Einige Leichen im Keller

von Thomas Gruner

Einige Leichen im Keller
Monday 01 August 2005

Zu einem Fall von Kindesmord in Deutschland

Eine Frau in Deutschland bekommt dreizehn Kinder, neun bringt sie mutmaßlich alleine zur Welt, ermordet sie unmittelbar nach der Geburt und vergräbt die Leichen zunächst in Blumenkästen auf ihrem Balkon. Später bringt sie die Behältnisse in den Garten ihrer Eltern und stellt sie dort ab. Eines Tages werden die Knochenreste entdeckt und in der Öffentlichkeit geschieht Seltsames:
Weder Familienangehörige noch Bekannte oder Nachbarn wollen etwas bemerkt haben von neun Schwangerschaften, neun Geburten und neun Morden. Allerdings sei die jüngste, noch nicht zwei-jährige Tochter einmal in einem verwahrlosten Zustand vorgefunden worden. Die Frau selbst gibt an, die Taten habe sie immer im Vollrausch begangen, so dass sie sich beim besten Willen kaum an den Hergang erinnern könne. Zum Zeitpunkt der Entdeckung der Kinderskelette ist sie wiederum schwanger.
Fast fieberhaft wird nach Gründen gesucht: Die Mutter lehnte in Wahrheit die Kinder schon vor der Geburt ab, sie hatte auch Angst vor dem Ehemann, der keine weiteren Kinder wünschte, sagen die Psychiater. Die Morde sind Folge der angeblich unkultivierten, primitiven gesellschaftlichen Verhältnisse des zweiten deutschen Staates, in dem die Frau aufwuchs, meint ein Politiker, und wiederum andere sind empört über diese Behauptung. Ein Wissenschaftler und ehemaliger Minister fordert eine Untersuchung, warum im Osten Deutschlands die Kinder vielleicht gefährdeter lebten als in den westlichen Landesteilen.
Nun bleibt noch abzuwarten, wann die Feministinnen sich zu Wort melden und verkünden: Diese arme, bedauernswerte Frau hat gemordet, weil sie im Patriarchat lebt, aus einem anderen Grund hätte sie so etwas niemals getan.

Offenbar herrscht Bestürzung im Lande: Ja, was denn, hier in unseren schönen und sauberen, in unseren geordneten und wunderbaren Verhältnissen geschieht ein Verbrechen? Diese wunderbaren Verhältnisse lassen überhaupt ein Verbrechen, gar einen Mord an Kindern zu? Wie ist das möglich? Das kann gar nicht sein. Und weil das nicht sein darf, stellt man Schein-Fragen und sucht nach Schein-Antworten. Wie immer übrigens, wenn der Untergrund der Verhältnisse plötzlich sichtbar wird, an die Oberfläche dringt.
Ein regelmäßiger Blick in die Medien würde genügen, um festzustellen, dass recht oft eben doch geschieht, was man auf gar keinen Fall sehen will. Und merkwürdigerweise geschieht dies in allen Teilen des Landes. Eine Mutter schickt ihre Tochter nicht zur Schule und lässt sie stattdessen verhungern (Hamburg); eine Mutter in Schwedt schließt ihre beiden Kinder in der Wohnung ein, verschwindet auf Nimmerwiedersehen und die Kinder verdursten; in einem West-Berliner Stadtteil lässt eine Mutter ihre Tochter in der Wohnung zurück, verschwindet ebenfalls, das Kind stirbt, was erst auffällt, als Verwesungsgeruch aus der Wohnung dringt. In Saarbrücken delektiert sich eine Clique pädophiler Frauen und Männer daran, Kinder zu vergewaltigen, zu verkaufen und zu ermorden, nachdem man ihrer überdrüssig wurde. Ja, sagt eine Nachbarin, den kleinen Pascal habe sie gesehen, wie er an die Fensterscheibe trommelte und gerufen habe, aber da mischt man sich doch nicht ein.

Wenn man wirklich etwas wissen wollte über die Ursachen solcher Verbrechen, müsste man wohl andere Fragen stellen. Man müsste fragen, wie es zum Beispiel im Inneren einer Frau aussieht, die (allein oder gemeinsam mit ihrem Ehemann) neun Mal in Folge ihre gerade geborenen Kinder umbringt. Sie wird sie nicht gewollt haben, das ist schon ganz richtig, doch gibt es bekanntlich viele Methoden um Schwangerschaften zu verhindern. Könnte es nicht sein, dass diese Frau innerlich vollkommen abgestorben und leer war, und wäre nicht weiter zu überlegen, warum das so ist, wie in einer langen Geschichte die Gefühle eines Menschen verstümmelt werden, von Beginn seines Lebens an? Und wenn eine Frau (wie unter Zwang, wie süchtig) immer wieder schwanger wird, nicht eines sondern mutmaßlich neun ihrer Kinder umbringt, nachdem sie sich Mut angetrunken hat, reichen am Ende Verzweiflung oder die Panik vor dem Ehemann als Gründe auch nicht mehr aus. Womöglich entwickeln Menschen, deren Gefühlsleben von Anfang an zerstört wurde, Hass, der blind wütet, gerade weil ein solcher Mensch diesen Hass nicht bewusst fühlen kann. Aber was hat es auf sich mit diesem Hass?
Nur einmal angenommen: Eltern, die die Gefühle ihrer Kinder (auch ganz ohne körperliche Gewalt, durch Gesten und vielerlei Botschaften) abtöten müssen, sind getrieben von Hass, den sie selbst früh gelernt haben. Wie alles Lebendige in ihnen umgebracht wurde, müssen sie dasselbe nun den eigenen Kindern antun. Hieße das dann nicht auch, sie stopfen den eigenen Hass in das Kind? Und ist dies nicht auch eine Art Mord, ein blitzsauberer, vornehmer, kultivierter Mord an der Seele des Kindes, das später wie tot durch das Leben geht? Und was wäre, wenn dies viele Menschen beträfe?
So sollte diese Mutter aus Hass, in Wahrheit aus einem ihr aufgezwungenen Selbsthass ihre Kinder getötet haben? Und bringt sie dabei womöglich noch mehr zum Ausdruck? Wie komme ich nun wieder darauf? Sie geht hin und deponiert die Behältnisse mit den Toten im Garten der Eltern. Sie legt den Eltern gleichsam eine Kinderleiche nach der anderen in den Keller. Sie kann ja nicht sprechen, so sagt sie vielleicht auf diese Weise: Seht her, das habt ihr im Stillen mit mir gemacht, ihr habt mich umgebracht. Ahnungslos und im Geheimen zeigt sie auf die besondere Mordlust auch in einer glitzernden, strahlenden, lachenden Welt. Nur macht sie Nägel mit Köpfen. Was ihr selbst angetan wurde an der Seele setzt sie sozusagen wörtlich, buchstäblich und konkret in die Tat um. Auf sehr unvornehme und unkultivierte Weise.

Nicht nur die Morde sind schauerlich. Schauerlich sind auch die ostentativ falsch gestellten Fragen, um falsche Antworten zu bekommen, um eine wesentlich Ursache der Deformierung von Menschen nicht sehen zu müssen. Schauerlich ist, dass wir die böse Kindsmörderin, den perversen Mädchenmörder doch dringend brauchen. Sie sind das gefundene Fressen, auf sie können wir mit Fingern zeigen: Da ist das Monster, mit uns hingegen ist alles in bester Ordnung. Und die zahlreichen blitzsauberen, vornehmen Morde an der Seele von Kindern, die sich mitten am hellen Tag zutragen, können wir weiterhin übersehen. Wir können weiterhin glauben, dass wir in schönen, geordneten und kultivierten Verhältnissen leben.

© Thomas Gruner, August 2005