Der blanke Sadismus

von Alice Miller

Der blanke Sadismus
Friday 20 May 2005

Viele Menschen zeigten sich empört über die Perversionen der US-Soldaten, die in der Behandlung der irakischen Gefangenen sichtbar wurden. Selten habe ich von einer solchen Empörung gehört, wenn hier und da versucht wird, perverse Praktiken aufzuzeigen, die an KINDERN verübt werden, wie z.B. in amerikanischen und britischen Schulen, weil diese dort seit jeher als Erziehung bezeichnet werden. Hingegen wird die Brutalität gegen ERWACHSENE (mit Recht) sofort als Skandal empfunden. Die Welt scheint auch erstaunt, dass diese Brutalität sogar bei den Amerikanern, die sich der internationalen Öffentlichkeit als Hüter des globalen Friedens präsentieren, zum Vorschein kommt. Aber all das hat eine Erklärung, die selten gehört wird.

Daher ist es zweifellos gut, dass die Situation endlich transparent wird, dass die Lüge dank der Medien so deutlich entlarvt wurde. Die Lüge sagt: Wir sind eine zivilisierte, freiheitsliebende Nation und bringen der ganzen Welt Demokratie und Unabhängigkeit. Unter diesem Motto drangen die USA in das fremde Land Irak, verursachten Verwüstungen und bestehen immer noch darauf, hier Kulturwerte zu importieren. Und nun stellt sich heraus, dass die gut gedrillten, adrett gekleideten Soldaten neben den Bomben und Raketen ein riesiges Arsenal angesammelter Wut in sich tragen, unsichtbar für alle, auch für sie selbst, ganz in ihrem Innern verborgen, aber unmissverständlich gefährlich.

Man fragt sich: Woher kommt diese unterdrückte Wut, dieses Verlangen, machtlose Gefangene zu quälen, zu demütigen, zu verhöhnen und zu misshandeln? Wofür müssen sich diese vermeintlich starken Soldaten rächen? Und wo haben sie ein solches Verhalten gelernt? Zweifellos da, wo alle es lernen: zuerst als kleine Kinder in der Familie, wo sie mit Hilfe von Schlägen lernen mussten zu gehorchen, dann in der Schule, wo sie als wehrlose Objekte dem Sadismus mancher Lehrer ausgeliefert waren, und schließlich in der Rekrutenzeit, als sie von den Ranghöheren wie Dreck behandelt wurden, damit sie die fragwürdige Fähigkeit erwerben, alles zu erdulden und hart zu werden.

Der Durst nach Rache kommt ja nicht aus der Luft. Er hat eine ganz klare Ursache, auch wenn fast niemand bereit ist, sie zu sehen. Der Durst nach Rache hat seinen Ursprung in den ersten Jahren, in denen das Kind schweigen musste, als es im Namen der Erziehung grausam gequält wurde. Und die Methoden des Quälens lernte es sowohl von den Eltern als auch später von den Lehrern und Vorgesetzten. Trotzdem erwarten viele Menschen, dass diese systematische, durch Vorbild gelieferte Anleitung zur Zerstörung des anderen ohne böse Folgen bleibt. Als wäre das Kind ein Container, den man von Zeit zu Zeit leeren kann. Doch das menschliche Gehirn ist kein Container, und das früh Gelernte lässt sich kaum ungeschehen machen. Das zeigen jetzt die Fakten im Irak.

Ich habe bereits in „Die Revolte des Körpers“ darauf hingewiesen, dass in 22 Staaten der USA Kinder und Jugendliche auch in Schulen legal geschlagen, gedemütigt, sehr oft sadistisch behandelt und somit real gefoltert werden. Nur gilt dieses Verhalten nicht als Folter, weil es Erziehung, Disziplinierung und Führung genannt wird. Die Religionen unterstützen diese Praxis. Niemand protestiert dagegen, außer im Rahmen einiger weniger Websites im Internet. Hingegen wimmelt es im Internet von Anzeigen, die Peitschen und andere Geräte zur Züchtigung der kleinen Kinder anbieten, damit diese gottgefällig werden, genau so, wie Gott sie braucht und lieben kann. Der Skandal im Irak zeigt, wie diese Kinder tatsächlich werden, zu welchen Erwachsenen sie sich später entwickeln. Die perversen Soldaten sind die Früchte der Erziehung zur Gewalt, Gemeinheit und eben Perversion.

Es werden in den Medien Auffassungen von psychologischen Experten zitiert, wonach die Brutalität der US- Soldaten auf den kriegsbedingten Stress zurückzuführen seien oder auf Befehle von oben. Sicher wurden die Soldaten im Irak durch Befehle von oben in ihrem perversen Verhalten unterstützt, doch die Voraussetzungen zum Ausführen der Folter waren ja bereits da. Zweifellos werden durch den Krieg latente Aggressionen ausgelöst, DOCH DIESE MÜSSEN SCHON LATENT VORHANDEN GEWESEN SEIN. Einem Menschen, der weder zu Hause, noch in der Schule mit Gewalt aufgewachsen ist, wäre es unmöglich, wehrlose Gefangene zu misshandeln und zu verhöhnen. Er könnte es einfach nicht. Wir wissen aus der Geschichte des letzten Weltkrieges, dass manche der unfreiwilligen Kämpfer immer wieder, auch im Stress des Krieges, ein menschliches Gesicht zeigen konnten, wenn sie gewaltlos aufgewachsen sind. Wir wissen auch aus vielen Lager- und Kriegsberichten, dass sogar dieser extreme Stress Erwachsene niemals zwangsläufig zu perversen Menschen gemacht hat.

Die Perversion hat eine lange, obskure Geschichte, die immer in der
Kindheit des Betreffenden wurzelt. Dass diese Geschichten der Gesellschaft
in der Regel verborgen bleiben, ist kein Wunder: Allzu viele einst mit Gewalt
zum Gehorsam erzogene Menschen haben Grund genug, nicht an das Leiden ihrer
Kindheit erinnert zu werden und die verdrängen Fakten niemals ans Tageslicht
kommen zu lassen. Sie lassen sich lieber in S/M Klubs auspeitschen und
behaupten, dies zu genießen, anstatt sich zu fragen, weshalb sie zu dieser
Perversion gekommen sind. Der Kult des Unbewussten scheint in unserer
Gesellschaft nach wie vor seine Triumphe zu feiern. Denn es ist nicht wahr, dass „in uns allen das Bist steckt“, wie es so gedankenlos verkündet wird. Das Biest steckt nur in Menschen, die als Kinder auf perverse Art behandelt wurden und diese Tatsache verleugnen. Sie suchen und finden Sündenbocke für ihre unbewusste Rache oder zerstören sich selbst mit Drogen und anderen Substanzen, um die an ihnen begangenen Taten nie wahrnehmen zu müssen. Weil der Schmerz für das Kind unerträglich gewesen wäre. Doch der Erwachsene könnte ihn ertragen und könnte damit, dank seines Bewusstseins, das „Biest“ aus der Welt schaffen.