von Alice Miller
Wann gibt es endlich keine idealen Soldaten mehr?
Thursday 21 February 1991
Dieser Artikel wurde 1990 zur Zeit des Golfkrieges geschrieben und ist in der “Weltwoche” in Zürich am 21.2.1991 erschienen. Leider hat sich diesbezüglich bis heute nicht viel geändert, deshalb bleibt der Inhalt immer noch aktuell. Ein amerikanischer Film über Hitler unter dem Titel ” Die Geburt des Bösen ” wird im französischen Fernsehen im Jahre 2004 gezeigt, jedoch in einer stark gekürzten Fassung, in der die Geschichte der Kindheit vollständig ausgelassen wird. Der Film beginnt mit dem erwachsenen Hitler. Man weigert sich, die Wurzeln zu sehen.
Wann gibt es endlich keine idealen Soldaten mehr? (erschienen in “Die Weltwoche” 21.2.1991)
Geschlagene, gedemütigte, gequälte Kinder, denen kein Zeuge jemals zur Hilfe kam, entwickeln später oft ein schwerwiegendes Syndrom: Sie kennen ihre wahren Gefühle nicht, fürchten sie gar wie die Pest und sind deshalb unfähig, lebenswichtige Zusammenhänge zu erkennen. Die einst erfahrene Grausamkeit leben sie als Erwachsene an Unschuldigen aus, ohne dies zu merken und ohne dafür die Verantwortung zu übernehmen, weil sie sie, wie einst ihre Eltern, als “Erlösung” für die anderen bezeichnen. Daraus ergibt sich ein extrem verantwortungsloses Handeln, dem verschiedene Ideologien, gepaart mit grenzenloser Heuchelei, die scheinbare Legitimität verschaffen. Lebensfeindliche und menschenverachtende Aktionen, die unseren Planeten bedrohen, sind die direkte Folge, gerade in einer Zeit der hohen Technisierung.
” Wir wollen dich nicht schlagen, aber wir müssen es tun, um das Böse aus dir herauszuschlagen, mit dem du auf die Welt gekommen bist.” So etwa dachten und sprachen Eltern zu ihren Kindern zu Luthers Zeiten. Luther sagte ihnen, es sei ihre Pflicht, ihr Kind vom Teufel zu erlösen und es auf diese Weise gut und fromm zu machen. Das glaubten sie. Sie wussten nicht, dass Martin Luther, der als Kind mit erbarmungsloser Strenge von seiner Mutter gezüchtigt worden war, diese Form der Erziehung bejahte, um das Bild einer guten und liebenden Mutter zu erhalten, das er sich mit Hilfe der Verdrängung kreieren konnte.
Sie glaubten ihm und wussten folglich nicht, dass sie, statt den “Teufel ” aus ihrem unschuldigen Kind auszutreiben, mit ihren Schlägen die ” Saat des Bösen ” in einem unschuldigen Lebewesen verbreiteten. Je heftiger, je blinder, je häufiger sie schlugen, um so böser wurde das Kind und um so zerstörerischer der spätere Erwachsene, als die ” Saat ” voll aufging.
Wissen es die heutigen Eltern besser? Viele wissen es, aber noch lange nicht alle. Viele werden noch heute, genau wie vor 400 Jahren, von angeblichen Autoritäten in ihrem Unwissen bestätigt. Es werden nur andere Begriffe verwendet. Man spricht nicht mehr vom Teufel im Zusammenhang mit der Erziehung, sondern von ” Genen “. Einzelne Medien scheuen sich nicht, die Geschichte des letzten Weltkrieges und deren Lehre vollständig zu ignorieren, und berichten ihren Lesern, von jeglichem Fortschritt unberührt, dass Kriminalität und Geisteskrankheit auf Gene zurückzuführen seien. Wenn der Mensch mit entsprechenden Genen auf die Welt komme, dann werde er eben zum Hitler, Eichmann, Himmler, und die Einflüsse der Kindheit hätten damit nichts zu tun. Verteidigt wird die alte Weisheit, wonach Nachgiebigkeit im Jugendalter schädlich sei und wonach wir deshalb heute so viele gestörte Jugendliche hätten. Denn Zucht sei nach der Meinung einiger Pädagogen, die heute wieder in Mode sind, der richtige Weg, um anständige Menschen aufwachsen zu lassen.
Widerspricht die Realität nicht diesen Meinungen? Haben Hitler, Eichmann, Himmler immer noch zuwenig Zucht erhalten ? Solche Fragen bleiben unbeantwortet, wenn man sie den Befürwortern der Zucht stellt. Weil ihre Ideologie nichts mit Fakten zu tun haben will, sondern nur aus der eigenen verdrängten Erfahrung gespeist wird. Und dort herrscht eine ganz andere Logik, die Logik der Verdrängung, in der sich Widersprüche ohne weiteres vertragen und in der es nicht um die Wahrheit geht, sondern um die Vermeidung von alten Schmerzen. Jeder Mensch kommt auf die Welt ohne böse Absichten, mit dem starken, eindeutigen und nicht ambivalenten primären Bedürfnis, sein Leben zu erhalten, lieben zu dürfen und geliebt zu werden. Wenn aber ein Kind statt der Liebe und Wahrheit dem Hass und der Lüge begegnet, wenn es geschlagen wird, statt beschützt zu werden, müsste es schreien und toben können und dürfen, um sich gegen Schwachsinn und Bosheit zu wehren. Das wäre seine gesunde, natürliche Reaktion auf die Zerstörungsanschläge der Erwachsenen. Dieser Protest würde ihm die psychische Gesundheit retten, seine Würde, sein Selbstwertgefühl, seine Integrität, sein Bewusstsein, seine Verantwortlichkeit.
Doch ein geschlagenes, missachtetes, misshandeltes Kind darf sich nicht wehren. Alle von der Natur vorgegebenen Wege zur Erhaltung der Integrität des menschlichen Wesens bleiben ihm verwehrt, es könnte für seinen Protest umgebracht werden.
Außerdem kann der noch unfertige, im Wachstum befindliche Organismus nicht mit diesen überwältigenden Gefühlen umgehen. Das Kind muss also in den meisten Fällen die Erinnerung an das Trauma und in jedem Fall die überaus starken, aber unerwünschten Gefühle verdrängen, die normalerweise auf eine Verletzung folgen würden: die mörderische Wut, die Sehnsucht nach Rache und das Gefühl, von der ganzen Welt bedroht zu werden. Denn für ein Kind ohne helfende Zeugen sind die Eltern die ganze Welt. Es ist naheliegend, dass sich im Unbewussten dieses Kindes der Wunsch bildet und verfestigt, einmal diese Welt zu zerstören, um endlich leben zu können.
Da all diese Gefühle verdrängt, da sie nie bewusst erlebt wurden, da das Bedürfnis nach Achtung, Wahrheit und Liebe nie adäquat artikuliert wurde, wählen viele der einstmals verletzten Kinder den Weg der symbolischen Befriedigung, z. B. in sozial anerkannten Formen der Perversion und Kriminalität. Waffenproduktion, Waffenhandel und schließlich der Krieg sind ideale Schauplätze zum Abreagieren der einst verdrängten und nie bewusst erlebten, aber im Organismus gespeicherten mörderischen Wut. Doch diese Wut wird auf jene Menschen abreagiert, die sie gerade nicht verursachten, während ihre wahren Verursacher mit Hilfe der totalen Verleugnung und Idealisierung verschont bleiben.
Was früher verboten war, ist im Krieg erlaubt. Ein Feindbild genügt, um den seit Jahrzehnten aufgestauten Hass, um die maßlose, grenzenlose, blinde Zerstörungswut des kleinen Kindes, die ja (weil nie erlebt) nie korrigiert und nie kontrolliert werden konnte, in erlaubten Bahnen abzuladen, ohne dass diese Gefühle ins Bewusstsein zu dringen brauchen.
Ein US-Pilot im Golfkrieg wurde einmal gefragt, was er nach der Rückkehr von den Bombenangriffen empfinde. Eine Freude, dass er seinen Job gut ausgeführt habe, sagte er. Sonst nichts?, wollte der Journalist wissen. Was sollte denn sonst dabei sein ?, fragte der Soldat unberührt zurück. Hätte dieser Mann fühlen dürfen, wären seine Gefühle nicht seit langem erfroren, er hätte die Angst, Ohnmacht und Wut der bombardierten Bevölkerung mitempfunden und vielleicht auf diesem Wege seine einstmalige Ohnmacht des kleinen Jungen zu spüren bekommen, der einst wehrlos blindwütenden Schlägen ausgeliefert war. Dann hätte er den Zusammenhang zwischen früh erfahrenen Demütigungen und der Genugtuung, heute andere mit Bomben bedrohen zu können und kein hilfloses Opfer mehr zu sein, erkannt. Er wäre dann kein idealer Soldat mehr, aber als bewusster Mensch hätte er anderen helfen können, den Irrsinn zu durchschauen, dessen unbewusste Rädchen sie heute sind. Er hätte mit anderen dazu beitragen können, dass Kriege verhindert werden in Zukunft. Sie werden leider akzeptiert, weil es unzählige Menschen gibt, für die das Leben wertlos und hassenswert ist, das eigene genau wie das des anderen, die nur gelernt haben, Leben zu zerstören und von anderen zerstört zu werden. Es sind Menschen, die ihre Liebe zum Leben nie entwickeln konnten, weil sie keine Chance dazu erhalten haben.
Stärker als alle Waffen
Wenn wir nicht zu ihren Opfern werden wollen, bleibt uns nichts anderes übrig, als zu erkennen, dass dieser Hass stärker ist als alle erdenklichen Waffen. Wir müssen endlich erkennen, dass und wie er auflösbar ist. Was wir heute erleben, ist die Konsequenz der Verdrängung unseres frühen Leidens. Auch die Abspaltung der Gefühle und der daraus entstandenen Blindheit für Zusammenhänge.
Das wird am Beispiel der Giftgasproduktion deutlich. Wer wollte schon den Golfkrieg? Die deutschen Firmen wollten nur Geld verdienen, als sie Giftgas produzierten und verkauften. Ist das nicht legitim? Es ist auch legitim, nichts dabei zu fühlen und sich keine Bilder zu machen. Da helfen ja die Computer. Eichmann machte es sogar ohne Computer. Er hatte nur mit Zahlen und nicht mit Menschen zu tun, nicht mit menschlichen Augen, Händen, Herzen. Wollte die deutsche Regierung, dass in ihrem Lande Giftgas produziert wurde? Daran hatte sie keinerlei Interesse. Dass sie gute Steuerzahler tolerierte, ist doch ebenfalls legitim, nicht wahr? Dachte denn niemand daran, dass es sich um Gas handelte, mit dem Menschen umgebracht werden sollten? Für solche Gedanken war eben niemand zuständig. Jeder gehört zu einem Ressort, aber es gibt kein ” Ressort für Unnütze Gedanken “. Und der belgische Chemieprofessor, Aubin Hendrickx, hat er nicht die UNO und verschiedene Regierungen über diese tödliche Gefahr informiert? Warum stieß er auf taube Ohren?
Junge Menschen von heute stellen fassungslos diese Fragen, und sie erhalten immer wieder die gleichen Antworten: ” Ich habe nichts gewusst, ich war nicht zuständig, nicht verantwortlich, habe nur Anweisungen bekommen “. Mit beklemmender Ähnlichkeit wird man an die Antworten der Nachkriegszeit erinnert. Vor 50 Jahren haben Menschen ganze Völker mit Giftgas umgebracht und nannten dies eine ” saubere Lösung “, weil Millionen ohne Blutvergießen umkamen. Die Söhne, die sich nie getraut haben, die Taten ihrer Väter anzusehen, beteiligen sich nun an einer möglichen Wiederholung dieser Taten, weil sie sie im Grunde nie wirklich in Frage gestellt haben. Hätten sie dies getan, wäre ihnen das Abscheuliche dieser Taten bewusst geworden, und sie wären dann niemals imstande gewesen, diese fortzusetzen.
Regie führte die Logik der Verdrängung: Ich weigere mich zu wissen, was meine Eltern mir und anderen angetan haben, ich will ihnen alles blind verzeihen, will nicht hinschauen, sie nicht verurteilen, nicht in Frage stellen, sie bleiben unangetastet, weil sie meine Eltern sind. Da mein System (mein Körper) weiß, was geschehen ist, obwohl mein Bewusstsein keine Erinnerung davon hat, solange meine Gefühle blockiert sind, drängt es mich, die an mir begangenen Verbrechen (Vernichtung des Lebens) zu wiederholen, ohne es zu merken. In der Misshandlung der eigenen Kinder, im grausamen Kampf gegen vermeintliche Feinde, in der Vernichtung des Lebens, wo immer ich es aufblühen sehe, kann ich meinen Eltern ein Denkmal setzen und ihnen meine Treue beweisen. Millionen einst gekränkter, gedemütigter Kinder, die sich nie bei ihren Eltern gegen die Zerstörung, gegen die Verletzungen ihrer Integrität wehren durften, werden durch den Krieg an die mehr oder weniger gut abgewehrte Geschichte ihrer eigenen Bedrohung erinnert. Sie fühlen sich aufgewühlt und verwirrt. Da ihnen aber die frühen Erinnerungen meistens und die dazugehörenden Gefühle immer fehlen, fehlt ihnen der Durchblick. Sie greifen, auf ihrer Flucht von der eigenen schmerzhaften Geschichte, zu den einzigen Mitteln, die sie als Kinder gelernt haben: zerstören oder sich quälen lassen, aber um jeden Preis blind bleiben. Blind fliehen sie vor etwas, das längst geschehen ist.
Um die eigene Geschichte der schmerzhaften Erniedrigungen, die man ihnen als Zeichen der Liebe verkauft hatte, vor sich geheim zu halten, gehen Männer zu Prostituierten, bezahlen sie für Auspeitschungen und reden sich ein, wie ihnen einst die Eltern Ähnliches eingeredet haben, sie würden diese tragische Situation (den Verlust an Würde und innerer Orientierung) genießen. Um endlich die sexuellen Misshandlungen des eigenen Vaters in den Schatten der Vergessenheit zu bringen, werden Frauen zu Prostituierten und lassen sich weiter erniedrigen, mit der alten Illusion, die Austauschbarkeit und Manipulierbarkeit der Männer würde ihnen irgendwelche Macht verschaffen. Das Sadomasogeschäft und die zahlreichen Flagellanten-Klubs leben nur von diesem brennenden Wunsch der Menschen (Männer und Frauen), mit Hilfe eines neuen, aber sehr ähnlichen Szenarios in der Gegenwart die Geschichte der eigenen Kindheit endlich und endgültig zu begraben. Doch die Rechnung geht nie auf, und neue Wege müssen immer weiter gesucht werden, um sich ja nicht mit der eigenen Kindheit konfrontieren zu müssen. Alkohol und Drogenkonsum bieten sich als Hilfe an, die häufig teuer ist.
Kriege hingegen liefern uns unentgeltlich, wenn auch auf Dauer nicht kostenlos, ein gewaltiges Szenario dieser Art. Sie bieten die große Gelegenheit, den seit der Kindheit bestehenden emotionalen Druck im blinden Zerstören wie im Sichzerstörenlassen loszuwerden. Man konnte kürzlich im Fernsehen eine Elitetruppe der US-Armee beobachten, wie sie für jeweilige Formen der Folter in der Gefangenschaft ausgebildet wird. Dieses brutale Training erinnerte an Praktiken von Dr. Schreber, der ja seine Quälereien angeblich auch nur zur Abhärtung, also zum ” Wohle ” seiner Kinder, ausübte und weltweit empfahl. Dass er dabei seinen Sadismus befriedigte, wie die Offiziere der Elitetruppen, merken die Opfer nicht. Zu dieser Truppe gehörten auch Frauen, alle Freiwillige.
Wenn man aus entsprechenden Nachforschungen über die Kindheiten der “Green Berets” weiß, dass alle Freiwilligen des Vietnamkrieges eine brutale Erziehung zum blinden Gehorsam, wie die Naziverbrecher, genossen haben, muss man sich nicht mehr fragen, weshalb sich Menschen absurderweise freiwillig so quälen lassen. Es genügt, dass man ihnen, wie einst in der Kindheit, sagt, sie würden dadurch späteren Qualen entgehen, weil sie vorher schon lernen, hart und gefühllos zu bleiben und ” kaltes Blut ” zu bewahren. Hätten diese Töchter und Söhne den Zugang zu ihrer eigenen Geschichte, sie würden weit sinnvollere und produktivere Wege finden, um sich und die Welt vor realen Gefahren zu bewahren. Im Unterschied zum Kind muss der Erwachsene nämlich nicht an seiner Auflehnung, Empörung und seinem Schmerz über die ihm zugefügten Leiden sterben. Er muss sich auch nicht mehr mit seiner Blindheit und seiner ständigen Flucht vor längst Geschehenem, das er nicht kennt, zufrieden geben, weil es Wege gibt, die uns den Zugang zu unserer verdrängten Geschichte ermöglichen.
Auch die wirksamsten Waffen werden die Produktion neuer, noch schrecklicherer Waffen nicht verhindern und den zerstörerischen Hass nicht beseitigen, solange dieser Hass auf Ersatzpersonen verschoben wird, mit Ideologien kaschiert, und nicht in seinem ursprünglichen Kontext aufgelöst werden darf. Wenn wir das Leben auf unserem Planeten beschützen wollen, können wir es tun, indem wir die gefährliche Blindheit überall, aber vor allem in uns selber, in Frage stellen.
Menschen, die ihre Geschichte kennen, werden sich nicht für alte Abrechnungen anderer und deren Flucht vor der eigenen Vergangenheit opfern wollen. Sie werden andere, weit bessere Arten der Konfliktlösung finden als Kriegsdrohungen und die Vernichtung des Lebens. Sie werden es auch nicht nötig haben, andere Menschen zu opfern, um ihrer Wahrheit zu entgehen, weil sie sie gut kennen würden.
Wenn unser Planet überleben soll, gibt es zur Wahrheit, d.h. zur Konfrontation mit unserer individuellen und kollektiven Geschichte, keine Alternative. Nur deren Kenntnis kann uns vor der perfekten Selbstzerstörung bewahren.
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