Was ist Hass?

von Alice Miller

Was ist Hass?
Friday 01 April 2005

Man pflegt das Wort Hass mit der Vorstellung eines gefährlichen Fluchs zu verbinden, von dem man sich so schnell wie möglich frei machen müsse. Man hört auch oft die Meinung, Hass würde den Menschen vergiften und eine Heilung der alten, aus der Kindheit stammenden Verletzungen geradezu verunmöglichen. Da ich mich deutlich von dieser üblichen Meinung distanziere, werde ich oft missverstanden. So waren meine Bemühungen, das Phänomen Hass zu klären und diesen Begriff zu vertiefen, bisher nicht sehr erfolgreich.

Deshalb habe ich beschlossen, das Kapitel “Wie entsteht Hass?” aus “Wege des Lebens” in die Website aufzunehmen, und zwar als Leseprobe auf der Seite “Bücher”. Ich denke, dass es hilfreich ist, diesen Text zu lesen, bevor man sich entscheidet, meinen heutigen Ausführungen zu folgen.

Auch ich bin der Meinung, dass der Hass einen Organismus vergiften kann, aber nur solange er unbewusst ist und auf Ersatzpersonen, also Sündenböcke, gerichtet bleibt. Dann kann er sich nicht auflösen. Wenn ich z.B. die Fremdarbeiter hasse, aber nicht sehen darf, wie meine Eltern mit mir umgingen, als ich ein Kind war, dass sie mich beispielsweise stundenlang als Säugling schreien ließen oder mich nie liebevoll anschauten, leide ich unter einem latenten Hass, der mich lebenslang begleiten kann und verschiedene körperliche Symptome verursachen mag. Wenn ich aber weiß, was meine Eltern mir durch ihre Ignoranz angetan haben und meine Empörung über dieses Verhalten bewusst spüren konnte, habe ich es nicht nötig, meinen Hass auf andere ignorante Personen zu übertragen. Mit der Zeit kann sich mein Hass auf die Eltern abschwächen, kann sich auch zeitweise auflösen, um dann aber durch neue Ereignisse der Gegenwart oder neue Aspekte der Erinnerung wieder aufzuflammen. Doch ich weiß nun, um was es geht. Ich kenne mich nun gut genug, gerade dank der erlebten Gefühle, UND MUSS NIEMANDEN AUS DEM GEFÜHL DES HASSES HERAUS UMBRINGEN ODER SCHÄDIGEN.

Wir begegnen oft Menschen, die ihren Eltern für die Schläge sogar dankbar sind oder deren sexuelle Gewalt angeblich längst vergessen haben und ihnen in Gebeten alle “Sünden” vergaben, aber unter dem Zwang stehen, Kinder mit Gewalt zu erziehen, oder- und sexuell zu vergewaltigen. Jeder Pädophile trägt seine Liebe zu Kindern zur Schau und weiß nicht, dass er sich im Grunde für das rächt, was ihm als Kind widerfahren ist. Auch wenn er diesen Hass nicht bewusst spürt, steht er unter dessen Diktat.

Dieser LATENTE Hass ist tatsächlich gefährlich und schwer aufzulösen, weil er sich nicht auf die Person richtet, die ihn verursacht hat, sondern auf Ersatzpersonen. Er kann lebenslang erhalten bleiben, in zahlreichen Formen der Perversion zementiert, und bedeutet eine Bedrohung für die Umgebung, aber in bestimmten Fällen auch für den Betreffenden selbst.

Anders verhält es sich mit dem BEWUSSTEN, REAKTIVEN Hass, der wie jedes Gefühl abklingen kann, wenn es durchlebt wurde. Wenn wir uns dazu durchringen konnten, klar zu erkennen, dass wir von unseren Eltern unter Umständen auf eine sadistische Art behandelt wurden, regt sich bei uns zwangsläufig die Empfindung des Hasses. Wie gesagt, kann diese sich mit der Zeit abschwächen oder ganz abklingen, doch es handelt sich hier nicht um einen einmaligen Schritt. Das Ausmaß der als Kind erfahrenen Misshandlungen lässt sich nicht auf einmal erfassen. Es bedarf eines längeren Prozesses, in dem immer wieder ein Aspekt der Misshandlung ins Bewusstsein zugelassen wird, so dass auch der Hass nochmals auftreten kann. Aber er ist dann nicht gefährlich. Er ist eine logische Konsequenz dessen, was geschah und erst jetzt vom Erwachsenen vollständig wahrgenommen wird, jedoch vom Kind über Jahre schweigend geduldet werden musste.

Neben dem reaktiven Hass auf die Eltern und dem latenten, verschobenen Hass auf Sündenböcke gibt es auch den berechtigten Hass auf eine Person, die uns in der Gegenwart quält, sei es körperlich oder seelisch, eine Person, in deren Macht wir uns befinden und von der wir uns nicht befreien können, oder meinen, es nicht zu können. Solange wir von ihr abhängig sind, oder meinen, es zu sein, müssen wir sie hassen. Es ist kaum denkbar, dass ein Mensch, der gefoltert wird, keinen Hass auf den Folterer empfindet. Wenn er sich dieses Gefühl verbietet, wird er unter körperlichen Symptomen leiden. In den Biographien über christliche Märtyrer befinden sich Beschreibungen von entsetzlichen Krankheiten, bezeichnenderweise häufig von Hautsymptomen. Der Körper wehrte sich auf diese Weise gegen den Selbstverrat, denn die “Heiligen” mussten ihren Peinigern ja vergeben, aber die entzündete Haut zeigte eindeutig die starke, unterdrückte Wut.

Doch wenn es dem Betreffenden gelingt, sich von der Macht des Folterers zu befreien, muss er nicht tagtäglich mit diesem Hass leben. Natürlich kann die Erinnerung an die Ohnmacht, an die erlittenen Qualen immer wieder aufkommen. Aber mit der Zeit schwächt sich die Intensität des Hasses wahrscheinlich ab. (Ich bin in “Die Revolte des Körpers” genauer auf diesen Aspekt eingegangen)

Der Hass ist nur ein Gefühl, wenn auch ein sehr starkes, vitales, es ist wie jedes andere Gefühl ein Zeichen unserer Lebendigkeit. Daher zahlen wir einen Preis, wenn wir ihn zu unterdrücken versuchen. Denn der Hass will uns etwas mitteilen, über unsere Verletzungen, aber auch etwas über uns, über unsere Werte, unsere Art der Sensibilität, und wir müssen lernen, darauf zu hören und den Sinn der Botschaft zu verstehen. Wenn uns dies gelingt, brauchen wir den Hass nicht zu fürchten. Wenn wir z. B. Scheinheiligkeit, Heuchelei und Lügen hassen, geben wir uns das Recht, dagegen zu kämpfen, wo es uns möglich ist, oder uns Menschen zu entziehen, die nur der Lüge vertrauen. Wenn wir aber so tun, als würde uns das nichts ausmachen, verraten wir uns selbst.

Die fast allgegenwärtige, aber dennoch destruktive Forderung der Vergebung fördert diesen Selbstverrat. Dieser wird von der Religion und von der traditionellen Moral immer wieder als Tugend empfohlen und in zahlreichen Therapien fälschlicherweise als Mittel der “Heilung” angeboten. Doch es lässt sich leicht nachweisen, dass weder Gebete, noch autosuggestive Übungen des “positiven Denkens” in der Lage sind, berechtigte vitale Reaktionen des Körpers auf Demütigungen und andere frühe Verletzungen der Integrität des Kindes ungeschehen zu machen. Die qualvollen Krankheiten der Martyrer zeigen deutlich den Preis ihrer Gefühlsverleugnung. Wäre es daher nicht einfacher, sich zu fragen, wem der Hass eigentlich gilt, und zu sehen, weshalb er im Grunde berechtigt ist? Dann besteht nämlich die Chance, dass wir mit unseren Gefühlen verantwortlich leben können, ohne sie zu verleugnen und mit Krankheiten für diese “Tugend” bezahlen zu müssen.
Ich wäre misstrauisch, wenn mir eine Therapeutin (oder ein Therapeut) versprechen würde, dass ich nach der Behandlung (womöglich dank der Vergebung) von unliebsamen Gefühlen wie Wut, Zorn oder Hass frei wäre. Was bin ich für ein Mensch, wenn ich nicht innerlich, vorübergehend, mit Zorn oder Wut auf Ungerechtigkeit, Anmaßung, Bosheit oder arroganten Schwachsinn reagieren könnte? Wäre dann nicht mein Gefühlsleben amputiert? Wenn die Therapie mir wirklich geholfen hat, müsste ich für mein ganzes restliches Leben den Zugang zu ALLEN meinen Gefühlen haben, aber auch den bewussten Zugang zu meiner Geschichte, der mir die Intensität meiner Reaktionen erklärte. Das würde diese Intensität ziemlich schnell mildern, ohne schwerwiegende Spuren im Körper zu hinterlassen, wie es sonst die Unterdrückung der unbewusst gebliebenen Emotionen nach sich zieht.

In der Therapie kann ich lernen, meine Gefühle zu verstehen, sie nicht zu verdammen, sie als meine Freunde und Beschützer zu betrachten, anstatt sie als Feinde zu fürchten, die man bekämpfen müsse. Auch wenn wir letzteres von unseren Eltern, Lehrern und Pfarrern gelernt haben, müssen wir schließlich einsehen, dass diese Selbstamputation, die jene Menschen betrieben, gefährlich ist. Wir waren ja selbst eindeutig Opfer dieser Verstümmelung.

Es gibt immer noch Länder, in denen Schläge zu den „Erziehungsmethoden“ des Schulunterrichts gehören. Doch kein Lehrer schlägt die Kinder, wenn er nicht selbst geschlagen wurde und als Kind nicht lernen musste, seine Wut zu unterdrücken. An seiner Klasse lässt er sie später aus, ohne zu wissen, warum er dies tut. Ich meine, dass ein entsprechendes Bewusstsein zahlreiche Schulkinder vor Brutalität retten könnte, wie das Bewusstsein der Staatsmänner über ihre persönliche Geschichte ganze Völker vor deren Ignoranz und Grausamkeit retten würde.

Nicht unsere Gefühle bilden für uns und unsere Umgebung eine Gefahr, sondern deren Abspaltung aus Angst vor ihnen. Daher die Amokläufer, daher die Selbstmordattentäter und daher die unzähligen Gerichte, die nichts von den wirklichen Ursachen der Verbrechen wissen wollen, um die Eltern der Delinquenten zu schonen und die eigene Geschichte im Dunkeln zu halten.