von Thomas Gruner
Wem gehört unser Bewusstsein?
Wednesday 01 June 2005
Geschichte, Gedenken und Erinnern
Vor einigen Wochen publizierte ein meinungsführendes und meinungsbildendes Wochenmagazin in seiner Online-Ausgabe den Artikel eines Sozialpsychologen, der sich auf die sogenannte “Gedächtnisforschung” spezialisiert hat. Aufmerksam machte mich der Titel dieses Artikels: “Wie das Gehirn Geschichte fälscht” (Harald Welzer in Spiegel Online, 12.05.2005).
Zunächst erwähnt der Verfasser eine Diskussionsveranstaltung mit Menschen, die während des Krieges Bombenangriffen ausgesetzt waren und deren Erinnerungen mit den Auffassungen des referierenden Historikers nicht übereinstimmten. Ausgehend von diesem Beispiel stellt er dann, dabei verschiedene Aspekte vermischend und stark verkürzend, einige Thesen auf. Der individuellen Erinnerung gerade an traumatische Erfahrungen sei grundsätzlich zu misstrauen, sie sei oft trügerisch, ein “Artefakt” oder Teil des “False-Memory-Syndroms”, auch wenn der sich Erinnernde subjektiv vollkommen von der Wahrheit seiner Erinnerungen überzeugt sei. Abschließend meint der Autor:
“Geschichte und Erinnerung sind zwei grundverschiedene Dinge. Während die Geschichtsschreibung eine möglichst objektive Wahrheit sucht und dabei ausgefeilte Techniken der Quelleninterpretation entwickelt hat, bezieht sich Erinnerung immer auf die Identität desjenigen, der sich erinnert. Er behält im Gedächtnis, was für ihn selbst und vor allem für die eigene Gegenwartsbewältigung wichtig ist.”
Eigentlich müsste man diese Meinung nicht ausführlicher diskutieren, wenn nicht die Frage auftauchen würde, warum jemand letztlich selbstverständliche und allgemein bekannte Aussagen (dass Erinnerung zum Beispiel bruchstückhaft, unsicher, selektiv oder der Amnesie unterworfen sein kann) zum Gegenstand einer Veröffentlichung macht, ohne die Gründe für die Verwirrung des Gedächtnisses genau zu analysieren. Und warum muss die Erinnerung von Menschen so grundsätzlich in Frage gestellt und in einen Widerspruch zu den Arbeiten von Historikern gebracht werden? Sagen (offizielle) historische Quellen mehr über eine Zeit aus, als die Erinnerungen vieler Menschen, die diese Zeit selbst erlebten und bezeugen können?
Das Anzweifeln individueller Erfahrungen ist in zahlreichen gesellschaftlichen Bereichen ein beliebtes Mittel, um Realität zu vernebeln und Menschen zu verunsichern. Deshalb lohnt es sich, darauf einzugehen, vor welchem Hintergrund der Artikel (nahezu pünktlich?) erschien.
In den vergangenen Wochen und Monaten wurde in Deutschland mit viel Aufwand des Endes der Hitler-Diktatur und des Zweiten Weltkrieges gedacht: für die Mehrheit der Deutschen seinerzeit eine Niederlage ihres Größenwahns, für manche ein Zusammenbruch ihrer Illusionen, für eine Minderheit eine Befreiung vom Terror. In der Mitte Berlins wurde das umstrittene, sehr teure Holocaust-Mahnmal eingeweiht und ist seither der Öffentlichkeit zugänglich. Seine etwas pompös geratenen Ausmaße kommen mir eher vor wie das Stein gewordene schlechte Gewissen der Nation, das sich irgendwie doch nicht ganz beruhigen lassen will. Am Jahrestag der Kapitulation der Wehrmacht beging man rund um das Brandenburger Tor ein “Fest der Demokratie”, als dessen Initiatoren unter anderem auch die “demokratischen Parteien” verantwortlich zeichneten. Einige Menschen vertraten möglicherweise die Auffassung, man müsse innerhalb dieser Parteien die Demokraten inzwischen mit der Lupe suchen, und gesellten sich deshalb am Ende lieber zu einer Gruppe von Bürgern, die entschlossen, überdies ehrenamtlich die Aufgaben von Polizei, Justiz und Politik übernahmen und eine Demonstration der alten und neuen Faschisten im Zentrum Berlins durch eine Sitzblockade auf den Straßen verhinderten. Zuvor war viel darüber diskutiert worden, ob man den Neonazis am achten Mai einen Marsch durchs Brandenburger Tor im Namen von Freiheit und Demokratie gestatten solle oder mit Blick auf einen womöglich peinlichen Eindruck im Ausland lieber doch nicht. Die Freiheit obsiegte auf sehr deutsche Weise und man entschied, dass sie nicht durch das Tor marschieren, doch just in dessen geographischer Nähe ihre Fahnen schwingen und Trommeln schlagen dürfen. Offenbar hatten besagte Bürger jedoch eine etwas andere Vorstellung von Freiheit.
Wie immer bei Anlässen des nationalen Gedenkens schlug die große Stunde der Kommentatoren und Politiker. Seit Jahresbeginn ließ es sich kaum ein hochrangiger Vertreter des Staates nehmen, quer durchs In- und Ausland zu reisen, Gedenkveranstaltungen in ehemaligen Konzentrationslagern mit seiner betroffenen Miene zu schmücken, das Parlament kam zusammen und gedachte ebenso besinnlich wie feierlich, und die Nation wurde mit vielen Worten überflutet, oder besser einige wenige Worte und Sentenzen wurden unaufhörlich wiederholt: “Mit Scham blicken wir zurück”, “Freiheit”, “Wir fühlen Abscheu”, “Demokratie”,”Wir trauern”, “frei”, “Wir gedenken”, “demokratisch” “Wir werden nicht vergessen”, “Freiheit und Demokratie”, “Wir haben Grund, stolz zu sein”.
Wenn Worte besonders oft wiederholt werden, stellt sich auch besonders aufdringlich die Frage nach dem Inhalt des Geredeten. Man fragt sich, ob jemand, der im Sinne der Politik gedenkt, vor dem Vergessen bewahrt ist und sich darüber hinaus tatsächlich erinnert, ob die Vergangenheit abgeschlossen, gewissermaßen erledigt sein kann, und was den Wert des Erinnerns womöglich ausmacht. Ist es überhaupt notwendig, dass wir uns erinnern und wenn ja, warum? Sodann drängt sich die misstrauische Überlegung auf, warum ein Wort, etwa “Freiheit”, in all seinen Ableitungen nicht nur angerufen oder beschworen wird, sondern wasserfallartig die Nation überschwemmt.
Eine Möglichkeit, sich Antworten auf diese Fragen zu nähern, boten verschiedene Dokumentationen, die der Fernsehsender Arte, aber auch einige regionale Sender in Deutschland ausstrahlten. Ganz jenseits offiziellen Gedenkens wurde hier das Schicksal von Menschen portraitiert, die Terror und Krieg auf unterschiedliche Weise erfuhren. Es berichteten Männer und Frauen, die als Jugendliche und Kinder in den Konzentrationslagern gequält wurden, Menschen, die Zeuge waren, wie ihre nächsten Angehörigen auf der Flucht vor der Roten Armee zugrunde gingen, und viele, die als Kinder die Bombardierungen ihrer Heimatstadt (Dresden zum Beispiel) durch die Alliierten erlebten, sprachen über ihre Erfahrungen.
Deutlich wurde, wie sehr ihre individuelle Geschichte und die historischen Ereignisse das ganze Leben aller Betroffenen (unabhängig von ihrem persönlichen Hintergrund) erschüttert hatten. Die Vergangenheit ist niemals vergangen, sie lebt weiter im Inneren der Menschen, ist immer gegenwärtig, nichts ist vorbei oder abgeschlossen, und es ist entscheidend, ob jemand sich bewusst dieser Tatsache stellt oder sich ihr mehr oder weniger bewusstlos überlässt.
Von offizieller Seite in der Bundesrepublik wurde den Überlebenden der Todeslager gelegentlich gestattet, öffentlich über ihre Geschichte zu sprechen. Nicht dass sich die Repräsentanten des Staates für die Leiden der Verfolgten sonderlich interessiert hätten, es galt aber, vor der Welt Zerknirschung oder Besinnung zu demonstrieren, und so zu tun, als könne man nach einer einzigartigen gesellschaftlichen Katastrophe so weiter machen, als ob nichts geschehen wäre. Glücklicherweise gab es einige gelungene Filme und Bücher, die das Schicksal der Verfolgten erfahrbar machten.
Meist ignoriert (auch von ihnen selbst) oder für Zwecke politischer Propaganda missbraucht wurden die Traumatisierungen der Kinder jener Generation, die die Nazi-Diktatur ermöglichte, stützte und hofierte.
Jetzt berichteten sie, wie sie beispielsweise tagelang durch eine brennende Stadt irrten, nachdem die Mutter bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen war, was ihnen der Verlust des Vaters bedeutet hatte, wie sie zu fremden Menschen gegeben oder in Heimen untergebracht und dort oftmals misshandelt wurden oder zumindest ohne jede Zuwendung aufwachsen mussten. Jahrzehntelang hatten diese Menschen ihre Erlebnisse niemandem mitgeteilt, nicht einmal ihren Freunden und Partnern. Indem sie nun erzählten, was ihnen geschehen war, kamen unweigerlich die Einsamkeit, die Verzweiflung, die Angst, die Trauer zum Vorschein, die jahrelang in ihnen eingefroren waren. Man konnte den Eindruck bekommen, dass einige der Befragten buchstäblich aufzutauen begannen. Fast ausnahmslos räumten sie ein, unter Depressionen, gravierenden psycho-somatischen Erkrankungen und vielfältigen Ängsten gelitten zu haben oder weiterhin zu leiden. Manche erkannten, dass ihr Schweigen auch das Leben ihrer Kinder beeinträchtig hatte.
(Leider verfolgten die Autoren nicht die Frage, ob gerade das Verdrängen der prägenden Erfahrungen auch ein Grund ist für die verbreitete Sprachlosigkeit zwischen der Generation, die die Verwüstungen des Krieges als Kinder erleiden mussten oder in den Hungerjahren nach der Kapitulation aufwuchsen, und wiederum ihren eigenen Kindern. Ebenso wäre es wertvoll, darüber nachzudenken, ob und auf welche Weise die Entscheidungen jener ehemaligen “Kriegskinder”, die heute Mitglieder des Parlamentes sind, unbewusst von ihren frühen seelischen und physischen Mangelerlebnissen mit beeinflusst sein könnten.)
Im Grunde kam das heimliche Elend einer Gesellschaft zum Vorschein, die das reale Leiden im Inneren der Menschen begraben will, sie zum Schweigen verurteilt oder nach der stillen Übereinkunft funktioniert, das über Vergangenes nicht gesprochen werden dürfe, und an ihrer Oberfläche auf dem schönen Schein, auf dem Image von Erfolg, Wohlstand und Normalität beharrt. In der Tat schwiegen die meisten Menschen, als hätte man sie dafür bezahlt. Allerdings hat die Abwehr der Erinnerung sehr oft ihren Preis: Die verbarrikadierte eigene Geschichte führt zu seelischen Schmerzen (die mit viel Aufwand abgewehrt werden müssen) und zu einer chronischen Isolation, von sich selbst und von anderen. Wer seine eigene Geschichte nicht genau kennt und übergeht, kann sehr lange, vielleicht sogar reibungslos funktionieren, aber es kommt der Zeitpunkt, an dem sich eine gewisse Leere bemerkbar macht, an dem sichtbar wird, dass man nicht wirklich weiß, wer man ist, dass eine Substanz fehlt, nämlich die Sicherheit des Bewusstseins über sich selbst, und dass unklar bleibt, worauf das eigene Leben gründet. Diese Unsicherheiten kann man natürlich bekämpfen, wirklich entkommen kann man ihnen nicht.
Was für den Einzelnen gilt, gilt auch für die Gesellschaft, eine Nation insgesamt. Ohne Erinnerung ist eine Verarbeitung der Vergangenheit nicht möglich, Geschichte lässt sich ohne konkrete Erinnerung nicht verstehen. Gedenken im Verständnis der Politik gibt oft vor, die Vergangenheit bereits verarbeitet zu haben und schüttet die Erinnerung mit vielen, manchmal bedeutsam klingenden Worten zu. Es ist gut möglich, einer vergangenen Epoche zu gedenken ohne jede innere Beteiligung, dabei kann man verschiedene Masken tragen: die Maske der Bestürzung, der Reue, der Scham. Natürlich kann man auch aufrichtig dabei sein.
Sich der eigenen Geschichte wirklich zu stellen, bietet hingegen die Möglichkeit, am eigenen Leben in der Tat innerlich beteiligt zu sein, mit der Zeit können authentische Gefühle zum Vorschein kommen, die Masken bröckeln, werden unbrauchbar und das wirkliche Gesicht eines Menschen mit all seinen Lebensspuren wird kenntlich. Ein Mensch kommt zu sich, er kommt sich selbst nahe. Mit der Echtheit erwirbt man auch die Fähigkeit, Lügen und Heuchelei (auch die staatlich organisierte) zu durchschauen. Wer an der eigenen Biographie wirklich beteiligt ist, wird sich für sein Leben, seine Existenz einsetzen wollen. Er wird das Bedürfnis haben, über seine Biographie selbst zu bestimmen und sich mitunter die Frage stellen, ob die Gesellschaft, in der er lebt, dies zulässt.
Das inszenierte Gedenken und das gebetsmühlenhaft wiederholte offizielle Scham- und Reuebekenntnis führten in Deutschland bei Vielen zu einem Widerwillen, sich überhaupt mit der Vergangenheit zu befassen. Ein Überdruss entstand, dem ein bekannter Schriftsteller Ende der neunziger Jahre medienwirksam Ausdruck verlieh und letztlich ein Ende der Erinnerung überhaupt begrüßte. Das sind die Folgen öffentlicher Inszenierungen ohne Bewusstsein, sie wirken ermüdend und monoton. Sie verhindern, ob gezielt oder nicht, Erkenntnis, vor allem das Durchschauen von Mustern in der Geschichte. So entsteht schlimmstenfalls eine bewusstlose Nation, ein Volk von Schläfern.
Eine Reportage des Senders Arte befasste sich mit den kollektiven Selbstmorden am Ende des Krieges. Bekannt war bereits, dass Familienväter zunächst ihre Frauen und Kinder, dann sich selbst töteten, aus Angst vor Vergeltungsmassnahmen oder aus Abhängigkeit von der nationalsozialistischen Ideologie. Es ist dem Sender zu danken, dass er erstmals Fälle aufgriff, die bezeugen, dass auch zahlreiche Mütter ihre Kinder ermordeten, damit sie “den Russen” nicht in die Hände fielen. Natürlich waren diese Frauen aufgestachelt durch die nationalsozialistische Propaganda und Angehörige der Roten Armee haben reale Gräueltaten begangen. Doch zeigte sich auch, in welchem Ausmaß Mütter ihre Kinder einem Wahn opfern können. Prominente Vertreterin dieser seltsamen Methode zur Durchsetzung des Kindeswohls war bekanntlich Magda Goebbels, die ihre sechs Kinder im Führerbunker höchstselbst vergiftete. Es erschien ihr unerträglich, die Kinder in einer Welt ohne den Führer aufwachsen zu lassen.
Eine Frau erzählte vom Mordversuch durch ihre Mutter, wie die Mutter ihr die Schlinge um den Hals legte, um erst sie und dann sich selbst zu erhängen, wie das Mädchen in Panik geriet, von der Mutter belogen wurde, sie sprach über ihre Todesangst und darüber, wie sie von russischen Soldaten gerettet wurde, die sie freundlich behandelten. Sie hatte ihre Mutter verloren und war gleichzeitig einem brachialen Angriff auf ihre Existenz durch diese Mutter ausgeliefert, von dem sie sich nicht mehr erholen konnte. Ihr Leben war von Depressionen und Schmerzen gezeichnet und es war ihr nie möglich, eine eigene Familie zu gründen, obwohl sie sich dies immer gewünscht hatte. In der Erzählung dieser Frau wurde der ganze Wahnsinn jener Zeit und die Vergiftung der Menschen durch die Ideologie bis zur Selbstzerstörung deutlich und gegenwärtig.
Die Dokumentation vermittelte indirekt eben noch eine tieferliegende Botschaft: Der Wahn einer Regierung trifft nicht nur eine ausgegrenzte Gruppe der Bevölkerung, er trifft irgendwann alle, die gesamte Nation und richtet sie letztlich zugrunde. Dies wurde auch in den Berichten der ehemaligen Kriegskinder sehr lebendig, die der Zerstörung auf extreme Weise ausgesetzt waren.
Somit ist die möglichst genaue und konkrete Erinnerung vieler Menschen unverzichtbar, weil sie auf sehr persönliche Weise belegt, wie stark einzelne Lebensläufe vom Wahn der Herrschenden getroffen werden. Dieser Wahn kann viele Gesichter haben und beliebige Feindbilder entwickeln. Es muss nicht um die angebliche “Reinhaltung der Rasse” oder um die Bekämpfung des “Weltkommunismus” gehen. Auch die Unterwerfung aller politischen Entscheidungen unter das Diktat unbeschränkter Profitmaximierung, die Reduzierung der Menschen auf ihre Verwertbarkeit innerhalb dieses Systems, die Erzeugung und folgende Gängelung überflüssiger Menschen sind, wenn allgegenwärtig, Produkte eines Wahns. So kann auch die Freiheit selbst zu einer Wahnvorstellung werden, nämlich dann, wenn innerhalb einer Gesellschaft die Anzahl derjenigen Menschen wächst, die selbst beim besten Willen nicht mehr empfinden, ihr Leben nach ihren eigenen Bedürfnissen und Notwendigkeiten ausrichten zu können.
So unterschiedlich wahnhafte Vorstellungen sein können, artikulieren sie sich doch im Rahmen politischer Entscheidungen in sehr ähnlichen Verhaltensmustern. Je mehr die negativen, destruktiven Auswirkungen zum Tragen kommen, umso hektischer werden Sündenböcke gesucht, im Inneren wie außerhalb der Gesellschaft, für deren Niedergang stets bestimmte Personengruppen verantwortlich gemacht werden. Die diesem Agieren zugrunde liegende Unlogik, die Irrationalität entlarvt sich, indem gleichzeitig geradezu geschworen wird, zum bestehenden System gebe es keine Alternative, der beste aller denkbaren Zustände sei erreicht.
Ein Wahn ist immer an panische Ängste gekoppelt. Die paranoiden Verhaltensmuster machen auch die Erfindung eines äußeren Feindes notwendig, um sie für den Gestörten selbst rational erscheinen zu lassen und um sich in eine phantasierte Position der Stärke begeben zu können. Hierbei spielt keine Rolle, ob der Feind, das personifizierte Böse eine andere politische, religiöse oder ethnische Gesellschaftsform darstellt. Ein Feind muss um jeden Preis geschaffen werden, er findet sich immer, der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Je massiver der Größenwahn, um so stärker die Angst: So kann es vorkommen, dass die Regierung eines Landes von der tiefen Überzeugung beseelt ist, eine Weltmacht oder eine Supermacht zu sein, dabei weiß niemand, was das eigentlich bedeuten mag. Hinter dem Größenwahn lauert eben auch die Leere. Und gelegentlich kommt die Furcht amtierender Potentaten ganz unverstellt zum Vorschein, etwa wenn ein Machthaber durch ein Flugzeuggeräusch außerhalb seines Palastes so in Schrecken versetzt wird, dass er Hals über Kopf in einen Bunker flüchtet, weil er fürchtet, eine Bombe könne auf seinen hochwohlgeborenen Kopf fallen.
Nach innen drückt sich die Paranoia in zunehmenden Kontroll- und Überwachungszwängen, rigiden Maßnahmen oder Beschimpfungen und Drohgebärden gegenüber der Bevölkerung oder einzelnen Gruppen aus. Deswegen ist die saloppe Sentenz, dass der Wahnsinn oft Methode habe, ausgesprochen zutreffend.
Wahnhafte Strukturen innerhalb eines gesellschaftlichen Systems sind auch deshalb gefährlich, weil sie gleichsam ansteckend wirken, auf die unterschiedlichen Institutionen übergreifen. Dann kann man feststellen, dass öffentliche Verlautbarungen von Regierungen und Medienanalysen der Realität zunehmend weniger Ähnlichkeit mit der Wahrnehmung aufmerksamer Bürger haben. Und genau diesen Entwicklungen setzt die persönliche Erinnerung an historische Ereignisse etwas entgegen, weil das lebendige Gedächtnis Bewusstsein erzeugt und an nachfolgende Generationen weiter vermittelt. Das Bewusstsein lässt sich dann nichts mehr vormachen, es erkennt sich wiederholende Muster und Strukturen, destruktive Tendenzen in ihren so verschiedenen Verkleidungen. Ein Mensch, dem überlieferte Erfahrungen aus der Vergangenheit zugänglich sind, wird viel eher sich selbst, seiner eigenen wachen Wahrnehmung glauben als dem, was Regierungen behaupten, was er in der Zeitung lesen kann oder ihm an Erklärungen von diversen Fernsehkanälen angeboten wird. Es ist nicht nur so, dass die Vergangenheit gar nicht zu den Akten gelegt werden kann, weil sie in jedem Fall weiterhin wirksam ist, vielmehr sollte sie lebendig bleiben, bewahrt in den vielen individuellen Erfahrungen, die weiter gegeben werden. Das Wissen um die Zerstörung von Biographien durch Mächtige stärkt die Realisierung und die berechtigte Empörung über das Leid, das Potentaten und politische wie ökonomische Entscheidungsträger Menschen auch in der Gegenwart zufügen. Ich vermute, dass wir gerade in Deutschland noch lange die Folgen des Jahrzehnte langen Schweigens spüren werden.
Die Essays, Artikel und Interviews auf dieser Webseite befassen sich mit der Notwendigkeit der bewussten Erinnerung an die eigene Kindheitsgeschichte, an den besonderen Charakter der Bindung an die Eltern. Sie belegen die Tradition der Erinnerungsleugnung (und damit auch der Leugnung der Realität) in der Institution Psychotherapie wie in den Familien. Dabei ist das Argument immer gleich: Was du erinnerst, ist falsch. Es war ganz anders. Es hat gar nicht stattgefunden, das bildest du dir ein. Höre lieber auf mich, denn ich weiß, wie es wirklich gewesen ist.
Ebenso wenig sollten Menschen die Erinnerung an politische und historische Ereignisse und ihre Folgen der Deutung von Wissenschaftlern und Fachleuten überlassen. Man kann sich nur individuell erinnern, Erinnerung kann nicht von außen “gestiftet” werden. Das Bewusstsein über die eigene Kindheitsgeschichte wie über die Geschichte eines Landes kann sich jeder nur selbst erarbeiten. Sicher wird, wer zu der eigenen Erfahrung steht, hin und wieder ausgegrenzt. Bewusstsein ist aber der individuelle Besitz jedes einzelnen Menschen und immer dann, wenn genau dieses Bewusstsein manipuliert werden soll, ist Grund für Hellhörigkeit gegeben und für die Frage: Wem soll das nutzen, welchem Zweck dient das?
Die von mir erwähnten Dokumentationen zeigten, dass Gedenken sinnlos ist, wenn die Erinnerung verschüttet bleibt, dass es nicht ausreicht, mit Zahlen und Jahresdaten zu jonglieren, dass wir keiner moralischen Reden bedürfen, sondern erzählter Erfahrung und dass Geschichte etwas anderes darstellt, als manche Historiker glauben. Arno Gruen schreibt in seinem letzten Buch “Verratene Liebe – Falsche Götter” sinngemäß, die bisherige Geschichtsschreibung habe überwiegend versäumt, die tieferen, wahren Antriebe der Mächtigen und ihres Größenwahns aufzuzeigen. Deshalb, so Gruen, sei es auch unmöglich gewesen, aus den vielen Wiederholungen historischer Prozesse entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Und er führt aus:
“Und anstatt aus unserer Geschichte zu lernen, fühlen wir uns von ihr beleidigt und jagen Ehre, Heldentum, und einer freiwilligen Knechtschaft unter falschen Göttern hinterher. So verleugnen wir die gemeinsame Vergangenheit. Aber ohne Vergangenheit haben wir nichts, auf dem wir stehen können, haben wir keinen Kontext … . Erinnerung ist verbunden mit unserem Sein, aber sie ist auch eine Gefahr, weil sie gegen Macht und deren Rechtfertigung verstößt. … Erinnerung ist eingebettet in das ganze Gefüge unseres Seins, unserer Möglichkeit, uns als eigene Person mit eigenem Selbst und eigener Geschichte zu erleben – oder eben nicht. Wenn aber Menschen ihr Sein darauf aufbauen, andere zu beherrschen und zu erniedrigen, dann müssen sie unsere gemeinsame Vergangenheit verfälschen, um sich selbst rechtfertigen zu können. … So wird Vergangenheit zu einer Ideologie, die dem Menschen aufgesetzt wird, damit er die wirkliche, selbst erlebte Vergangenheit nicht erkennt.”
Die Destruktivität hat viele Gesichter, dies wird unmittelbar klar, wenn man Geschichte als das durchlittene Leben vieler Einzelner begreift und sich diesen Einzelschicksalen öffnet. Was sonst, als sich der eigenen Erfahrung und der anderer zu öffnen, wäre übrigens Leben?
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