Aus dem Gefängnis der Schuldgefühle

von Alice Miller

Aus dem Gefängnis der Schuldgefühle
Saturday 01 October 2005

Obwohl sehr viele der eingegangenen Briefe von allgemeinem Interesse sind, ist es uns nicht möglich, alle hier zu publizieren, und es ist mir auch nicht möglich, jeden einzelnen zu beantworten. So schreibe ich in diesem Artikel eine zusammenfassende Antwort.

Ich werde gelegentlich gefragt, woher ich meine Sicherheit nehme, worauf ich mich stütze, wenn ich den etablierten Meinungen widerspreche. da ich ja keiner Schule, keiner Sekte oder irgendeiner Glaubensgemeinschaft angehöre, die gewöhnlich vielen Menschen eine angebliche Sicherheit geben. Es ist wahr, ich glaube nur an Fakten, die ich selber überprüfen kann. Den Zugang zu diesen Fakten verdanke ich den Erfahrungen mit meinem eigenen Leben und den Tausenden von Briefen, die ich seit 1979 von den Lesern meiner Bücher erhalten habe.

Die meisten dieser Briefe stehen im Zeichen einer auffallenden, fast vollständigen Verleugnung der Realität der Betroffenen, die sich aber einem Außenstehenden durch die Mitteilung der Fakten deutlich offenbart. Die Briefe sind fast immer aus der Perspektive der Eltern geschrieben, die das Kind, das man war, nicht ausstehen, geschweige denn lieben konnten. Die Perspektive des Kindes äußert sich hingegen in keinem Satz, außer in dem Leiden des heutigen Erwachsenen unter seinen körperlichen Symptomen, den Depressionen, den Suizidgedanken und den beißenden Schuldgefühlen. Es wird mir immer wieder mitgeteilt, dass man kein misshandeltes Kind war, auch nicht ein geschlagenes Kind, mit Ausnahme von einigen Ohrfeigen, die ja bekanntlich keine Bedeutung hätten, oder von gelegentlichen Fußtritten, die aber wirklich verdient waren, weil man manchmal unausstehlich war und die Eltern nervte. Man versichert mich oft, dass man im Grunde ein geliebtes Kind war, aber überforderte, arme Eltern hatte, die unglücklich, depressiv, schlecht informiert oder gar Alkoholiker waren, und als Kinder ungeliebt aufgewachsen seien. Daher sei es kein Wunder, wenn diese Eltern leicht ihre Geduld verloren und zugeschlagen hätten. Dafür müsse man doch Verständnis aufbringen. Man hätte den Eltern so gerne geholfen, weil man sie liebte und sie einem Leid taten. Aber wie sehr auch immer man sich Mühe gab, es sei einem nie gelungen, sie aus ihrer Depression zu retten und sie glücklich zu machen.

Das hinterließ ein quälendes Schuldgefühl, das einfach nicht weichen will. Immer steht man vor der Frage: Was mache ich denn falsch? Warum gelingt es mir nicht, meine Eltern aus ihrem Elend zu retten? Ich gebe mir soviel Mühe. Auch bei den Therapeuten. Sie sagen, ich soll doch die guten Seiten des Lebens genießen, aber dies gelingt mir nicht, und auch dafür fühle ich mich schuldig. Sie sagen, ich soll doch endlich erwachsen werden, mich nicht wie ein Opfer fühlen, meine Kindheit sei längst vorbei, ich soll doch endlich das Blatt wenden und aufhören zu grübeln. Sie sagen, ich soll nicht die Schuld bei anderen suchen, sonst wird mich der Hass umbringen, ich soll endlich verzeihen und in der Gegenwart leben, sonst bin ich ein „Borderline-Patient“ oder was weiß ich. Aber wie mache ich das? Natürlich will ich meine Eltern nicht beschuldigen, weil ich sie liebe und ihnen mein Leben verdanke. Sie hatten ja genug Sorgen mit mir. Wie werde ich meine Schuldgefühle los? Sie sind noch umso mächtiger, wenn ich meine Kinder schlage, es ist schrecklich, dass ich nicht damit aufhören kann, sie bringen mich immer wieder zur Verzweiflung. Ich hasse mich für diesen Zwang zur Gewalt, ich verabscheue mich, wenn ich in blinde Wut gerate. Was kann ich dagegen tun? Warum muss ich mich ständig hassen und mich schuldig fühlen? Warum halfen mir die vielen Therapeuten nicht? Seit Jahren versuche ich, deren Ratschläge zu befolgen, aber trotzdem schaffe ich es nicht, meine Schuldgefühle aufzulösen und mich zu lieben, wie ich sollte.

Ich zitiere hier meine Antwort auf einen Brief, der alle die oben angeführten Elemente enthält:

„Sie schrieben im ersten Brief, dass Sie kein misshandeltes Kind waren, und hier schreiben Sie, dass Sie als Kind Ihren Hund schwer misshandelt hätten, weil Sie ein bösartiges Kind waren. Wer hat Ihnen beigebracht, sich so zu sehen? Auf der ganzen Welt gibt es nämlich kein einziges Kind, das seinen Hund quält, wenn es nicht selbst schwer misshandelt wurde, aber es gibt eine ganze Menge von Menschen, die sich so erleben und an ihren Schuldgefühlen verzweifeln, um die Schuld ihrer Eltern nicht zu sehen, weil sie die Strafe für das Sehen befürchten. Wenn Ihnen meine Bücher nicht geholfen haben, dies zu verstehen, dann kann ich gar nichts mehr für Sie tun. Sie selber können sich nur helfen, wenn Sie aufhören, Ihre Eltern vor Ihren berechtigten Gefühlen zu beschützen. Dann werden Sie nicht mehr unter dem Zwang stehen, diese zu imitieren, indem Sie sich verabscheuen, beschimpfen und sich als ein Monster darstellen.“ (wer möchte, kann diesen Brief hier lesen)

Wie kann sich ein Mensch lieben, der sehr früh lernen musste, dass er nicht liebenswert sei? Dass er Schläge bekommt, damit er anders wird, als er ist? Dass er den Eltern eine Last und keine Freude war und schließlich, dass nichts in der Welt jemals die Abneigung und den Zorn der Eltern wird aufheben können? Er glaubt, dass er die wahre Ursache dieses Hasses ist, was ja nicht stimmt. Er fühlt sich schuldig, will sich bessern, aber all das kann gar nicht gelingen, weil die Eltern an ihren Kindern die Wut erleben und auslassen, die sie bei ihren eigenen Eltern zurückhalten und unterdrücken mussten. Das Kind war nur Auslöser dieser Wut.

Wenn man dies einmal wirklich verstanden hat, hört man auf, auf die Liebe der Eltern zu warten. Man weiß dann, warum sie nicht möglich war noch ist. Erst dann erlaubt man sich, zu sehen, wie man als Kind behandelt wurde, und zu spüren, wie man darunter gelitten hat. Statt die Eltern wie bisher zu bemitleiden, zu verstehen und sich selber zu beschuldigen, fängt man an, dem misshandelten Kind beizustehen, das man einst war. Das ist die Geburtsstunde der Liebe zu dem Kind, die ohne diese Vorbedingungen, ohne die Einsicht in die damalige Tragödie, nicht zustande kommen kann. Das ist das Ende des Bagatellisierens seines Leidens und der Anfang des respektvollen Umgangs mit diesem Leiden und mit dem Kind. Damit öffnen sich die bisher geschlossenen Türen zu sich selbst. Sie öffnen sich aber keineswegs, wenn man einem Menschen sagt: „Du solltest dich selber lieben.“ Er fühlt sich durch solche Ratschläge überfordert, solange er nicht wissen darf, wie es in der Kindheit wirklich war und warum die Wahrheit so schmerzhaft ist.

Ich meine, dass eine gelungene Therapie diesen Wechsel der Perspektive und der damit zusammenhängenden alten Denkmuster ermöglichen sollte. Wenn es gelingt, wirklich zu spüren, wie man als Kind unter dem Verhalten seiner Eltern gelitten hat, verschwindet die Empathie für die Eltern meistens ohne innere Kämpfe und wendet sich dem Kind zu. Doch damit dieser Wechsel gelingen kann, brauchen wir einen Zeugen, der ganz auf der Seite des Kindes steht und sich nicht scheut, die Taten der Eltern zu verurteilen. Die FAQ Liste (unter ‚Artikel‘ auf dieser Website) kann helfen, herauszufinden, ob der potentielle Therapeut dazu in der Lage ist. Therapeuten, die die Seite der Eltern einnehmen, können m. E. gefährlich sein; hingegen können echte wissende Zeugen helfen, sich ohne Verleugnungen der eigenen Vergangenheit zu stellen, um sie endlich ohne Schuldgefühle verlassen zu können.