danach wirkte er wie befriedigt, zufrieden, regelrecht satt. Er war dann die Ruhe selbst. Hatte er eine Art mentalen Orgasmus? Als Kind spürte ich diese Erregung, die folgende Entspannung ganz deutlich. Vielleicht hat er dann später onaniert oder konnte mit meiner Mutter schlafen, indem er sich vorstellte, wie er mich züchtigt? Ich weiß es nicht. Meine Mutter war ihm gegenüber völlig unterwürfig und ergeben. Sie hat mir niemals geholfen, sie sagte immer, er meint es gut mit dir. Wahrscheinlich war sie froh, dass sie nicht selbst verprügelt wurde. Ich habe sogar einen Beruf, der mir genug Geld einbringt, nur keine wirkliche Freude. Ich habe verbissen eine Laufbahn verfolgt, damit ich mir alles leisten kann, was ich will. Niemals mehr wollte ich von einem anderen Menschen abhängig sein, ich wollte niemanden brauchen. Es gibt auch einige Bekannte, doch meist fühle ich mich einsam. Mein Leben bleibt leer, mein Körper ist weiterhin tot. Was nutzt mir da alle Einsicht, was nutzt es mir, dass ich meine Wut auch direkt meinem Vater gegenüber äußerte, ihn zur Rede stellte. Ich sehe einfach, dass ich einen großen und wichtigen Teil meines Lebens verloren habe. Auf diese Fragen habe ich niemals eine Antwort bekommen. Es ist doch so, dass ich im Grunde nicht lieben kann und damit will ich mich nicht abfinden. Eine Therapeutin schlug mir vor, meine Phantasien in eine Partnerschaft einzubauen, das mache doch jeder, ich solle mir das einfach erlauben und mich für meine Wünsche nicht bestrafen. Nur dass dies nicht meine Wünsche sind. Ich will mich nicht erniedrigen lassen, nicht mal im Spiel, nicht mal zum Spaß. Seit langem vermeide ich es sogar, mich selbst zu befriedigen, ich will nicht gezwungen sein, mich ein Leben lang selbst zu verletzen. Das fällt mir nicht schwer, alles was mir wichtig war, fand ich immer in Büchern. Am liebsten hätte ich gar keinen Körper, nur einen Kopf mit seinem Verstand. Es ist so schrecklich, wenn man fühlt, wie viel einem im Leben entgeht, wie viel Zeit für immer verloren ist.“
Schließlich spricht ein Mann über 50 von seiner Geschichte: „Mein ganzes Leben lang, bis heute, habe ich mich nicht eine Minute wirklich gespürt. Als ob ich gar nicht vorhanden wäre. Es gibt kaum etwas, das mich interessiert, ich habe an nichts Freude, zu nichts Lust. Ich war niemals wirklich von Herzen traurig oder wütend, jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern. Mein beruflicher Werdegang war mir auch gleichgültig, ich hatte nie das Bedürfnis, für meine Existenz Sorge zu tragen. Wenn die Arbeitsämter mir einen Job verschafften, habe ich den eben gemacht. War der Job beendet, war ich auch froh. Ich fühlte mich immer wie unter einer Glasglocke. Ich habe einige Male versucht, Beziehungen zu Frauen einzugehen, aber die haben nie lange gehalten. Ich habe lange Phasen von Impotenz, für die Ärzte keine körperlichen Ursachen finden konnten. Mir helfen allerdings bestimmte Mittel, auf die der Körper dann reagiert. Wahrscheinlich hat das die Frauen immer gestört. Oder sie kamen mit meiner Teilnahmslosigkeit nicht zurecht. In Wahrheit hat mich Sex mit diesen Frauen auch nicht interessiert. Dass ich Potenzmittel nahm, war eine Art Gefälligkeit, eine Dienstleistung. Ich dachte, ich sei diesen Frauen eine Erektion schuldig. Damit sie bei mir blieben. Denn wenn ich alleine in der Wohnung bin, überfällt mich oft eine unterschwellige Panik, eine Unruhe. Als ob ich keinen Augenblick mehr allein sein könnte. Freunde habe ich eigentlich keine. Eine Zeit lang überlegte ich, ob ich homosexuell sein könnte, weil ich Frauen gegenüber so gleichgültig war. Ich versuchte auch, Sex mit Männern zu haben, aber es war nicht anders. Es interessierte mich nicht. Bis heute könnte ich nicht sagen, wie meine Sexualität beschaffen ist. Ich bin viele Jahre in eine Therapie gegangen und erst zum Ende hin wurde mir klar, dass mich meine Mutter in eine Art Inzestverhältnis verstrickt hat. Sie hat sich sehr früh von meinem Vater scheiden lassen und lebte mit mir allein. Ich schlief mit ihr in einem Ehebett. An konkrete Übergriffe kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß nur, dass sie mich wusch in der Badewanne bis ich etwa 14 Jahre alt war. Danach kam das nicht mehr vor. Sie war auch unglaublich eifersüchtig. Ich sollte als Jungendlicher keine Freundin haben. Kein Mädchen war gut genug für mich und ich für jede zu schade. Meine Mutter hat einmal wörtlich zu mir gesagt, da war ich 17, wie sehr sie bedauere, dass sie selbst mich nicht in die Liebe einweisen könne, so drückte sie sich aus. Nun werde es wohl irgendeine Schlampe machen. Dabei weinte sie. Sie erzählte auch, sie habe sich nach einer Frau umgesehen, die sie in dieser Angelegenheit für geeignet und würdig erachten könne, ihre Suche sei aber erfolglos gewesen. Dann schlug sie mir vor, katholischer Geistlicher zu werden. Das sei doch der Beruf für mich. Ich habe bis zu meinem 40. Lebensjahr geglaubt, meine Mutter habe mich vergöttert. Als ich sah, wie gestört sie war, bekam ich eine Entzündung an den Augen, die chronisch wurde. Da sehe ich schon einen Zusammenhang. In jener Zeit entwickelte ich den Drang, mir Pornovideos auszuleihen. Ich konnte stundenlang ein Video nach dem anderen sehen und dabei onanieren. Mit einiger Anstrengung bekam ich dann eine Erektion. Beim Onanieren empfinde ich nichts. Es beruhigt mich. Ich hole mir nach wie vor diese Videos, wenn dieses dumpfe Empfinden der Panik kommt, dieses Gefühl, ich könne keine einzige Sekunde des Alleinseins mehr ertragen. Ich kaufe mir immer wieder sehr ähnliche Filme, die nicht unbedingt offen in den Regalen herumliegen. Es sind meist privat gedreht Filme, die zeigen wie eine ältere Frau vom mehreren Männern gemeinsam erniedrigt und vergewaltigt wird. Ich fühle Befriedigung, wenn ich sehe, wie ‚diese Schlampe fertig gemacht’ wird. Es müssen auch immer mehrere Männer sein. Ich bin mir bewusst, dass ich eine starke Verachtung gegenüber Frauen habe. Ob ich noch einmal zu meinen Gefühlen durchdringen kann? Ich füge mir auch manchmal selbst Schmerzen zu, um mich realer zu spüren. Man sagt ja immer, das machen nur Frauen. Vermutlich stimmt das nicht. In der Therapie habe ich keinen Zugang zu meinen Gefühlen gefunden. Es gab nur diese Erkenntnis, dass meine Mutter nicht die war, für die ich sie die längste Zeit meines Lebens gehalten habe. Ich weiß gar nicht, ob es sich in meinem Alter überhaupt noch lohnt, zu versuchen, aus dieser Glasglocke, die mich umgibt, herauszukommen. Eigentlich müsste ich verzweifelt sein, denke ich manchmal.“
Diese Aussagen sind authentisch, ich habe sie jedoch in meine eigene Sprache gebracht; fiktiv ist lediglich die Konstellation, dass diese Frauen und Männer zur gleichen Zeit eine Gruppe besucht haben. Leider wird man immer noch lange nach einem Ort suchen müssen, der es Menschen gestattet, tatsächlich ehrlich, ohne andere schonen zu müssen, über ihre innere Realität und die Fakten ihrer Kindheit zu sprechen. Mir ist jedenfalls kein solcher Ort bekannt, und Menschen, die wirklich bereit sind, sich selbst zu begegnen (das heißt auch, dem Kind, das sie waren) stellen wahrscheinlich eine kleine Randgruppe in unserer Gesellschaft dar.
Die Selbstzeugnisse bedürfen keiner Analyse, keiner Deutung. Sie zeigen, dass die Perversion stets die verschollene Geschichte des einstigen Kindes mal in erstaunlich konkreter, mal in eher symbolischer Form erzählt. Sie zeigen auch, dass das Erregende der perversen Handlung oder Phantasie sich im Grunde von der Sexualität abgelöst hat. Dasselbe gilt in der Regel für die Pornographie. Die sexuellen Praktiken dokumentieren vielmehr die Entwürdigung und Entwertung, der das Kind ausgesetzt war. Die gesamte Inszenierung enthüllt und verdeckt zugleich. Hinter der mit der jeweils stärksten Entwürdigung verbundenen Erregung verbirgt sich die emotionale Wahrheit des Kindes, der verschüttete Schmerz über die Verachtung durch die Eltern, die es so früh in seinem Leben erfuhr. Die Verachtung war die einzige Nahrung des Kindes. Dieser Schmerz ist in der Tat so groß, dass er nicht in Worte gefasst werden kann. Die scheinbare Lust, der Orgasmus sind offenbar nichts Anderes als der Höhepunkt der Entwertung.
Vor allem aber ist die Perversion sexualisierter Hass, der sich gegen die Person selbst oder gegen andere richten kann. In Wahrheit ist dieser eingefrorene Hass aber der Hass der Eltern auf das Kind. Die Perversion eines Menschen zeigt die Perversion seiner Eltern, die diese am Kind ausagierten. Die perversen Eltern stahlen das Leben des Kindes, seine Freude, seine Lust, seine Fähigkeit, zu lieben. Ein Mensch kann buchstäblich aus der Art geschlagen werden. Dies belegen sehr anschaulich und in extremer Form die Briefe des „Kindermörders“ Jürgen Bartsch an den Journalisten Paul Moor („Selbstbildnis eines Kindermörders“, Rowohlt 2003). Hinter dem Hass der eigenen Eltern, von dem so viele Menschen besetzt sind, lauert fast immer ein Meer an Verzweiflung, ein Abgrund von Einsamkeit. Da wird schon nachvollziehbar, warum die Mehrheit es vorzieht, aus der Perversion einen Kult zu machen.
Die pädophile Variante der Perversion enthüllt sehr klar das Bedürfnis nach Rache: Ich will dir antun, was man mir angetan hat, warum soll nur ich leiden. Im Leid des betrogenen Kindes, in dessen enttäuschtem Blick begegnet der Pädophile sich selbst.
Sehr lange verortete die Mehrheitsgesellschaft die Perversion und die Pädophilie (mit Ausnahme weniger sogenannter Triebtäter, die sich an kleinen Mädchen vergriffen) fast ausschließlich bei homosexuellen Männern. Es ist naheliegend, dass auch zahlreiche Homosexuelle, deren offizielle Verbände sich bislang – übrigens im Namen der Freiheit – nicht ausreichend von Pädokriminellen abzugrenzen wagten, pädophil sind oder von Perversionen geprägt. Jedoch konnte das Ausmaß des innerfamiliären Kindesmissbrauchs bis hin zum Verkauf der eigenen Kinder für pornographische Produktionen mit der Zeit nicht mehr ignoriert werden. So war eine neue gehirnakrobatische Leistung erforderlich, um die Realität zu vernebeln. Soziologinnen und Therapeutinnen verfassten eine Bücherflut und behaupteten, Jungen würden niemals missbraucht, hingegen bereits als Täter geboren (vgl. etwa, Wirtz, Ursula: „Seelenmord“, 1989 u. 1995). Prominente Damen, wie die Feministin Alice Schwarzer, verkünden bis heute ein weibliches Utopia: Frauen könnten von Natur aus nicht gewalttätig sein.
Die bislang nahezu grundsätzlich verschwiegenen weiblichen Pädokriminellen tummeln sich indes munter beispielsweise in den Chaträumen und groups des Internet. Man kann sich in diese Räume begeben und wird sehr oft eine „tabuloseMutteruTochter“ antreffen auf der Suche nach einem ebenfalls „tabulosen“ Mann. Der Autor Alexander Markus Homes interviewt in seinem Buch „Von der Mutter missbraucht“ (Scheffler Verlag 2003) eine pädokriminelle 40-jährige Frau. Das Buch ist äußerst zwiespältig und dokumentiert eher die Verwirrung des Verfassers, der im letzten Drittel sämtliche Informationen und Erkenntnisse wieder zurück nimmt, die er zuvor zusammen getragen hat. Warum Homes diese Frau nach dem Interview offenbar nicht angezeigt hat, ist mir ebenfalls nicht nachvollziehbar, es sei denn, das Gespräch ist eine Erfindung des Autors. Dennoch möchte ich aus diesem Interview zitieren, weil es indirekt wesentliche Aspekte der pädophilen Variante der Perversion aufdeckt:
– „Sie sind Feministin und stehen zu ihrer Veranlagung?“
– „Ich stehe dazu: Ich begehre Knaben im Alter von acht bis zwölf Jahren. Ich habe seit fast einem Jahr eine tiefe, innige, erotische und sexuelle Beziehung zu einem zehnjährigen Jungen. Es gibt nichts Schöneres für mich als der unbefleckte, zarte, unbehaarte Körper eines Knaben. Ich liebe es, ihn sehr behutsam in die nicht enden wollende Liebe einzuführen. Seinen Körper, der sich an mich schmiegt, der vor Lust anfängt zu vibrieren, wenn ich ihn zart mit meinen Händen und meiner Zunge vom Gesicht über Hals, Bauch, Genitalien bis zu den Füßen hin berühre. Und ich mag es, wenn er auf mir liegt und ich an seiner Atmung merke, dass es ihm gefällt. …“
Dass diese Frau ebenso freimütig bekannte, bis zu ihrem 16. Lebensjahr von ihrem Vater vergewaltigt worden zu sein, macht dabei nichts besser. Im Gegenteil: Mit diesem Inzestschicksal rechtfertigt sie ihre eigenen Verbrechen. In Wahrheit blieb sie, wie alle Pädophile, dem Täter treu. Pädophilie ist eigentlich nichts Anderes als Angst und Vergeltung: Angst vor dem Körper einer erwachsenen Frau oder eines erwachsenen Mannes, Angst vor Sexualität, die nur in einer debilen, infantilisierten Form zugelassen werden kann. Pädophilie ist der starke Wunsche das Zarte zu zerbrechen, das Schöne zu ruinieren, zu besudeln und vor allem den Betrug weiterzugeben, indem all das als Liebe (oder „Kinderliebe“) ausgegeben wird. Pädokriminelle Menschen sind geradezu beherrscht von dem Zwang, ein anderes Leben zu zerstören, zu vernichten, wie das ihre als Kind zerstört wurde. Das gelingt ihnen manchmal auch ausgesprochen gründlich, denn kein Kind, das nicht in völliger Einsamkeit lebt, wird sich einem oder einer Pädophilen freiwillig ausliefern. Die Lust, die Pädokriminelle dabei empfinden, ist die Genugtuung an der Vergeltung: Jetzt bist du mal dran, jetzt habe ich es auch mal jemandem heimgezahlt. Wer nur einmal der Sympathie, der Zuneigung eines Kindes begegnete, weiß, wie tief, wie aufrichtig und ohne jede Vorbehalte Kinder zu lieben und zu vertrauen vermögen, und lernt, wie brutal diese Gefühle verletzt werden können. Dann ist das Zerstörungswerk vollbracht. So leicht kann man die Seele eines kleinen Jungen, eines kleinen Mädchens vernichten und damit Menschen produzieren, die ihr Leben oftmals als Zombies fristen müssen.
Wie sich die Medien, die Justiz und die Politik angesichts der Pädokriminalität als Massenphänomen geradezu winden, zeigt aktuell in Belgien das sich seit Jahren dahinschleppende Verfahren gegen den sogenannten Kinderschänder Dutroux, der immerhin den qualvollen Tod mehrerer Mädchen, die er zuvor entführte und monatelang vergewaltigte, verschuldet hat.
Die in den Selbstaussagen immer wieder auftauchenden Fragen, wie man eine Perversion auflösen und die Freiheit erreichen könne, die echten sexuellen Bedürfnisse zu leben, müssen wohl offen bleiben. Ich vermute, dass eine Perversion dann überflüssig wird, sobald ein Mensch sich vollständig mit dem Kind, das er gewesen ist, identifizieren kann, sobald ein umfassendes Mitgefühl mit dem eigenen Kinderschicksal möglich wurde. Inwieweit eine Entwicklung, die in der Kindheit hätte stattfinden und im Lauf der Pubertät zu einem gelungen Abschluss hätte kommen sollen, viel später nachgeholt werden kann, entzieht sich meiner Kenntnis. Doch möchte ich nicht ausschließen, dass ein Mensch imstande ist, auch seine authentischen sexuellen Bedürfnisse aufzufinden und reifen zu lassen. Entscheidend mag dabei sein, dass der Körper die Erfahrung braucht, nun heute keine Dienstleistung mehr erbringen zu müssen, sondern Respekt und Aufrichtigkeit zu begegnen. Der Körper war so früh den schrecklichsten Torturen ausgesetzt und musste fühllos werden. Es gab keine Alternative. Heute muss sich niemand mehr quälen lassen. Wenn erlebt wird, dass authentische Reaktionen auf die Misshandlungen wie Wut, Hass, Verzweiflung und Schmerz den Erwachsenen nicht töten, könnte der Körper mit der Zeit auch Gefühle der Freude, der Lust, des Vergnügens, des Gefallens an einem anderen Menschen, an seinem Wesen und seinem Körper, wieder zulassen. Die in der psychotherapeutischen Literatur immerzu artikulierten Heilslehren und falschen, weil unlogischen Versprechungen sind angesichts der Realität nicht nur nicht hilfreich, sie sind ein Rückfall in mittelalterlichen Aberglauben. Diese irrationalen Publikationen werden von selbst vom Markt verschwinden, wenn die Leser sich endlich ein Herz fassen, zugunsten ihrer Wahrheit auf falsche Hoffnungen verzichten und die Verantwortung für ihr Leben nicht mehr in untaugliche Hände delegieren. Es geht ja um die Frage, wie viel Nähe ein so früh geschundener Körper später noch oder wieder zulassen kann. Berührend fand ich in diesem Zusammenhang, was mir vor einiger Zeit ein Mann erzählte. So viele Jahre sei er sexuell völlig empfindungslos gewesen. Er hatte schon jede Hoffnung beinahe aufgegeben, als er erlebte, wie eine einfache Berührung ihn in Erregung versetzte. Der Mann sagte: „Ich bekam tatsächlich spontan eine Erektion, ohne mir völlig bizarre Dinge vorstellen zu müssen. Ich war darüber so verblüfft, dass die Erektion in sich zusammen fiel. Aber ich merkte, dass der Körper reagierte, weil ich mich sicher fühlte. Ich fühlte mich in einer Situation ohne jeglichen Zwang und ich war mir meiner selbst sicher. Ich wusste, ich würde mich nie mehr missbrauchen lassen, weil ich genau weiß, wie ich mich damals als Kind dabei fühlte. Ich merkte, dass einige Körperpartien, die bislang buchstäblich tot, wie verpanzert gewesen waren, auflebten. So konnte es sein, dass ich zum Beispiel an einer Stelle des Rückens starke, sehr lustvolle Empfindungen erlebte, die sich bis in die Wirbelsäule verlängerten, während andere ganz abgestorben schienen. Mir kam es so vor, als ob der Körper vorsichtig, vorsichtig einen Test wagte, einen Versuch: Darf ich Freude und Lust empfinden? Ich weiß nicht, wie diese Entwicklung weiter geht, aber ich war sehr froh. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, dass meinem Vater der Spaß an den „Hieben“, die er mit so viel Vergnügen austeilte, verdorben worden sei.“
4 Wenn viele Angehörige einer Gesellschaft, einer Kultur von Perversionen geprägt sind, hat dies nicht nur eine Ursache, sondern diese Tatsache lässt eine Diagnose über die Gesellschaft und die Kultur zu
(Selbstentfremdung als Happening)
Manchmal vermittelt die Literatur ein wahrhaftigeres Bild vom Zustand einer Gesellschaft, einer Epoche oder vom Leben der Menschen. So zeigten Schriftsteller eher unbewusst, sogar unfreiwillig in ihren Werken auch immer wieder, wie sich Perversionen ausdrücken und was sie bedeuten. Es ist ausgesprochen lohnenswert, diese Werke und (soweit bekannt) die autobiographischen Zeugnisse der Autoren im Detail danach zu befragen, welche Aussagen sie über das Wesen der Perversion treffen. Dies wäre mindestens ein eigenständiger, umfangreicher Essay, so dass ich mich hier auf vier kurze Hinweise beschränke.
Heinrich von Kleists Trauerspiel „Penthesilea“ (1808) führt in seinem furiosen Ausgang die Unfähigkeit vor, echte Gefühle zu leben, weil nichts mehr gefürchtet wird als das Aufleben eben dieser Gefühle. Das Begehren kann sich nur noch in der tatsächlichen oder symbolischen Zerstörung des Anderen zeigen. Kleist legt aber zugleich den Finger in eine bis heute offene Wunde: Hinter dem, was wir gerne Zivilisation und Kultur nennen, lauert das Barbarische. Oscar Wilde’s berühmter Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“ (1890) erlaubt die Deutung der Perversionen seines Protagonisten und der Bohème, der er angehört, als die vollkommene Herausbildung eines „falschen Selbst“. Damit aber erscheint auch das Schicksal der Selbstzerstörung vorprogrammiert. 1949 beschreibt auch der junge japanische Schriftsteller Yukio Mishima in seinem autobiographischen Roman „Geständnis einer Maske“ die Perversion als Ausdruck eines tiefen Selbsthasses und bringt zugleich in extremer Form das Schicksal vieler, selbstverständlich nicht aller homosexueller Männer zum Ausdruck: Ich darf das Gefallen am Körper eines anderen Mannes nur in bizarren Inszenierungen erleben, ich darf keine echte Zuneigung zeigen, ich darf nur imaginieren, wie dieser mich so anziehende Körper eines Mannes geschunden wird. Ich muss hassen, was ich begehre, weil es mir von innen heraus verboten ist, zu lieben und meine wahren Bedürfnisse zu leben.
Eine große Bandbreite der menschlichen Perversion und ihre Nähe zur Pädophilie verewigte bereits 1785 Donatien Alphonse Francois Marquis de Sade in einem seltsamen Werk mit dem bezeichnenden Titel „Les 120 Journées de Sodome ou L’Ecole du Libertinage“ („Die 120 Tage von Sodom oder Die Schule der Ausschweifung“) und gab damit einer Richtung dessen, was heute „sexuelle Devianz“ genannt wird, seinen Namen: dem Sadismus. Vermutlich hat de Sade keine denkbare Sexualpraktik ausgelassen. Ich habe hier kein Interesse, mich an der Frage zu beteiligen, ob es sich bei diesem Werk um das Abfallprodukt des Unbewussten seines Autors oder um Literatur im Sinne von Kunst handelt. Der Marquis beschreibt das Treiben der Mächtigen einschließlich der Geistlichkeit mit ihren Untergebenen und die abstrusen Freiheiten, die sie sich herausnehmen. Als der italienische Filmregisseur und Schriftsteller Pier Paolo Pasolini dieses Buch 1975 für den Film adaptierte und die Handlung dabei in die reale faschistische Mini-Republik Saló verlegte, gab es Ärger. Der Film stand viele Jahre in mehreren Ländern auf dem Index. Man zeigte sich schockiert über die schonungslos brutalen Szenen. Kritiker beklagten darüber hinaus, dass Pasolini die literarische Vorlage in Verbindung zum Faschismus gebracht habe. Der Regisseur hat nicht die Frage nach der Ursache der Perversionen gestellt. Er ging damals mehr von einem gewissen Klassenstandpunkt aus; Pasolini wollte zeigen, dass die Bourgeoisie ihre Kinder zerstört und den Faschismus hervortreibt bzw. diesen im Keim in sich trägt. Dieser Standpunkt enthält sicherlich Wahrheiten. Pasolini zeigt die sadistischen Züge des Faschismus sehr deutlich und bringt damit die Perversionen in einen Zusammenhang mit dem Politischen. Es könnte sein, dass gerade dieser Aspekt die eigentliche Quelle des öffentlichen Unmutes war.
Die Geschichte des Nationalsozialismus zeigt klar, dass der faschistische Charakter ein sadistischer ist. Der Hitlerfaschismus gestattete es einem großen Teil der deutschen Bevölkerung, sadistische Handlungen zu begehen. So wurde etwa die im Konzentrationslager Majdanek als „Blutige Brigitte“ berüchtigte Hildegard Lächert später unter anderem „der Vergewaltigung einer Jüdin mit einer Zaunlatte“ angeklagt. Der Sadismus verlässt in faschistischen und anderen Diktaturen den geschützten, vor fremden Blicken verborgenen Raum der Familie und tritt offen zu Tage, weil er nun nicht mehr Perversion genannt wird, sondern offiziell erlaubt ist zum Wohle eines Volkes oder einer Gesellschaft. Den Sadismus begünstigende, geschlossene Systeme wie Gefängnisse und Lager spiegeln hierbei das hermetisch nach außen abgeriegelte System der Familie. Mit dem Ende des Faschismus, der Diktatur verschwindet nicht einfach die sadistische Perversion, sie kehrt lediglich nach innen, in die Familien, in das Kinderzimmer zurück. Eine blutige Diktatur macht die Menschen nicht sadistisch, sie treibt nur massiv hervor, was schon da ist, was in der Kindheit früh gelernt wurde. So kann es geschehen, dass der Sadismus jeder Zeit für die Zwecke der Macht auch in einer Gesellschaft funktionalisiert werden kann, die einen liberaleren Charakter hat und sich demokratisch oder freiheitlich nennt. Die Oberfläche dieser Gesellschaft mag zuweilen recht freundlich und bunt wirken, entscheidend ist, was ihr Untergrund in sich birgt.
Die Soldaten und Soldatinnen der westlichen Verbündeten quälten ihre Gefangen im Namen der Freiheit und im Namen des christlichen Gottes. Dass dieser Widersinn auch in den Medien nicht thematisiert wird, spricht für sich. Der christliche Gott muss ja seit jeher für die Misshandlung von Kindern und die Folterung Erwachsener herhalten. Wer sich mit der Geschichte der Inquisition beschäftigt und die angewandten Methoden der Folter zur Kenntnis nimmt, könnte auf den Gedanken kommen, die katholische Geistlichkeit habe die Perversionen erfunden. Der Begriff pervers hatte ursprünglich keine sexuelle Bedeutung, er bezeichnete die angebliche oder tatsächliche Abkehr vom wahren Glauben. Das Christentum ist heutzutage (im Gegensatz zum Islam) gemäßigter, doch die Perversionen birgt es immer noch in sich. Dies belegen die inzwischen weltweit vorliegenden zahllosen Zeugnisse über die Vergewaltigung von Kindern durch Pfarrer, Priester, Mönche und Nonnen. Nur zögerlich und gegen den massiven Widerstand der Kirchen dringen Fakten über die Torturen an die Öffentlichkeit, die Kinder bis vor kurzem (oder noch heute?) in christlichen Heimen erdulden mussten (vgl. etwa Spiegel Online, 19.05.2003: „Unbarmherzige Schwestern“ ).
Viele Menschen haben die Botschaft „Ich züchtige dich, ich vernichte dich zu deinem Besten“ tief verinnerlicht, so können sie die Lebensfeindlichkeit dieser Botschaft nicht realisieren. Wir bringen euch die Freiheit, verkündete der amerikanische Präsident auch dem irakischen Volk im vergangenen Jahr, deshalb zerstören wir eure Städte. Die Welt hat einen neuen Vater aller Völker, dachte ich damals. Nun müssen wir wieder glauben, glauben, glauben. Je dümmer, je unlogischer die Parolen, um so inbrünstiger der Glaube. Und was sagte der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika kürzlich? Wir reißen das Gefängnis Abu Ghureib in Bagdad einfach ab und bauen ein neues, ganz modernes, sauberes, schönes. (Inzwischen verstehen sich der deutsche Bundeskanzler und Herr Bush ja auch wieder so gut. Man sah es im Fernsehen. Wie sie sich die Hände schüttelten, damit gar nicht mehr aufhören mochten, wie sie strahlten: Haben wie es nicht gut, alles ist bestens, nur keine Problemdiskussionen.)
Als ich die Bilder der sexuell missbrauchten irakischen Gefangenen erstmals zur Kenntnis nahm, habe ich sehr genau darauf geachtet, was ich empfinde. Ich war weder empört noch entsetzt; was ich sah, erschien mir folgerichtig, zwangsläufig und vor allem erklärbar. Ich spürte, dass ein unguter Zynismus für einen Augenblick die Oberhand gewann. Wenn man berücksichtigt, notierte ich mir, dass die von der CIA trainierten und ausgebildeten Militärpolizisten der chilenischen Pinochet-Diktatur weibliche Gefangene dergestalt folterten, indem sie ihnen ausgehungerte Ratten in die Vagina einführten, geht es 30 Jahre später doch vergleichsweise human zu (beispielsweise dokumentiert in: Valdés, Hernán: „Auch wenn es nur einer wäre: Tagebuch aus einem chilenischen KZ“, Rowohlt 1976). Allerdings gefällt mir die Arroganz der Politik nicht, die offenbar die tiefe Überzeugung verinnerlicht hat, dass ausnahmslos jede und jeder so dumm ist, ihr Gerede zu glauben. Wenn mir Vergewaltigungen als Dienst an der Freiheit verkauft werden, drängt sich mir die Frage auf, wie es mit dieser angeblichen Freiheit in Wahrheit bestellt ist. Dann habe ich doch das Bedürfnis zu sagen: Ich aber kaufe Euch das nun gerade nicht ab. Ihr seid keine Kämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit, Ihr seid in Wahrheit geistig und seelisch schwer deformierte Menschen. Ihr seid getrieben von Gier. Ihr seid krank. Ich kann nicht verhindern, dass ich von solchen Figuren wie Euch regiert werde, aber ich kann doch sagen, was ich von Euch halte. Die Freiheit, die ihr meint, ist pervers; sie stinkt. Sie ist ein Ersatz für echte Freiheit. Ich erkenne deutlich Eure Sprache und Eure Logik. Ihr redet wie einer, der gerade beim Inzest erwischt wurde. Eure Sprache ist obszön und Eure Logik ist verwirrt. Und ich habe nicht die mindeste Absicht, mich bei Euch dafür zu bedanken, dass ich all das sagen darf. Das darf ich nämlich nur deshalb, weil in ein paar Wochen aus dem für die Medien willkommenen Skandal Schnee von gestern geworden ist.
Ich denke daran, dass im vergangenen Jahr männliche und weibliche Jugendliche einer Berufsschulklasse in Hildesheim einen Mitschüler monatelang quälten, erniedrigten und sexuell demütigten, dies filmten und das Material ins Internet stellten. In Deutschland schüttelte man den Kopf. Wieder einmal wurden die Arbeitslosigkeit eines großen Teils der deutschen Bevölkerung und der Konsum von Horrorfilmen als Begründung für die Gewalttätigkeit junger Menschen herangezogen. Diese Schüler können sich auf keine Befehle berufen, sie haben aus eigenem Antrieb dasselbe getan, wie die von der Idee der Freiheit beseelten Besatzer im Irak. Sie offenbarten haargenau dieselben Perversionen. Niemand hat die Frage artikuliert, wie es möglich wurde, dass so junge Menschen so vollständig abgetrennt sind von ihren Emotionen, woher der starke Wunsch stammt, andere zu quälen. Machen materielle Probleme sadistisch? Oder gibt es ein Gen für Sadismus? Das können nur sehr beschränkte Menschen glauben. Es ist zutreffend, dass die soziale Misere, in die gerade in Deutschland immer mehr Menschen wie in einen Strudel hineingerissen werden, bereits vorhandene Deformationen und Beschädigungen verstärken oder aufbrechen lassen kann. Nur erzeugen kann die um sich greifende Verelendung diese Deformationen nicht.
Wenn eine Soldatin den Befehl oder die Anregung erhält, mit mehreren Männern zu verkehren, diverse sexuelle Praktiken in Anwendung zu bringen und Kriegsgefangene dabei zusehen müssen, wird ihr dies schon einen gewissen Kick gegeben haben. Denn sonst hätte sie es einfach nicht gemacht. Wenn sie Erinnerungsbilder verschiedener perverser Aktionen, an denen sie beteiligt war, gestattet und aufbewahrt, wird dieses Vergnügen für sie eine maßgebliche Bedeutung haben. (Aber ich vergaß, diese Bilder dienten ja lediglich dem Zweck, andere Häftlinge zu erschrecken.) Auch Angehörige von Geheimdiensten, die verschiedene Foltermethoden entwickeln, sind ja frei in der Auswahl. Sie hätten sich ebenso gut etwas anderes ausdenken können.
Die Tatsache, dass Muslime kulturell bedingt eine sehr andere Vorstellung von Körperlichkeit und Sexualität vertreten, mag in diesem Zusammenhang einen gewissen zusätzlichen Reiz abgegeben haben. Die Lust an der Beschämung des Unterlegenen, des Opfers spielt ja beim Sadismus eine große Rolle. Früh erfahrene Demütigungen sind ein bohrender Schmerz, der lange unbemerkt, völlig abgespalten in einem Menschen gleichsam überwintern kann. Er muss sich nicht einmal in sexuellen Zwangsvorstellungen artikulieren. Die Angst vor diesem Gefühl ist kaum zu ertragen, es sei denn, man gibt die Demütigung an andere weitere, sobald eine Gelegenheit entsteht, den tiefen, inbrünstigen Wunsch nach Vergeltung in die Tat umzusetzen. Das schafft für einen kurzen Augenblick Erleichterung durch ein Gefühl scheinbarer Lust.
Die islamische Welt hat vor diesem Hintergrund keinen Anlass, eine höhere Moral für sich zu reklamieren. Die allgegenwärtige Folter der Kindesverstümmelungen durch Beschneidung ist hinlänglich bekannt, Kindesmissbrauch und -misshandlungen ebenfalls. Wenn Muslime über die „Ehrlosigkeit“ der westlichen Gesellschaften die Nase rümpfen, möchte ich ihnen ihre eigene Heuchelei entgegen halten. Wie stark die islamische Kultur etwa von Homosexualität geprägt ist, obwohl sie diese zutiefst ächtet, erhellt die algerische Schriftstellerin Assia Djebar in ihrem Roman „Weißes Algerien“. Sie wird wissen, wovon sie sprach. Ihr Heimatland darf sie nicht besuchen. Im Kern, in ihrem Dilemma, nämlich in ihrer Blindheit sich selbst gegenüber unterscheiden sich die Kulturen nicht sehr voneinander.
Der Untergrund des gesellschaftlichen Systems ist wieder einmal offenbar geworden. Es fragt sich, wie viele Zeichen und Beweise für den individuellen und kollektiven Wiederholungszwang noch erforderlich sind, damit eine Mehrheit der Menschen womöglich bereit ist, sich der Aussage dieses Wiederholungszwangs zu stellen. Die Perversion und die Pädophilie als Massenerscheinung sind hierbei letztlich auch nur ein Symbol, ein Bild für die Tatsache der äußersten Entfernung von sich selbst, einer auf die Spitze getriebenen Selbstentfremdung. Wenn aber eine große Zahl von Menschen innerhalb eines Gemeinwesens weder die eigene Geschichte noch die eigenen Bedürfnisse kennen darf, weil dieses Wissen große Angst macht, kann eine Gesellschaft auf Dauer nicht lebensfähig sein. Man erkennt dies daran, dass einzelne Funktionen des Systems zunehmend ausfallen, das Gemeinwesen immer weniger Menschen zu binden vermag, weil es ihnen keine Perspektive bieten kann. Dann wird der Leerlauf, in den das System geraten ist, kenntlich. Es gibt keine Fragen mehr und erst recht keine Antworten, denn Menschen, die nicht wissen, was sie brauchen, was notwendig ist für ihr Leben und was nicht, werden kaum auf die Idee kommen, die einfachsten Fragen zu stellen: Wie wollen wir leben? Welche Entscheidung ist zerstörerisch, welche produktiv? Es werden in Wahrheit gar keine Entscheidungen mehr getroffen, vielmehr gerät das ganze System ins Rotieren, in eine helle Panik. Wer über die entsprechende Position verfügt, rafft in fliegender Hast, was er raffen kann: Ich will mehr, immer mehr, immer mehr. Ich kann auch gar nicht genug bekommen, denn diese Leere, die mich treibt, ist niemals zu füllen, weil ich ja gar nicht weiß, wer ich bin. Den nicht ganz so Privilegierten werden die verschiedensten Vergnügungen angeboten. Schau mal, was du alles darfst, du darfst einkaufen, du darfst dich auspeitschen lassen, du darfst nicht nur, du sollst sogar Spaß haben; sieh nur, wie frei du bist, sei also dankbar. Und dann gibt es noch diejenigen, die niemand zählt, die unbeachtet zugrunde gehen, weil sie schon längst aus jeder Verankerung herausgefallen sind.
Je ausgeprägter die Selbstentfremdung, um so notwendiger wird die Produktion künstlicher Bedürfnisse und Ersatzbefriedigungen: Wir haben dir nichts zu bieten, also friss eben das, was wir dir vor die Füße werfen. Ein bekanntes Muster. Ersatzbefriedigungen, auch in Form von Ideologien und Religionen, machen aber logischerweise nicht satt. Der Leere kann somit niemand wirklich entkommen.
Wenn ein einzelner Mensch kurz vor dem vollständigen Zusammenbruch steht, dies aber um keinen Preis wahrhaben will, kann es vorkommen, dass er nicht müde wird zu behaupten, wie gut es ihm gehe, wie zufrieden er sei, wie lustig sein Leben. Manch einer erscheint in einer Show oder auf einer öffentlichen Massenparty und präsentiert stolz seinen überall von Ringen, Klammern und Nadeln durchstochenen Körper. Oder eine Frau bestellt verschiedene Fernsehsender, die dem geneigten Publikum beweisen sollen, dass sie mit 150 Männern nacheinander kopulieren kann, damit sie eine Eintragung ins Guinessbuch der Rekorde erhält. Oder in einer Talkrunde des Fernsehens werden die Gäste nicht müde zu beschwören, wie froh und dankbar sie sind, die Nation so freimütig mit ihren zuweilen etwas skurrilen sexuellen Gepflogenheiten unterhalten zu können. Realitäten sind oftmals schwer zu ertragen.
Dasselbe Phänomen ist kennzeichnend für bedrückende Phasen des Stillstands einer Gesellschaft: Die Forderung, die Verordnung zum allgemeinem Frohsinn wird genau dann immer lauter, je hörbarer es gleichsam im gesellschaftlichen Gerüst kracht und birst. Je bedrohlicher die Verhältnisse, um so nachdrücklicher die Versicherung, das Paradies, der denkbar beste aller Zustände sei bereits erreicht. Dann werden noch einmal die letzten Reserven aufgeboten. Dann blähen und plustern sich die politischen Führer und religiösen Gurus. Wir kommen und bringen Euch die Freiheit, meint dann eigentlich nur noch, wage es ja nicht, anders leben zu wollen als wir. Dann wird mit dem Zeigefinger in der Luft herumgestochen, die Stimme schwillt an, es wird geschimpft und gewettert, umgarnt oder mit Kumpelhaftigkeit verführt, gleichzeitig jagen sich die Drohgebärden und ebenso wahllos wie fieberhaft werden Feindbilder gesucht. Denn die Unmöglichkeit, der Leere zu entkommen, schürt auch die Wut.
Was bleibt, ist nur noch die allgemeine Gaudi, die manchmal gigantische, doch in Wahrheit verzweifelte Inszenierung des Selbstbetrugs, der Macht, des Krieges, der Folter, des individuellen oder kollektiven Hasses oder auch nur bescheidener der privaten Perversion. Die an ihren äußersten Punkt getriebene Selbstentfremdung wird als Happening inszeniert, die aus einer schrecklichen Verletzung entstandene Störung zur Norm erklärt, zum Kult stilisiert. Und wenn doch einmal Zweifel auftauchen? Dann war eben alles gar nicht so gemeint.
© Thomas Gruner, Juni 2004
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