Bedingungen der Therapie

von Alice Miller

Bedingungen der Therapie
Monday 01 January 2001

Ich werde häufig gefragt, was ich heute für den entscheidenden Faktor in der Psychotherapie halte. Ist es die Erkenntnis der Wahrheit, die Befreiung vom Schweigegebot und von der Idealisierung der Eltern, oder ist es die Gegenwart des Wissenden Zeugen? Ich denke, dies ist kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-als-Auch. Ohne den Wissenden Zeugen ist es unmöglich, die Wahrheit der frühen Kindheit zu ertragen. Doch unter einem Wissenden Zeugen verstehe ich nicht jeden, der Psychologie studiert oder Primärerlebnisse bei einem Guru erfahren hat und in Abhängigkeit von ihm geblieben ist. Wissende Zeugen sind für mich vielmehr Therapeuten, welche die Kraft fanden, sich ihrer Geschichte zu stellen, dabei autonom zu werden und nicht ihre verdrängte Ohnmacht durch die Macht über ihre Patienten ausgleichen müssen.

Der Erwachsene braucht Hilfe, um die gegenwärtigen Situationen zu bewältigen und gleichzeitig im engen Kontakt mit dem einst leidenden und wissenden Kind zu bleiben, das er so lange nicht anzuhören wagte, aber heute, in der Begleitung, anhören kann. Der Körper weiß alles, was ihm geschehen ist, kann es aber nicht mit Worten ausdrücken. Er ist wie das Kind, das wir einmal waren, das Kind, das alles sieht, aber hilflos und ohne die Hilfe des Erwachsenen ohnmächtig ist. Wenn also Emotionen aus der Vergangenheit aufsteigen, dann sind sie immer von der Angst des sich ausgeliefert fühlenden Kindes begleitet, das auf das Verständnis oder zumindest auf die Beruhigung durch den Erwachsenen angewiesen ist. Auch ratlose Eltern, die ihr Kind nicht verstehen, weil sie ihre eigene Geschichte nicht kennen, können diese Beruhigung leisten. Sie können seine (und ihre eigenen) Ängste lindern, wenn sie ihrem Kind Schutz, Sicherheit und Kontinuität geben. Das gleiche kann unser kognitives System im Dialog mit dem Körper tun.

Im Gegensatz zum Körper weiß das kognitive System wenig über alte Ereignisse, die bewussten Erinnerungen sind brüchig und unzuverlässig. Dafür verfügt es über ein umfangreiches Wissen, einen entwickelten Verstand und eine Lebenserfahrung, die dem Kind noch fehlen. Da der Erwachsene nicht mehr ohnmächtig ist, kann er seinem inneren Kind (dem Körper) Schutz und ein offenes Ohr bieten, damit es sich auf seine Weise artikulieren und seine Geschichte erzählen kann. Im Lichte dieser Geschichte erhalten die auftauchenden, unverständlichen Ängste und Emotionen des Erwachsenen ihren Sinn. Sie stehen endlich in einem Kontext und sind nicht mehr bedrohlich.

In einer für die Not des Kindes aufgeschlossenen Gesellschaft ist man mit seiner Geschichte nicht mehr allein. Das gilt auch für den Therapeuten.

Vor kurzem habe ich eine Antwort ans Forum geschickt, die ich hier anschließend zitiere:

Lieber Franck, ich kann verstehen, dass Sie von der Therapiebeschreibung Stettbachers fasziniert sind. Ich war es auch, als ich das Manuskript im Jahre 1989 las, weil ich darin eine Lösung für Viele zu finden glaubte. Zu dieser Zeit erhielt ich zahlreiche Briefe von Menschen, die nach der Lektüre meiner Bücher überzeugt waren, dass die Ursachen ihrer Leiden in ihrer traumatischen Kindheit lagen. Sie suchten also nach einer Methode, die ihnen hätte helfen sollen, die verdrängten Erinnerungen ins Bewusstsein zu holen. Da ich selber seinerzeit kein Verständnis und keine Hilfe, weder in meiner Kindheit noch in meinen Therapien, gefunden hatte, erachtete ich die Idee einer “primalen” (mein Begriff) Selbsttherapie durchaus für normal und akzeptabel.
Erst einige Jahre später begriff ich, welche ausschlaggebende Bedeutung für den Heilungsprozess dem empathischen und gut informierten Therapeuten zukommt. Die Versuche vieler mutiger Menschen, die alles dransetzten, um die Selbsttherapie korrekt durchzuführen, ihre Ängste damit noch verstärkten und sich schließlich für den Misserfolg beschuldigten, halfen mir, vieles zu verstehen. Unter anderem ging es mir auf, dass die “primale” Selbsttherapie zwar leicht die alten verdrängten Gefühle auslösen kann, aber zugleich auch die primäre Not des Kindes, das mit seinen Schmerzen und Ängsten immer allein war, im Erwachsenen reaktivieren kann, ohne dass diese in der Einsamkeit der Selbsttherapie aufgelöst werden können.
Heute teile ich vollkommen Arthur Janov’s Meinung, dass eine Primärtherapie als Selbsthilfe gefährlich sein kann. (vgl. seine Homepage). Ich habe seit 1994 keinen Kontakt mit Herrn Stettbacher, aber nehme an, dass auch er über die negativen Folgen informiert wurde und daher inzwischen aufhörte, seine Methode der Selbsthilfe zu empfehlen. Seit dem Erscheinen seiner Therapiebeschreibung 1990 sind zahlreiche neue Informationen zu diesem Thema dank dem Internet zugänglich gemacht worden, und dies mag Herrn Stettbacher zum Überdenken und Korrigieren seiner bereits überholten Position anregen.