Auf der Suche nach der eigenen Geschichte: Der Schriftsteller Jurek Becker

von Thomas Gruner

Auf der Suche nach der eigenen Geschichte: Der Schriftsteller Jurek Becker
Sunday 01 February 2004

Ich habe keine Erinnerung … . Ich kann Ihnen nichts über das Ghetto erzählen. Ich habe es vergessen – so als wäre es nie gewesen.
Jurek Becker

“Sooft ich in der Vergangenheit nach Herkunft und Abstammung gefragt worden bin,” leitet Jurek Becker seinen Essay Mein Judentum ein, “habe ich geantwortet: Meine Eltern waren Juden. … Wenn der Frager mitunter dann konstatierte: Sie sind also Jude, berichtigte ich ihn jedes Mal, indem ich noch einmal meine Formel sagte: Meine Eltern waren Juden. Der Unterschied schien mir irgendwie wichtig zu sein, ohne dass ich ihn jemals zum Gegenstand von Gesprächen gemacht hätte; ja nicht einmal zum Gegenstand von Überlegungen … .”
Ich musste lange darüber nachdenken, warum mich diese Sätze so sehr beschäftigten. Ich hatte den Eindruck, als ob sie noch eine tiefer gehende, nicht ausgesprochene Botschaft enthielten: Meine Eltern waren Juden. – Dann sind Sie also Opfer? – Nein, meine Eltern waren Opfer.
Die Frage nach der jüdischen Herkunft eines Menschen berührt die Frage nach der Identität derjenigen, die einmal Opfer von Verfolgung und Brutalität gewesen sind. Wie wird die Biographie der Überlebenden durch diese Erfahrung geprägt? Ist ein Mensch, der einmal Opfer von Verfolgung und Grausamkeit war, dazu verurteilt, sich immerzu, bis ans Ende seines Lebens als Opfer zu fühlen? Oder kann er im Gegenteil die Vergangenheit als vergangen von sich abtrennen, ein neues Leben beginnen, so leben, wie Menschen, die niemals bedroht, gequält und gejagt worden sind, ohne von Erinnerungen und Gefühlen des Zorns, des Hasses, der Verzweiflung behelligt zu werden? Und was ist mit den Fragen der Kinder der Überlebenden? Haben diese Kinder ein Recht auf eine Antwort, auch wenn ihre Fragen bei den Eltern schmerzhafte Gefühle auslösen? Oder müssen die Kinder ihre Fragen mit Rücksicht auf das Leid der Eltern verschweigen? Was bedeutet dies aber dann für ihr eigenes Leben?
In der Biographie Jurek Beckers, der seine frühe Kindheit im Getto und Konzentrationslager zubringen musste, spielen alle diese Fragen eine wesentliche Rolle und so interessierte es mich, wie er in seinem Leben, aber auch in seinem literarischen Werk mit diesen Fragen umging.
Wenn man in den öffentlichen autobiographischen Äußerungen und in der Prosa eines Schriftstellers nach Spuren seiner Kindheitserfahrungen sucht, ist damit weder das Werk als Ganzes noch die Biographie des Schriftstellers gedeutet oder analysiert. Ebenso wenig können Reflexionen und Handlungen einer fiktiven Figur mit den Haltungen des Autors gleich gesetzt werden.
Man kann allerdings einen von der herkömmlichen Literaturwissenschaft oft vernachlässigten Aspekt des Verhältnisses zwischen Leben und Schreiben aufzeigen und ein Muster sichtbar machen, das für andere Menschen ebenfalls Bedeutung haben könnte. Für mich ist das nur möglich und auch nur dann interessant, wenn ich mich selbst, meine eigenen Erfahrungen in Beziehung zum Werk und zur Biographie des Künstlers bringe. Schließlich ist Literatur auch Kommunikation.
Wer auf diese Art und Weise versucht, sich mit einem Schriftsteller auseinander zu setzen, der unter der Verfolgung durch die Nazis gelitten hat, sieht sich zumindest in Deutschland sehr schnell dem Vorwurf ausgesetzt, den Holocaust zu verharmlosen. Offenbar fällt es vielen Menschen hierzulande schwer, das Leid der Verfolgten an sich heranzulassen. Stattdessen werden bei entsprechender offizieller Gelegenheit Betroffenheitsfloskeln artikuliert oder die Forderung, nun aber endlich, endlich einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen. Ich habe mich gefragt, ob dies daran liegt, dass in den Biographien vieler auch lange nach dem Krieg geborener Menschen, deren Eltern nicht an Verbrechen beteiligt waren, die Mentalität des Nationalsozialismus eine größere Rolle spielt, als sie wahrhaben wollen, dass sie also etwas in der eigenen Geschichte nicht sehen möchten. Auf diesen Gedanken kam ich, als ich mich mit der Nazi-Pädagogin Johanna Haarer beschäftigte, von deren bis in die achtziger Jahre viel gelesenem Werk sich zumindest meine Mutter bei der “Aufzucht” ihrer Kinder stark inspirieren ließ.

Jurek Becker wurde als Kind jüdischer Eltern vermutlich am 30. September 1937 im polnischen Lódz geboren. Sein eingetragener Name lautete Jerzy Bekker. Unmittelbar nach dem Überfall der deutschen Naziarmee auf Polen im September 1939 wird mit ersten Maßnahmen der Gettoisierung der jüdischen Bevölkerung von Lódz begonnen. Im März 1940 werden die Bekkers gezwungen, ins Getto zu übersiedeln, das Ende April 1940 endgültig abgeriegelt wird. Beckers Biograph Sander Gilman berichtet weiter, dass die Familie im Februar 1944 getrennt wurde, der Vater sei im Getto geblieben, Jerzy mit der Mutter in das Frauen- und Kinderlager Ravensbrück deportiert worden. Ob das Kind dort bei der Mutter bleiben oder in das vom Frauenlager getrennte Kinderlager gesperrt wurde, ließ sich nicht feststellen. Jurek Becker selbst hat gelegentlich berichtet, er sei in den Lagern alleine, ohne die Mutter gewesen und im Konzentrationslager Sachsenhausen befreit worden. Im Sommer 1944 wird das Getto von Lódz vollständig geräumt, der Vater nach Auschwitz deportiert. Jerzy und seine Mutter werden laut Gilman’s Version Ende April 1945 befreit und in das (nun ehemalige) Konzentrationslager Sachsenhausen verlegt. Dort stirbt die Mutter, Anette Bekker, am 2. Juni 1945 an den Folgen der Unterernährung. Der Vater, Mieczyslaw, überlebte und findet den Sohn mit Hilfe einer Suchorganisation wieder. Bis zum Jahresende 1946 muss das Kind in Krankenhäusern behandelt werden. Vater und Sohn lassen sich dann als Max und Georg Becker in Berlin-Ost nieder.
Mehr als diese spärlichen Informationen gibt es nicht über die frühe Kindheit des Schriftstellers. Aber auch diese wenigen Fakten werfen Fragen auf. Im September 1942 wurden neben alten und kranken Menschen auch alle Kinder unter zehn Jahren aus dem Getto von Lódz nach Chelmno (Kulmhof) deportiert und dort ermordet. In diesem Zusammenhang nennen historische Quellen eine Zahl von bis zu 20.000 Menschen. Wie konnte das Kind Jerzy dieser Aktion entgehen? Was hat der kleine Junge im Getto und später im Lager in einem Klima von Angst und Bedrohung gefühlt und gesehen; wie hat er seine Eltern erlebt, die doch fürchten mussten, ihn nicht wirklich schützen zu können? War die Verfolgung Normalität für ein Kind, das bereits im Alter von zwei Jahren ins Getto kam? Diese Fragen stellten sich mir spontan, als ich im Internet über das Getto von Lódz recherchierte und mich mit dem umfassenden Bildmaterial beschäftigte, das die verheerenden Zustände dort dokumentiert. Krankheiten und Hunger forderten zahlreiche Opfer; die Aktion im September 1942 war, wie Zeitzeugen berichten, ein einschneidender, alle Insassen des Gettos in Panik versetzender Vorgang. Die Erwachsenen mögen versucht haben, den Jungen liebevoll von den Ereignissen abzulenken. Ein Kind wird den Worten der Erwachsenen glauben, aber der Körper registriert die Realität und speichert die Wahrheit, auch wenn das Kind die Vorgänge um sich herum nicht begreifen kann.
Der Schriftsteller selbst hatte keinerlei bewusste Erinnerungen an diese Zeit seines Lebens.

Die Last der Verdrängung oder Wo bleibt die verlorene Geschichte des bedrohten Kindes?

Im Jahre 1989 gab es in Wien eine Ausstellung über das Getto von Lódz. Für den Ausstellungskatalog verfasste Jurek Becker einen Text: Die unsichtbare Stadt. Er schreibt:
“Als ich zwei Jahre alt war, kam ich in dieses Getto, mit fünf verließ ich es wieder in Richtung Lager. Ich kann mich an nichts erinnern. So hat man es mir erzählt, so steht es in meinen Papieren, so war folglich meine Kindheit. … Jedenfalls kenne ich das Getto nur vom dürftigen Hörensagen.”
Beckers bewusste Erinnerungen setzen erst ein, als der Vater das Kind in Sachsenhausen ausfindig macht. Der kleine Junge, so Gilman, ist völlig ausgemergelt, seine Haare sind weiß geworden. Fünf Jahre lang war das Kind systematischen Anschlägen auf sein Leben ausgesetzt, allein durch die Tatsache, dass ihm eine hinreichende Ernährung verweigert wurde. Es hatte sicher keinen Zugang zu all den Dingen, die für andere Kinder normal sind. Dies alles ist ihm völlig grundlos geschehen bzw. einzig deshalb, weil der kleine Jerzy ein jüdisches Kind war. So war er womöglich nicht nur sehr früh in seinem Leben Zeuge von Grausamkeiten, sondern auch völlig sinnlosen und unverständlichen Erfahrungen ausgesetzt. Schon für einen erwachsenen Menschen ist es kaum zu begreifen, dass er verfolgt wurde, nur weil er so ist wie er ist, weil er Jude ist zum Beispiel. Man kann sicher die Beweggründe der Verfolger analysieren, man kann unter anderem zeigen, dass sie getrieben wurden von einem Hass, der sehr früh in sie hineingestopft wurde. Dem Opfer der Verfolgung bleibt aber die Erfahrung der Sinnlosigkeit, es bleiben viele Fragen nach dem “Warum”. Vor allem aber bleibt der Hass am Verfolgten kleben, auch dann noch, wenn die Verfolgung längst vergangen ist. Eine rationale Erklärung des Hasses macht da nichts besser.
Es ist eine landläufige Meinung, dass es eine Wohltat sei, wenn man den Schrecken vergangener Ereignisse, die nun einmal nicht mehr zu verändern sind, vergessen könne. Es sei gut, so heißt es oft, wenn man das Vergangene ruhen lasse. Noch besser sei es, nach vorne zu schauen, denn schließlich lebe man im Hier und Jetzt. Man könnte glauben, dass Jurek Becker Glück im Unglück hatte, indem er sich an die frühen Jahre seines Lebens nicht mehr erinnern konnte. Er selbst schreibt in Mein Judentum:
“Zum ersten muss der eigenartig späte Beginn meiner Erinnerungen natürlich etwas mit Verdrängung zu tun haben. Ein Schutzmechanismus, dessen Vorhandensein wohl ein Glück ist, könnte mich von einer schlimmen Zeit trennen und so in gewisser Weise vor ihr bewahren.”
Auf den ersten Blick scheint die Biographie des Schriftstellers diese Annahme zu bestätigen. Becker heiratet zwei Mal, er hat drei Söhne und wird ein national wie international beachteter Autor bekannter Romane, der sich den gesellschaftlichen Konflikten seiner Zeit stellt. Jedoch zeigt sich, dass die Vergangenheit nicht ruht, sie treibt Becker immer wieder dazu, nach der verschütteten Geschichte des kleinen Jerzy zu suchen. Die Verdrängung ist keine Möglichkeit, der Vergangenheit zu entgehen. Sie kann einen Menschen vor nichts bewahren, denn die Vergangenheit hat, ob man sie erinnert oder nicht, stattgefunden.
Jurek Becker beschreibt in Die unsichtbare Stadt seine intensive Reaktion auf die Ausstellung:
“Ich starre auf die Bilder und suche mir die Augen wund nach dem alles entscheidenden Stück meines Lebens. Aber nur die verlöschenden Leben der anderen sind zu erkennen, wozu soll ich von Empörung oder Mitleid reden, ich möchte zu ihnen hinabsteigen und finde den Weg nicht.”
Gefühle und Erfahrungen aus der frühen Kindheit, die dem Bewusstsein nicht zugänglich sind, können in die künstlerische Arbeit eines Menschen einfließen und auf diese Weise einen Ausdruck finden. Beckers berühmtester Roman Jakob der Lügner erzählt die Geschichte des Juden Jakob Heym, der im Getto gegen seinen Willen in die Verlegenheit kommt, zu erfinden, dass er ein Radio besitzt. Fortan ist Jakob Heym gezwungen, den anderen Insassen Nachrichten zu erzählen über die Fortschritte der Roten Armee, die unweigerlich näher rücke. Damit gibt er den Mutlosen Mut und den Hoffnungslosen wieder Hoffnung. Jurek Becker erzählt Jakobs Geschichte mit leiser Ironie. Er beschreibt, obwohl ihm selbst alle bewussten Erinnerungen an das Getto von Lódz fehlen, den alltäglichen Kampf der Menschen um das Überleben und die Willkür, die zahllosen abstrusen Situationen, denen sie ausgesetzt sind, aber auch ihre Hoffnungen und Träume, ihre Versuche, eine Normalität aufrecht zu erhalten, die es nicht mehr gibt, zu seiner eigenen Verblüffung mit größter Akribie, so, “als wäre ich ein Fachmann”. Das ist er schließlich auch gewesen, denn er hat Jahre im Getto zugebracht und der kleine Jerzy mag die Vorgänge und Menschen um sich herum sehr genau beobachtet haben, so dass seine Erlebnisse im Unbewussten immer präsent waren. Es fällt aber auf, dass gerade Situationen der tödlichen Bedrohung oder des Ausgeliefertseins fast immer in Situationskomik eingebettet sind, was übrigens zum späteren Entsetzen des Vaters das ausdrückliche Bedürfnis des Schriftstellers gewesen ist. Ich bekam beim Lesen des Romans den Eindruck, als ob die natürlichen Reaktionen der Angst, der Verzweiflung, der Ohnmacht, der Wut mit Hilfe der Ironie und der Komik in Schach gehalten werden sollen. Die Erlebnisse des kleinen Jerzy dürfen in eine Fabel einfließen, jedoch befreit von den Gefühlen, die zu ihnen gehören. Diese Gefühle tauchten dann aber bei mir als Leser auf, insbesondere das Gefühl der Beklemmung und der Ausweglosigkeit, gerade weil Becker sich auf die alltäglichen Gedanken und Gefühle seiner Charaktere konzentriert, mir als Leser aber die historischen Fakten und das Ausmaß der Brutalität bekannt sind. Ob etwas in dem Schriftsteller auf diese Art und Weise die authentischen Gefühle des kleinen Jerzy vermitteln wollte? Es mag sein, dass ich mit dieser Reaktion auf den Roman eine Ausnahme darstelle. Bezeichnenderweise wurde das Buch von der Kritik gerade wegen seiner Ironie sehr gelobt, als ob die Kritiker dem Autor dankbar gewesen wären, dass er sie mit seinen wahren Gefühlen und der Realität verschonte.
Der Roman hat zwei Ausgänge, einen erwünschten (die Rote Armee befreit das Getto) und einen realistischen: Das Getto wird geräumt und die Insassen werden auf den Transport geschickt. Das Buch kreist um die Frage, ob die Verleugnung, die Illusion angesichts des Schreckens der Konfrontation mit der Wahrheit vorzuziehen sei. Jakob scheint es tatsächlich zu gelingen, die Insassen des Gettos zunächst von ihrer Lethargie zu befreien. Als er seinem Freund Kowalski gesteht, dass er in Wahrheit kein Radio besitzt und seine guten Nachrichten erfunden sind, bringt dieser sich um. Sind die Illusionen also lebensnotwendig? Beide Varianten des Romanendes scheinen dem zu widersprechen, denn auch in der erwünschten kommt Jakob Heym ums Leben. Durch keine Illusion kann die Realität entmachtet, aufgehoben oder verändert werden. Dieser Aspekt taucht noch einmal auf einer anderen Ebene auf.
Jakob versteckt das Waisenkind Lina, das der Deportation entgehen konnte. Wenn er abends von der Zwangsarbeit zurück kommt, erzählt er ihr viele erfundene Geschichten von seiner Arbeit, dem Verbleib ihrer Eltern, aber auch über die Zukunft. Er macht dies zum Besten des Kindes, um es vor einer grausamen Realität zu schützen, vielleicht auch, weil er weiß, dass er sie nicht schützen kann. Lina begibt sich auf die Suche nach dem Radio und findet eine Lampe, die sie für das Radio hält. Für mich ist diese Szene ein Bild für das um seine Kindheit betrogene Kind, dem noch das Normalste verweigert wurde. Vermutlich werden das viele Leser ähnlich empfinden. Aber das Kind wird auch um die Wahrheit betrogen, die doch überall deutlich zu sehen sein muss: Während die Erwachsenen liebevoll mit dem Kind umgehen und ihm schöne erfundene Geschichten erzählen, verhungern draußen auf der Straße die Menschen und die Nachbarn werden zur Deportation abgeholt. Dies wird im Roman nur sehr schonungsvoll angedeutet. In der Welt jenseits der Romane müssen diese Widersprüche in einem Kind Fragen erzeugen, die auch der Erwachsene, so er überleben konnte, ein Leben lang mit sich herumtragen kann und auf die er womöglich dringend eine Antwort braucht.
In Jakob der Lügner hat Jurek Becker “die unsichtbare Stadt” seiner Kindheit sichtbar gemacht und zugleich ihr Innenleben, nämlich den Schrecken und den Terror, durch den ironischen, sogenannt tragik-komischen Tonfall verhüllt. Doch geht es im Leben des Schriftstellers nicht nur um eine “unsichtbare Stadt”, es geht auch um ein Kind, das vielleicht nie sichtbar werden, sich niemals zeigen durfte.
In der Erzählung Die Mauer berichtet ein fünfjähriger Junge, der bezeichnenderweise namenlos bleibt, von seinem Leben im Getto. Hier ist Becker vielleicht den Erfahrungen des kleinen Jerzy am nächsten. Eines Tages wird die Straße, in der der Junge mit seinen Eltern lebt, geräumt; die Menschen werden in einen durch eine Mauer abgeriegelten Teil des Gettos gepfercht, wo sie auf die Deportation warten müssen. In einer Nacht klettert der Junge mit seinem Freund Julian über die Mauer; die Kinder wollen in der geräumten Straße etwas Bedeutungsvolles, etwas Notwendiges finden, beispielsweise den Stoffball des kleinen Erzählers. Den finden sie nicht, dafür ein Fernglas und eine Taschenlampe. Auf dem Rückweg werden sie von einem deutschen Soldaten erwischt, der ihnen allerdings nichts antut, sondern ihnen über die Mauer hilft.
Diese Erzählung hat sehr irreale Züge, doch bringt sie etwas sehr Reales zum Ausdruck. Der kleine jüdische Junge ohne Namen kann nicht verstehen, was um ihn herum vor sich geht. Für ihn scheint das Leben unter der ständigen Bedrohung zur Normalität geworden zu sein, weil er vermutlich nichts anderes kennt. Dennoch hat dieses Kind viele Fragen, wie das Mädchen Lina, über das Jakob dem fiktiven späteren Erzähler seiner Geschichte im Viehwagon sagt, er, der Erzähler, könne sich nicht vorstellen, “was für Fragen dieses Kind stellen kann”. Lina macht sich auf dem Transport ins Lager Gedanken über die “Zusammensetzung der Wolken”, der kleine Junge in Die Mauer fragt immer wieder sich selbst und die Eltern nach der Bedeutung der Ereignisse. Er kann nicht aufhören nach einer Erklärung zu suchen, ganz offenbar will er unbedingt wissen und verstehen. Nicht nur die Suche nach etwas Wichtigem, das einem einmal gehörte und das man verloren hat, die vielen Fragen des Kindes sind ein wesentlicher Bestandteil der Erzählung. Auf seine Fragen bekommt der Junge niemals eine Antwort: “frag nicht”, “frag nicht, was dahintersteckt”, heißt es immer wieder. Aber das Kind muss weiter seine Fragen stellen. Die Erzählung endet mit einer Lüge, einer gut gemeinten Täuschung des Jungen durch den Vater und beginnt mit den existentiellen Fragen dieses Kindes:
Ich frage: “Was geschieht mit mir, wenn sie mich fangen?” Der Vater antwortet: “Es ist besser, du erfährst das nicht.” Ich sage: “Sag doch, was geschieht mir dann?” Er macht nur eine unbestimmte Handbewegung und will sich nicht mehr mit mir unterhalten. Einmal sage ich: “Wer ist es überhaupt, der die Kinder wegfängt?” Er fragt: “Wozu musst du das auch noch wissen?” Ich sage: “Es sind die deutschen Soldaten.” Er fragt: “Die Deutschen, die eigene Polizei, was ist das für ein Unterschied, wenn sie dich fangen?” Ich sage: “Mit uns spielt jeden Tag ein Junge, der wohnt viele Straßen weit. Er fragt mich: Lügt dein Vater?” Ich bin fünf Jahre alt und kann nicht still sein. Die Worte springen mir aus dem Mund heraus, ich kann ihn nicht geschlossen halten, ich habe es versucht. Sie stoßen von innen gegen die Backen, sie vermehren sich rasend schnell und tun weh im Mund, bis ich den Käfig öffne. “Dieses Kind”, sagt meine Mutter, die kein Gesicht mehr hat, die nur noch eine Stimme hat, “hör sich einer nur dieses Kind an, dieses verrückte.”
Ich kann mir vorstellen, dass hier auch die dringenden Fragen des kleinen Jerzy, warum man und wer ihm etwas antun will, über den Grund der Trennung der Familie, darüber, was als nächstes geschehen wird, ihren Ausdruck gefunden haben. Die in das Kind zurück gedrängten Fragen haben gewissermaßen überwintert, sie sind immer wieder aufgetaucht und forderten eine Antwort, die Becker niemals finden konnte. Das Fragen der Kinder und das (wohlmeinende) Lügen der Erwachsenen sind zentrale Themen in diesen Werken Jurek Beckers. Die verschollene Vergangenheit des Kindes wurde zu einer Last, weil sie nicht ins Bewusstsein gehoben werden konnte:
“Ohne Erinnerungen an die Kindheit zu sein, das ist, als wärst du verurteilt, ständig eine Kiste mit dir herumzuschleppen, deren Inhalt du nicht kennst. Und je älter du wirst, um so schwerer kommt sie dir vor, und um so ungeduldiger wirst du, das Ding endlich zu öffnen.” (Die unsichtbare Stadt)

Der verschwiegene Terror und die Fragen der Kinder von Überlebenden

Ein Kind, das (sei es von den Nazis oder den eigenen Eltern) gejagt wird, hat keine Wahl: Der kindliche Körper muss die Gefühle wie etwa die Angst unterdrücken und abstellen. Dies sichert zunächst das physische Überleben des Kindes in einer Welt des Terrors. Je bedrohlicher die Situation, um so wahrscheinlicher ist es, dass sie verdrängt oder sogar vollständig aus der Erinnerung gelöscht wird. Vermutlich ist es nicht die Mehrheit der Menschen, die sich als Erwachsene auf den beschwerlichen Weg machen und ihre kindliche Realität suchen. Das Bedürfnis, zu wissen, wer man ist, wie man der geworden ist, der man ist, scheint nicht sehr verbreitet zu sein. In unserer Kultur des Entertainments ist die Frage “warum” verpönt; wer zu viel fragt, gilt als Spaßverderber und macht sich unbeliebt. Vor allem müssen auf der Suche nach der eigenen Geschichte Hürden überwunden werden: Als ich herausfinden wollte, wie meine Kindheit wirklich gewesen ist, war ich immer wieder mit Gefühlen der Schuld und des Mitleids gegenüber meinen Eltern konfrontiert, obwohl ich bereits erste eindeutige Erinnerungen an den Schrecken meiner Kindheit und die Grausamkeit meiner Eltern hatte. Ich wehrte mich lange gegen diese Gefühle und wollte sie nicht akzeptieren. Wie konnte ich Mitleid mit meiner Mutter haben, die mich so sehr ausgebeutet hatte und damit einen großen Teil meines Lebens zerstörte? Warum fühlte ich mich schuldig, denn ich hatte schließlich keine Verbrechen begangen? Ich fühlte mich gefangen, wie in einer Falle, aus der ich erst herauskam, als ich diese Gefühle zulassen und aus der Sicht des Kindes verstehen konnte. Da war ich in der Lage zu sehen, mit welchen perfiden Manipulationen meine Mutter mir das Mitleid und die Schuld aufgezwungen hatte.
Jurek Becker wollte wissen, was geschehen war. Der Vater verfügte über alle Informationen, die der Sohn brauchte. Er hat sie ihm jedoch niemals gegeben. Offenbar ließ er ihn auch im unklaren über sein tatsächliches Geburtsdatum, denn es wird immer wieder vermutet, dass die Eltern das Kind auf dem Papier älter gemacht haben. Wenn es mir schon unglaublich schwer gefallen ist, meine Eltern, die mir tatsächlich viel Leid zugefügt haben, nicht mehr verstehen zu wollen und sie in einem schonungslosen Licht zu sehen, wie schwer muss es für das Kind eines Überlebenden der Verfolgung sein, den Vater in Frage zu stellen und auf seinem Recht auf eine Antwort zu beharren. Ich kann mir vorstellen, dass hier das Mitgefühl für den Vater die Suche nach der Wahrheit immer wieder blockiert. Musste der Sohn den Vater, der immerhin in Auschwitz gewesen war, nicht schonen, durfte er dessen schreckliche Erinnerungen anrühren? Handelte der Vater nicht in der besten Absicht, dem Kind zu einem einigermaßen normalen Leben zu verhelfen, indem er es geradezu systematisch von der Vergangenheit ablenkte? Becker schreibt:
“Mein Vater vermied es von Anfang an und sehr konsequent, das Gespräch mit mir auf die Vergangenheit zu bringen. Niemals habe ich erfahren, welche Absicht er mit dieser Verschwiegenheit verfolgte: ob er selbst Ruhe vor den vergangenen Jahren finden wollte, ob seine Gründe also persönliche waren, oder ob er diese Zeit von mir fern halten wollte. Doch welches der beiden Ziele er sich auch gestellt haben mag – er hat es nicht erreicht.” (Mein Judentum)
Die Fragen des Kindes lassen sich nicht aus der Welt schaffen. Jurek Becker macht in seinen öffentlichen Aussagen immer wieder deutlich, wie sehr er sich Informationen vom Vater wünschte. Der gerettete Junge will sehr viel wissen, es ist naheliegend, dass der Sohn vom Vater etwas über die Zeit im Getto, über die Mutter, aber auch von dessen Erlebnissen in Auschwitz erfahren wollte. Doch Max Becker schweigt, er spricht mit seinem Sohn offenbar auch nicht über die Mutter, er erzählt ihm nur, sie sei schön gewesen. Später will Jurek Becker wissen, warum der Vater sich mit ihm ausgerechnet unter den Deutschen in Ost-Berlin niedergelassen habe und nicht in Polen. Doch “er schwieg sich aus”, berichtet der Schriftsteller, “er verdrehte die Augen und ließ mich stehen, als könne er nur so meine Fragen abwehren … .” Dann beschreibt er sehr anschaulich die Fehlkommunikation zwischen Vater und Sohn:
Einmal, ein einziges Mal nur, ließ er sich zu einer Antwort herab, wenn auch zu einer ziemlich dürren, es war Mitte der fünfziger Jahre. Er lag wegen eines Magengeschwürs im Bett, und ich saß stundenlang in seinem Zimmer … Ich sagte zu meinem Vater, er sei mir noch eine Antwort schuldig, und er sagte: “Geht das schon wieder los?” … und er sagte, es gäbe nichts schlimmeres bei Magengeschwüren als Aufregung. Aber ich ließ mich nicht so leicht abschütteln, diesmal nicht, es kam mir wie ein letzter Versuch vor. Ich sagte, er könne mich spielend loswerden, er müsse nur eines dafür tun: Mir endlich verraten, warum er nach dem Krieg nicht mehr in Polen leben wollte. Er sah mich unglücklich an, wie man Quälgeister ansieht, vor denen es kein Entrinnen gibt. Dann sagte er leise: “Das kannst du dir wirklich nicht selbst beantworten?” Und er seufzte über so viel Unverstand und sagte: “Haben die polnischen Antisemiten den Krieg verloren oder die deutschen?” Dann drehte er sich auf den Rücken, als wäre alles gesagt, und er schloss die Augen, als hätte ihn die Auskunft bis zum Äußersten erschöpft. (Mein Vater, die Deutschen und ich)
Es ist der Vater, der seine Vergangenheit nicht verkraften kann und, da er sie nicht zu löschen vermag, vor ihren massiven Folgen und Auswirkungen am liebsten fliehen möchte. Als sich Mieczyslaw Bekker nach dem Krieg mit seinem Sohn in Ost-Berlin als Max und Georg Becker offiziell eintragen lässt, macht er sich um genau die Jahre jünger, die er gezwungen war, in Getto und Lager zu verbringen. Das Schicksal Max Beckers zeigt deutlich, dass die Treibjagd, der ein Mensch einmal ausgesetzt war, sein Leben auf Dauer ruinieren kann. Ein Mann überlebt Auschwitz und muss erfahren, dass nicht nur seine gesamte Verwandtschaft, sondern auch seine Frau tot ist. Das Leben vor dem Krieg kann nicht einfach wieder aufgenommen werden, die Verfolgung hat dieses frühere Leben zerstört. In Polen kann dieser Mann nicht bleiben, denn die polnischen Antisemiten haben als gute katholische Christen nichts besseres zu tun, als Pogrome gegen die jüdischen Überlebenden der Konzentrationslager zu veranstalten (Pogrom von Kielce 1946). Eine Auswanderung ins damalige Palästina bietet sich nicht an, da dieser Mann sich immer so fühlte, als hätten ihn erst die Nazis zu einem Juden gemacht. Für diese Menschen hat man damals einen schrecklich wahren Begriff gefunden: “displaced persons”. Wo soll er hingehen? Der Mann findet seinen Sohn in der Krankenbaracke eines ehemaligen deutschen Konzentrationslagers und bleibt mit dem Kind im Land der Mörder. Er fängt an, zu trinken. Es gibt Erfahrungen, die einen Menschen gewissermaßen aus der Welt fallen lassen, die nicht einfach so akzeptiert, angenommen und schon gar nicht überwunden werden können. Sie bleiben eine offene, schmerzhafte Wunde. Die Erfahrung des von außen ruinierten Lebens, zerstörter Pläne und Hoffnungen gehört in meinen Augen in jedem Fall dazu.
Ob sich ein Überlebender mit der Zeit der Verfolgung konfrontiert, ist seine freie Entscheidung. Jeder Mensch hat das Recht, den Qualen der Vergangenheit auszuweichen. Allerdings kann dies schwerwiegende Folgen für die Kinder haben. Der Sohn wird nicht nur mit seinen Fragen alleine gelassen, vor allem verwehrt ihm Max Becker, auch wenn er dies bewusst nicht beabsichtigt haben mag, durch sein Schweigen den Zugang zu seiner eigenen Geschichte als Kind und zu seiner Identität.
Max Becker legt großen Wert darauf, dass sein Sohn so schnell wie möglich die deutsche Sprache beherrscht, um in der neuen Gesellschaft zurecht zu kommen und nicht als Fremder, als überlebender Jude aufzufallen:
“Als ich acht Jahre alt war, hörte mein Vater, der letzte nach dem Krieg mir verbliebene Verwandte, von einem Tag zum nächsten auf, mit mir polnisch zu sprechen; seine Absicht war die beste, er vermutete, dass mir gar nichts anderes übrig bleiben würde, als im Handumdrehen Deutsch zu lernen. Was er nicht bedacht hat, war, dass ich das Polnische viel schneller vergaß, als ich die neue Sprache lernte. So musste ich einige Zeit buchstäblich sprachlos leben.”
Becker beschreibt in seiner ersten Frankfurter Poetikvorlesung ohne jede Spur eines Vorwurfs die Mühen des Vaters, damit der Sohn die deutsche Sprache erlernt. Jedoch musste der Junge, der nun Georg heißt, einige Zeit ohne Sprache leben, vor allem ohne Sprache für seine Gefühle, Erlebnisse und Fragen. Jurek Becker vermutet in einem Gespräch mit dem Publizisten Günter Gaus, dass “mit diesem Vergessen [der polnischen Sprache] auch die meisten Informationen gelöscht worden” seien, “die in dieser Sprache gespeichert waren”. Ich meine, dass diese Informationen im Unbewussten sehr wohl weiter lebten, denn die Fragen des Kindes Jerzy, des Kindes Georg lassen dem Schriftsteller ein Leben lang keine Ruhe. Jurek Becker hätte, ganz unabhängig davon, dass der Vater den eigenen schmerzhaften Gefühlen ausweichen wollte, ein Recht auf Antworten gehabt. Die Fragen und die Bedürfnisse eines Kindes können zwar unterdrückt, jedoch nicht zum Verschwinden gebracht werden. Muss dies nicht, habe ich mich gefragt, in dem Kind wie später im erwachsenen Mann eine starke, auch berechtigte Wut auf den Vater hinterlassen haben? Und war es Jurek Becker vielleicht von Innen heraus nicht möglich, diese Wut zu artikulieren, weil er viele Jahre Zeuge der Hilflosigkeit und der Not seines Vater war, weil dieser Opfer der Massenbrutalität gewesen ist? Der Schriftsteller hat meines Wissens in der Öffentlichkeit darüber nicht gesprochen, einmal hat er allerdings etwas sehr Bezeichnendes formuliert:
Die Schwierigkeit eines Dialogs mit meinem Vater erwuchs auch daraus, dass ich ein Monstrum war. Verstehen sie es bitte nicht als Überheblichkeit, wenn ich sage, dass mein Vater, der ein einfacher Mann war, Mühe hatte, mir gewachsen zu sein. In seinen Augen war ich ein Mittelding zwischen Intelligenzbestie und Kindskopf.
Das intelligente, hartnäckige Kind mit seinem starken Bedürfnis nach Antworten musste in den Augen des Vaters, der vergessen wollte, eine Art Monster sein und Angst vor seinen eigenen, so lebensnotwendigen Fragen bekommen. Es kann sein, dass ein Mensch sich die längste Zeit seines Lebens mit den Augen der Eltern wahrnimmt, sich von diesem Blick nicht befreien kann. Aber auch die seit der Kindheit aufgestaute, berechtigte Wut erscheint in vielen Biographien unter Umständen wie ein Fremdkörper, ein Auswuchs, sofern sie nicht zugelassen und aus der Sicht des Kindes verstanden wird.
Max Becker stirbt Anfang der siebziger Jahre. Sein Sohn schreibt den Roman Der Boxer, in dem er die Geschichte des überlebenden Juden Aron Blank erzählt, der sich als Arno Blank in Ost-Berlin niederlässt und eines seiner Kinder, Mark, wiederfindet. Arno unternimmt alles Erdenkliche, um seinem Sohn zu ermöglichen, dass er nicht das Leben eines Opfers führen muss. Mark aber verlässt als junger Mann die DDR wie den Vater und geht nach Israel, wo er wahrscheinlich als Soldat im Sechs-Tage-Krieg stirbt.
Dieser Roman hat viele Facetten, eine davon ist, dass sich Jurek Becker hier stark mit der Person des Arno Blank identifizierte, während der Sohn Mark kaum eigenständig, sondern nur durch die Berichte Arnos sichtbar wird. Ich habe das Buch auch als einen umfassenden Versuch des Schriftstellers gelesen, das Leben und die Motive seines Vaters zu verstehen, als ob er nach dessen Tod noch eine Antwort finden könnte auf die Frage: Warum hast du nie mit mir gesprochen? Dies macht nicht zuletzt auch die Form des Romans sehr deutlich. Ein junger Schriftsteller besucht über viele Wochen Arno Blank, um ihm im Verlauf langer Gespräche Fragen über sein Leben zu stellen und seine Geschichte aufzuschreiben. Mir erschien diese Wahl der Erzählweise wie ein (allerdings vergeblich) nachgeholtes ausführliches Gespräch mit dem Vater, das es nie gegeben hatte:
Man kann wohl sagen, dass das Buch [Der Boxer] etwas mit dem Tod meines Vaters zu tun hat. … Es war vielleicht der Versuch, mich um ein Verhältnis zu bemühen, als es für dieses Verhältnis zu spät war.
Jurek Becker hat die Geschichte des Vaters, nicht die des Sohnes geschrieben. Doch die Geschichte des kleinen Jerzy meldete sich, vielleicht von Becker nicht erkannt, immer wieder. Sander Gilman erwähnt eine bemerkenswerte Episode aus dem Leben des Schriftstellers. Becker ist in den achtziger Jahren zu Besuch bei einer polnischen Journalistin; dort gerät ihm ein altes Kinderbuch in polnischer Sprache in die Hände. Gilman zitiert Jurek Becker: “Und plötzlich habe ich so ein langes Gedicht aus diesem Buch auf Polnisch erzählt. Ich wusste gar nicht, was es bedeutet, ich kannte nur die Klänge … .”

Die gute Mutter ohne Gesicht und der Argwohn gegenüber den Gefühlen

Jurek Becker ist bereits ein bekannter Schriftsteller, als er eines Tages auf dem Berliner Kurfürstendamm eine Zeitung kaufen will. “Die Frau im Kiosk”, berichtet der Biograph Gilman, “erkannte ihn und sagte, sie habe seine Mutter und ihn in Ravensbrück gekannt. Sie fragte ihn, ob er wisse, wie seine Mutter gestorben sei. Sie sei verhungert, sagte sie dann. Aber ob er auch wisse, warum, fuhr sie fort. Als er schwieg, sagte sie: Um sie zu ernähren.” Ob es sich hierbei um eine Legende handelt, ist, wie vieles in der von Gilman verfassten Biographie, unklar. Becker selbst äußert in einem Interview:
Es gibt Informationen, dass ich auf Kosten meiner Mutter überlebt habe, die mir im Lager ihr bisschen Essen gegeben hat. Sie ist verhungert, ich nicht.
Es ist in jedem Fall bezeichnend, dass der Schriftsteller Informationen über seine Mutter von Fremden erhält und nicht vom Vater. Diese Informationen beantworten aber nicht nur die Frage, wie das Kind Jerzy die Zeit in Getto und Lager überleben, sondern vor allem, wie es möglich gewesen ist, dass die Verfolgung das spätere Leben Jurek Beckers nicht zerstören konnte. Becker hat sehr wahrscheinlich vom Beginn seines Lebens an und auch unter den extremen Bedingungen der Verfolgung sehr viel Liebe von der Mutter bekommen, so dass es ihm gelang, trotz des Verlustes der “Muttersprache” in der “Vatersprache” einen wesentlichen Beitrag zur deutschen Gegenwartsliteratur zu leisten. Ich habe mich gefragt, ob nicht gerade das Wissen, unter welchen Umständen die Mutter ums Leben kam, nicht nur im Kind sondern auch im Erwachsenen starke Schuldgefühle hinterlassen hat. Von Anette Bekker existierte nach dem Krieg nicht einmal mehr eine Fotografie, es war doch so, als ob es sie nie gegeben hätte. Genau dies ist ja auch die Absicht der deutschen Nazis gewesen. Der Sohn bemüht sich immer wieder, Erinnerungen an die Mutter zu finden, aber sie bleibt eine Frau ohne Gesicht. Jurek Becker hat sich sehr selten über seine Mutter geäußert, gelegentlich erwähnte er, dass er von ihr träume. In diesen Träumen spricht sie zu ihm in deutscher Sprache. Es mag sein, dass in folgenden Äußerungen die starke Sehnsucht des Sohnes nach der Mutter zum Ausdruck kommt. Der Schriftsteller beschäftigt sich mit einem seiner Lieblingsbilder, “Picassos Bild einer schlafenden Frau mit gelbem Haar” und schreibt:
Ich sehe das Bild wohl auch deshalb so oft an, weil ich spüre, dass sein Anblick mir gut tut. Es erinnert mich an jemanden aus meiner Kindheit, an eine Frau mit zwei kleinen Händen, die sie nach vorn hielt und mich durch sanfte Auf- und Abbewegungen beschwichtigte, wenn ich zu aufgeregt war: “Ruhig, mein Lieber, ist ja gut.” (Ein Bild von Picasso und mir)
Wie viel Trauer und wie viel Schmerz mögen sich hinter diesen Äußerungen verbergen. Die Auswirkungen der Verfolgung können so gravierend sein, dass die Gefühle kaum zu ertragen sind. Ich weiß nicht, wie ein Mensch die Verluste und die Sinnlosigkeit verkraften kann. Aber dennoch existieren die starken Gefühle. Diese Gefühle sagen: Genau so grauenhaft ist es gewesen, genau dies ist meine wahre Geschichte. Das Zulassen der starken Gefühle kann zu einer schrittweisen vollständigen Anerkennung der Realität des Kindes führen, das ein Mensch einmal war. Jurek Becker begegnete den eigenen Gefühlen gegenüber der Vergangenheit offenbar mit großem Misstrauen. Er betrachtet die Bilder der Ausstellung über das Getto von Lódz und schreibt:
Doch auf einmal geschieht etwas, das mir ganz und gar nicht recht ist: … Ich hasse Sentimentalitäten, … ich würde gern alle Löcher zustopfen, aus denen sie kriechen könnten. Jedes Mal, wenn meinen Vater die Rührung überkam, bin ich aus dem Zimmer gegangen, bis er sich wieder im Griff hatte. Plötzlich spielt das keine Rolle mehr, die Bilder erfüllen mich selbst mit Rührung, ausgerechnet mich, und ich muss mir die dümmsten Tränen aus den Augen wischen.” (Die unsichtbare Stadt)
Ich meine, dass sich die Sprachlosigkeit zwischen Vater und Sohn im Verhältnis des erwachsenen Mannes zu sich selbst wiederholte. Jurek Becker war auf der Suche nach der Geschichte des Kindes Jerzy, er konnte aber “den Weg” zu diesem Kind “nicht finde[n]”, weil er den Gefühlen dieses kleinen Jungen, dem Zorn auf den schweigenden Vater, dem Schmerz über den Verlust der Mutter und der eigenen Kindheit offenbar hilflos gegenüber stand. So mussten diese authentischen Gefühle als “Sentimentalitäten” oder Rührseligkeit bezeichnet werden. Daher ist es auch nicht erstaunlich, dass keine Erinnerungen an die Kindheit zum Vorschein kamen.
Weder in den zahlreichen Interviews, die Becker gegeben hat, noch in seinen Aufsätzen habe ich eine Äußerung gefunden, die Hass gegenüber den Tätern und der schweigenden Mehrheit der Deutschen zum Ausdruck bringen würde. Im Gegenteil, Jurek Becker befasst sich mit der Frage der Schuld und des Umgangs mit den Verbrechern ausgesprochen sachlich, rational und politisch sehr korrekt. Dies erfreut ganz sicher die Deutschen, ich persönlich kann diese Haltung jedoch nicht teilen. Wären angesichts der Grausamkeiten, die der Familie Becker angetan wurden, Hass oder Vergeltungswünsche nicht eine völlig natürliche Reaktion? Viele ehemalige Opfer von Verbrechen sind der Auffassung, dass sie nur frei werden könnten von der Last der Vergangenheit, wenn sie keinerlei Hassgefühle gegenüber den Tätern empfinden würden. Ich meine, dass es darauf ankommt, ob ein Mensch sich sehr bewusst ist, wem der Hass gilt und warum. Dann kann dieses Gefühl bei berechtigtem Anlass, wie jedes andere Gefühl auch, kommen und gehen und muss nicht blind gegen die eigene Person oder unbeteiligte Menschen gerichtet werden. In diesem Sinne meine ich, die Opfer dürfen hassen. In Beckers Roman Bronsteins Kinder, auf den ich noch eingehen werde, reflektiert der nach dem Krieg geborene Sohn eines verfolgten Juden über sein Verhältnis zu einem ehemaligen Nazi-Verbrecher: “Es ist mir nie gelungen, ihn von Herzen zu hassen, ich wollte immer nur gründlich von ihm getrennt sein.” Und an anderer Stelle heißt es im Roman: “Ich brachte keinen Hass zustande, beim besten Willen nicht … .”
Wo bleiben die unterdrückten Gefühle in einem Menschen, die ja nicht einfach verschwunden sind, bloß weil sie nicht zugelassen werden? Der kleine verfolgte Jerzy hat sich im Leben des erwachsenen Schriftstellers immer wieder mit seinen vielen Fragen und Gefühlen gemeldet. Becker hat diese Botschaften aber nicht entschlüsseln können. Da der Körper alle unsere Erfahrungen und Erlebnisse speichert und somit unser Gedächtnis ist, versucht er immer wieder, an die verdrängten Gefühle und Erlebnisse zu erinnern. Aus der eigenen Erfahrung heraus habe ich den Eindruck, dass der Körper sich dabei verhält, wie das Kind, das noch nicht klar formulieren kann, worunter es leidet, was es gerade im konkreten Augenblick braucht. Wenn es dem erwachsenen Menschen gelingt, sich von der (unbewussten) Angst vor den Gefühlen nicht beherrschen zu lassen, kann er diese Gefühle nach und nach zulassen, aus der Sicht des Kindes verstehen und damit den Körper in einem sicherlich langen Prozess immer wieder beruhigen. Werden aber die Botschaften des Körpers über Jahre hinaus nicht verstanden, entwickelt der Körper unter Umständen schwere, auch lebensgefährliche Symptome.
Meine folgenden Überlegungen möchte ich nicht als Gewissheit und schon gar nicht als Analyse der Biographie des Schriftstellers verstanden wissen, vielmehr als eine mit aller Vorsicht gestellte Frage, deren Antwort offen bleiben muss. Im Jahr 1995 wird bei Jurek Becker fortgeschrittener Darmkrebs diagnostiziert, der bereits Metastasen ausgebildet hat. Mehrere Chemotherapien können nicht helfen, die Tumore wuchern weiter.
In einem Interview im Februar 1997 spricht Becker auch über die Krankheit, davon, dass er der Erkrankung keine besondere Bedeutung zusprechen wolle, sie als einen natürlichen Vorgang, einem “Gewitter” ähnlich, betrachte:
Wissen Sie, ich bin nicht einer von denen, die in Gedanken in einer Sache herumstochern, an der sie nichts ändern können. … ich versuche, diese Sache so weit wie möglich von mir wegzuhalten … weil ich nicht einsehe, dass es eine Erleichterung brächte, wenn ich sie näher an mich ranlassen würde. Und meine Frau staunt, wie ich versuche, so zu tun, als wäre nichts. Und ich finde, das ist das Gescheiteste, was ich tun kann. … Ich … habe nie geglaubt, dass es ohne mich nicht weitergeht … Mich hat im Gegenteil, wenn ich bemerkt habe, wie andere sich wichtig nehmen, das extrem gestört. Und vielleicht kommt diese Eigenschaft mir jetzt zugute. Meine grundlegende Stimmung ist: Mein Gott, mach nicht so viel Theater. (Der Spiegel 13/97)
Becker stirbt wenige Wochen nach dem Interview im März 1997, er ist noch nicht 60 Jahre alt. Wer, wenn nicht er selbst hätte seine Gefühle und die Geschichte des kleinen Jerzy ernst und wichtig nehmen, ein Aufheben davon machen können? Jurek Becker ist es nicht gelungen, dem gejagten Kind, das er war, in sich selbst Raum zu geben, seinen Fragen, Gefühlen und Verlusten. Es mag sein, dass er dies deshalb nicht vermochte, weil er früher oder später auf die grauenhafte Ausweglosigkeit gestoßen wäre, in der dieses Kind sich befunden haben muss. Doch das Gefühl der Ausweglosigkeit, das ja aus der Vergangenheit stammt, kann mit der Zeit sehr wohl getragen werden, wenn man die frühe Ausweglosigkeit des Kindes als real anerkennt: Genau so und nicht anders ist es gewesen.
Die deutsche Nachkriegsgesellschaft hatte keinen Platz für die Opfer der Verfolgung, überhaupt sind Opfer in der Gesellschaft nicht gerade beliebt. Aber auch das Kind Jerzy Bekker blieb in der Biographie des erwachsenen Schriftstellers eine “displaced person”. Wenn Jurek Becker in seinem letzten Interview über das Leben im Getto sagt, es sei, “als wäre es nie gewesen”, dann betrifft das auch diesen kleinen Jungen, der umzingelt von losgelassenen Furien überlebte.

Wer bin ich, wenn ich einmal Opfer war? oder Die Suche nach Verstecken

In dem Roman Bronsteins Kinder erzählt Hans, nach dem Krieg geborener Sohn eines überlebenden jüdischen KZ-Häftlings, die Geschichte seines Vaters, der mit zwei Freunden einen ehemaligen KZ-Aufseher in einem kleinen Haus vor Ost-Berlin gefangen hält, verhört und misshandelt. Hans versucht vergeblich, seinen Vater davon zu überzeugen, diese Vergeltungsaktion zu beenden. Schließlich stirbt der Vater und Hans befreit den alten Nazi, der in die Bundesrepublik entkommen kann.
Becker greift hier noch einmal die Sprachlosigkeit zwischen der Generation der Opfer und ihrer Kindern auf, allerdings erweitert um eine wesentliche Dimension. Nicht nur der Vater schweigt, sondern auch der Sohn will sich mit der Geschichte des Vaters nicht identifizieren. Hans will nicht zu den Juden gehören, die in seinen Augen, sobald sie zusammen kommen, nur ein “Potpourri der Leiden” herunter beten. “Ihr irrt Euch. Ich bin nicht der Sohn eines Opfers des Faschismus”, sagt er zu Hugo Lepschitz, ebenfalls Jude, bei dessen Familie er nach dem Tod des Vaters untergekommen ist, ” … als ich geboren wurde, war er längst kein Opfer mehr.” “Das ist man ein Leben lang, mein Lieber”, antwortet Lepschitz, ” … das wird man niemals los.”
Hans wehrt sich dagegen, Teil der Geschichte seines Vaters zu sein, er sträubt sich, dass die Vergangenheit seiner Eltern sein eigenes Leben beeinflusst und prägt. Die Geschichte der verfolgten Juden ist in seinen Augen etwas, “das man entweder längst kannte oder nun auch nicht mehr kennen zu lernen brauchte”. Dieser Widerstand ist vergeblich, weil die Realität der Vergangenheit nicht rückgängig gemacht werden kann. Der Jahre nach der Verfolgung geborene Sohn hat das Gefühl, dass er gar nicht auf der Welt wäre, wenn es nicht die viel ältere Schwester Elle geben würde, die den Holocaust in einem Versteck bei polnischen Bauern überlebte und ihr Leben von der Vergangenheit gezeichnet in einer psychiatrischen Klinik zubringen muss. Hans ringt um eine Identität unabhängig von der des Vaters; er will ein Deutscher sein, wie alle anderen in dem Land, in dem er lebt, auch. Doch niemand kann sich zwingen, so zu sein wie alle oder die anderen, auch wenn man es sich noch so sehr wünscht. Eine Identität ist nicht zu bekommen, ohne die eigene, individuelle Geschichte zu kennen und zu verstehen. Der Begriff Identität bedeutet ja gerade das von den anderen Unterschiedene, Differenz also, und manchmal auch Dissenz.
Becker wollte dem Roman ursprünglich den etwas provozierenden Titel geben “Wie ich ein Deutscher wurde”, der Verlag riet dem Autor jedoch dringend von dieser Wahl ab. Ich hatte den Eindruck, dass Bronsteins Kinder auch die Geschichte erzählt, warum der Sohn eines Überlebenden der Verfolgung nicht Deutscher werden kann, obwohl er es gerne sein möchte und obwohl er nicht wissen will, warum er es nicht kann. Es gibt Kinder der Verfolgten, die einfach in diesem Land leben wollen, aber das Gefühl nicht loswerden können, dass die Verfolgung an ihnen haftet. Sie stehen vor der Frage, was es bedeutet, jüdischer Herkunft zu sein, auch wenn sie nicht religiös leben und die Traditionen nicht mehr pflegen. Bin ich Jude, weil ich einen jüdisch klingenden Namen habe, weil ich in eine bestimmte Religionsgemeinschaft hineingeboren wurde? Kann ich aufhören, Jude zu sein? Habe ich dann meine Ruhe vor den Gespenstern der Vergangenheit und, nun ja, auch vor den Deutschen?
Einmal, vor Jahren sprach ich mit einem Mann Anfang 30, dessen jüdische Eltern als Jugendliche in verschiedenen Konzentrationslagern gewesen waren. Haben deine Eltern mit dir darüber gesprochen, wollte ich wissen. Nein, sagte der Mann, er habe die Eltern auch niemals nach der Vergangenheit gefragt, weil er spürte, dass die Eltern darüber nicht sprechen wollten. Außerdem habe er die wesentlichen Fakten im Geschichtsunterricht in der Schule erfahren. Dies habe ihm genügt. Er selbst fühle sich gar nicht als Jude, die Eltern seien schon vor der Verfolgung christlich getauft gewesen und hätten nach dem Krieg auch ihre Kinder taufen lassen. Für sein Leben spiele die Tatsache, dass die Eltern in Lagern waren, keine Rolle. Wie denn heute das Verhältnis zu den Eltern sei, fragte ich noch. Meine Eltern haben vor einigen Jahren jeden Kontakt zu mir abgebrochen, antwortete der Mann, als sie erfuhren, dass ich homosexuell bin.
Man kann sich drehen und wenden, wie man will, ein Mensch kann die Vergangenheit beschweigen, ignorieren, verleugnen, nur abschütteln lässt sie sich nicht.
Die deutschen Nazis machten aus Mieczyslaw und Anette Bekker, die mit ihrem Kind nur polnisch, nie jiddisch sprachen, um ihm später die Anpassung zu erleichtern, Mordechai und Chana, auch wenn sie nicht Mordechai und Chana sein wollten. Sie bekamen gleichsam einen Stempel verpasst und waren offiziell zur Treibjagd frei gegeben. Der Vater meldet sich und den Sohn in Berlin mit den schönen deutschen Namen Max und Georg an. Konnte er damit den Stempel, der ihm aufgedrückt worden war, beseitigen? Der Sohn, Jurek Becker, hat mehrfach geäußert, er wolle nicht als Opfer des Faschismus betrachtet und auf seine Vergangenheit reduziert werden; eher “zähneknirschend… füge” er sich in sein “Schicksal”, jüdischer Herkunft zu sein. Der Schriftsteller hat diese Herkunft niemals verleugnet, aber immer wieder das Empfinden, sich gegen Etikettierungen von außen, die mit seiner Abstammung verbunden werden, wehren zu müssen. In seiner ersten Frankfurter Poetik-Vorlesung beschreibt Becker, wie stark sein Wunsch nach Zugehörigkeit als Kind war:
Es war für mich beinahe eine Existenzfrage, so schnell wie möglich mein Deutsch zu verbessern: Je eher ich die Fehler ausmerzte, um so seltener wurden die anderen darauf gestoßen, dass ich ein Fremder war. Und wenn die Fehler ganz und gar aufhörten, würden sie mich eines Tages, wenn auch fälschlicherweise, sogar für einen der ihren halten.
Und in einem Interview aus dem Jahr 1992 sagt er:
Ich war kein normaler deutscher Junge, wollte aber gerne einer sein … . Ich musste erst einmal die Sprache lernen, ich musste erst einmal aufhören, ein Halbverhungerter zu sein, ich wollte durchschnittliche Sitten und Verhaltensnormen entwickeln, so unauffällig wie möglich.
Vermutlich hat jeder Mensch, der als Kind extremen, chaotischen und bedrohlichen Situationen ausgesetzt war, in seinem späteren Leben immer das Empfinden, aufgrund dieser Erfahrung nicht so zu sein wie andere und einen entsprechend starken Wunsch nach Normalität, was immer das sei, das starke Bedürfnis, nicht aufzufallen, sich nicht zu unterscheiden. Die Angst vor der Verfolgung bleibt im Körper erhalten: Ich will nicht mehr so gehasst werden und darum muss ich mich schützen, das an mir, was den Hass auslöste, verstecken, auch wenn ich gar nicht weiß, was mich so anders und hassenswert erscheinen ließ. “Ich hatte geglaubt, nach 30 Jahren könnten sie wie normale Menschen leben”, sagt Hans in Bronsteins Kinder über seinen Vater und dessen jüdische Freunde. Ich denke, genau das ist nicht möglich, es sei denn, man ist bereit, einen unter Umständen hohen Preis zu bezahlen. Ist ein Mensch, der einmal Opfer war, deshalb gezwungen, sich sein ganzes Leben lang weiter als Opfer zu fühlen?
Wenn ich mir mein eigenes Leben ansehe, meine ich, diese Frage ist falsch gestellt. Für mich geht es nur darum, die Realität des Kindes deutlich wahrzunehmen, zu sehen, was in der Vergangenheit geschehen ist, zu fühlen, was mir dies als Kind ausgemacht hat und zu realisieren, welche Folgen meine Erfahrungen als Kind in meinem späteren Leben hatten. Es ist unvermeidlich, dass dabei auch für die Verluste und die Erfahrung der absoluten Ohnmacht eine klare und bewusste Sprache gefunden werden muss. Dann kann ich sagen: Ja, ich bin einmal Opfer gewesen, das ist ein Teil der Realität meines Lebens und meiner Identität, die ich nicht ändern kann. Aber ich kann mich selbst verstehen, ich kann erkennen, wie der Hass, dessen Projektionsfläche ich war, in mich hineingestopft wurde. Der Hass kam von außen, es war nichts an mir, das mich hassenswert machte. Ich muss mich nicht mehr verstecken. Dann wird sich zeigen, wie ein Mensch mit der Realität seiner ganzen Biographie leben kann. Für einen Juden in Deutschland könnte dies bedeuten, dass er die Akzeptanz der Deutschen, von denen nur wenige versucht haben, sich der Vergangenheit zu stellen, nicht mehr braucht und auch nicht mehr will.
Es bereitet mir eine große Genugtuung, dass Jurek Becker trotz der Verfolgung genau das in seinem Leben machen konnte, was den Nazis mit Sicherheit am allerwenigsten gefallen hätte: Er hat nicht nur überlebt, er hat auch seine Bücher geschrieben, die ein wichtiger und unverzichtbarer Teil der deutschen Literatur geworden sind und immer wieder gelesen werden. Auch wenn an das Kind Jerzy im Leben des Schriftstellers nur sein Rufname erinnerte; Jurek werden in der polnischen Sprache nur Kinder genannt. Ob Becker sich dessen bewusst gewesen ist?

Nachwort: Warum ich über Jurek Becker schreiben wollte

Ich wurde 1961 geboren; meine Eltern waren während der Zeit des Nationalsozialismus Kinder und Jugendliche, sie können also nicht aktiv an Verbrechen teilgenommen haben. Sie wurden aber nicht nur in einem gewalttätigen Geist von Zucht und Ordnung “erzogen”, sondern sie verbrachten auch viele entscheidende Jahre in einem gesellschaftlichen Klima, das geprägt war von staatlich organisierter und sanktionierter Brutalität und der Verfolgung all dessen, was irgendwie “anders” war, davon, dass Menschen zum Freiwild erklärt wurden. Darüber haben sie weder gesprochen noch nachgedacht. Es wäre erstaunlich, wenn sich nicht haargenau dieses Klima in die “Erziehung” ihrer Kinder eingeschlichen hätte.
Als ich anfing, mich an meine Kindheit zu erinnern, daran, wie grausam meine Eltern wirklich gewesen sind, kam mir ausgerechnet meine Mutter unfreiwillig zur Hilfe. Eines Abends klingelte in meiner Berliner Wohnung das Telefon. Meine Mutter war außer sich, atemlos, aufgeregt und nachgerade entrüstet musste sie mir mitteilen, dass in ihrer Nachbarschaft eine jüdische Familie eingezogen war: Mein Gott, stell dir vor, Juden, ich habe mir erst gar nichts gedacht, aber dein Vater hat es gleich gemerkt; der Name, verstehst du, und die Nase von dem Mann, die müsstest du mal sehen, die können ihre Herkunft nicht verleugnen; du liebe Güte, du liebe, liebe Güte, was sollen wird denn jetzt bloß machen. Ich hörte eine Weile dem Wehklagen meiner Mutter zu und brach dann das Gespräch unter einem Vorwand ab. Ich fühlte starken Ekel, vor allem aber war ich zutiefst erschrocken. Wer waren diese Leute, die ich bislang meine Eltern genannt hatte?
Nach und nach fielen mir einige Episoden aus meiner Jugend ein. Ich muss 17 Jahre alt gewesen sein, als im deutschen Fernsehen der amerikanische Fernsehfilm “Holocaust” in mehreren Teilen ausgestrahlt wurde. Der Film war schlecht gemacht, hatte aber den Vorteil, dass die jüdische Familie als deutsche Familie wie jede andere auch gezeigt wurde. Wie die halbe Nation saß ich mit meinen Eltern vor dem Fernsehgerät. Meine Mutter und mein Vater blieben zuerst stumm. Gelegentlich gab meine Mutter diverse Seufzer von sich: Ach, mein Gott; nein, nein, ist das denn die Möglichkeit; du liebes bisschen, du liebes, liebes bisschen; ja nun, so was kommt eben von so was. Das war einer der seltenen Augenblicke im Leben meines Vaters, wo er aus seiner Apathie kurzeitig erwachte und die Historie mit folgenden Worten bündig erklärte: Genau, irgendwas werden die Juden schon gemacht haben, sonst hätte man sie nicht eingesperrt. Meinetwegen hätte man sie nicht umbringen müssen, aber dass man sie aus Deutschland rausgeschmissen hat, war ja wohl notwendig. Zugleich war ein innerfamiliäres Wunder geschehen: Meine Eltern waren einer Meinung, die Ehe meiner Eltern wurde zusammengehalten in der Eintracht gegen die Juden und selbstverständlich gegen mich. Damals habe ich gar nicht an mich heranlassen können, als was sich mir da meine Eltern präsentierten.
Etwa zwei oder drei Jahre später lief erneut ein Fernsehfilm, diesmal aus Groß-Britannien. Ich kann mich an den Titel dieses Films nicht mehr erinnern, es ging um das Orchester in Auschwitz, das aufspielen musste, wenn die Menschen in die Gaskammern getrieben wurden. Eine Szene ist mir aber im Gedächtnis geblieben: Es gab in diesem Film eine KZ-Aufseherin, die sich sozusagen in einen kleinen jüdischen Jungen verliebt hatte, ihn herzte, ihm besondere Essensrationen zukommen ließ, mit ihm spielte. Eines Tages wird auch dieses Kind geholt, um ermordet zu werden. Die Aufseherin ist verzweifelt, bricht in Tränen aus, im Film wird eine geradezu pervers rührende Abschiedsszene gezeigt. Aber nun, die Frau trägt ihr Los zunächst heroisch, Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps. Ich erinnere mich gut, dass ich diese Szenen widerlich fand. Ich saß mit dem Rücken zu meinen Eltern. Hinter mir schluchzte meine Mutter, sie erlitt einen ihrer turnusmäßigen kleineren Nervenzusammenbrüche: Mein Gott, die arme Frau; nein, nein, nein, wie kann man ihr nur dieses goldige kleine Kerlchen wegnehmen; das hätt’ ich nicht überlebt; ich hätte mich umgebracht, so ein süßer kleiner Spatz. Sie schluchzte noch eine Weile und dann räsonierte sie: Also dass man auch die Kinder umgebracht hat, das ist doch schrecklich. Wie kann man nur, das ist wirklich nicht die Möglichkeit. Ich könnte ja noch verstehen, wenn sie die Mädchen umgebracht hätten, Mädchen habe ich nie leiden können. Ich wollte auch nie ein Mädchen haben. Aber dass sie auch die Jungen umgebracht haben …, so goldige kleine Kerlchen, furchtbar, furchtbar; und diese arme Frau, diese arme, arme Frau, mein Gott. Was sagst du dazu? Mein Vater hätte sich niemals erlauben dürfen, ihr auf diese Frage nicht zu antworten und so gab er die Meinung zum Besten, die er gegenüber jeglichem Geschehen auf der Welt hegte: Tja, na ja, tja.
Ich erinnere mich genau, wie ich in meinem Sessel buchstäblich vereiste; ich ahnte, dass meine Eltern irre waren und schlichtweg grauenhafte Antisemiten. Erst viele Jahre später konnte ich mir vorstellen und klar machen, was dies für mich als Kind bedeutet hatte. Wie fühlt sich ein kleines Kind, das bei Leuten aufwachsen muss, die den Antisemitismus, den Geist der Nazis, die gesamte braune Gülle wie ein Schwamm in sich aufgesogen hatten? In einem mühsamen und quälenden Prozess erlaubte ich mir, mich an den Sadismus meiner Mutter zu erinnern, an die von ihr mit Lust zelebrierten Strafrituale, wie wir, mein Bruder und ich, uns aufzustellen und “stramm” zu stehen hatten, um die Schläge, die “Abreibung”, “die Tracht” in “Empfang” zu nehmen. Wie meine Mutter sich aufblähte, protzte, prahlte und ihre Reden schwang. Wie sie jeden Krümel auf dem Teppich zum Vorwand nahm, um nach dem Täter zu fahnden und das Vergehen zu ahnden. Wie sie mich als “Jude”, “Halbjude” und “Stück Scheiße” beschimpfte. Ich erinnerte mich an die gnadenlose Verachtung, mit der mich mein Vater von Anfang an bedacht hatte. In seinen Augen war ich, das Kind in seiner Angst, “verzärtelt, verweichlicht, weibisch”, ein “Muttersöhnchen” und eine “Memme”, obwohl gerade er der Schlappschwanz, die Lusche in der Familie gewesen war. Ich konnte Schritt für Schritt deutlich sehen, wie meine Eltern Jagd machten auf alles, was ihnen an mir nicht passte, was ihnen irgendwie “anders” erschien, sie deshalb bedrohte und mit Neid erfüllte, besonders meine Begabung, meine Phantasie, meine Intelligenz, mein Geschlecht. All das musste vernichtet werden, ausgerottet, oder, wie meine Mutter zu sagen pflegte: Das treibe ich dir aus mit Stumpf und Stiel.
Die Erfahrungen des kleinen Jerzy und meine können nicht miteinander verglichen oder gegeneinander aufgerechnet werden. Mir ist klar, dass ich in der Kindheit physisch nicht hungern musste, Kleidung hatte und im Winter gab es die Heizung. Ich musste nicht mit ansehen, wie Menschen ermordet wurden. Ich kann aber heute sagen, dass ich in einer Atmosphäre aufwuchs, in der ich für meine Eltern haargenau das war, was die Juden für die Nazis gewesen sind. In diesem Sinne war ich, wie ich auf der Couch liegend meiner schockierten Analytikerin einmal sagte, der Jude meiner Eltern. Dies muss übrigens in keiner Weise eine nur deutsche Eigentümlichkeit sein.
Für mein Leben ist es sehr entscheidend gewesen, dass ich meine Eltern so sehen und realisieren konnte, welche Verwüstungen dies in meiner Biographie angerichtet hat. Das Wahrnehmen der Realität ermöglichte mir nach und nach, die giftige Bindung an meine Eltern, das seltsame Mitleid und die Schuld, die ich ihnen gegenüber empfand, immer wieder aufzulösen. Ich konnte deutlich beobachten, wie ich im Verlauf dieser Entwicklung eine Identität gewann, die sich klar von meinen Eltern unterschied. Vor allem aber hatte ich ein Gegengewicht zu dem Hass in der Hand, den meine Eltern auf mich projiziert hatten und der mein Leben beinahe vollständig ruiniert hätte. Gleichwohl bleiben mir die Verluste, die durch nichts wieder gut gemacht werden können.
Meine Mutter hat ihre perversen Meinungen mit einer verblüffenden Offenheit von sich gegeben. Allerdings frage ich mich, wie viele Kinder noch Jahre nach dem Krieg bei solchen möchte-gern Führerinnen und Führern aufwachsen mussten. Auch wenn mir kaum Berichte bekannt sind, in denen Menschen über ihre Eltern und ihre Vergangenheit in diesem Licht reflektieren, sollte es mich stark wundern, wenn ich der einzige mit dieser Erfahrung bin.
Weder meine Großeltern noch meine Eltern haben jemals Schuld empfunden. Als sich in den frühen neunziger Jahren die Grenzen der osteuropäischen Länder zu öffnen begannen, reiste ich einige Male nach Polen. Ich wollte die Orte, die mir wichtig waren, auf mich wirken lassen und selbständig Antworten auf meine Fragen suchen, die meine Eltern immer abgewehrt und bekämpft hatten. Damals war ich mit starken Gefühlen der Schuld und besonders der Scham konfrontiert, die immer wieder wie eine Welle in mir aufstiegen. Nach und nach lösten sich diese Gefühle auf, denn schließlich habe ich mir ausgerechnet diese Mutter, diesen Vater nicht aussuchen können. Doch konnte ich mich sehr wohl dafür entscheiden, herauszufinden wie meine Kindheit war und wie meine Eltern in Wahrheit gewesen sind, die sich, wie viele andere Menschen, von ihrer barbarischen Haltung niemals zu lösen vermochten. Mit dieser Grausamkeit wurden sie nicht geboren, sie wurde ihnen auch nicht von den Nazis aufgezwungen; sie erfuhren und lernten sie früh bei den eigenen Eltern, die sie immer in hohen Ehren hielten. Der nationalsozialistische Staat erlaubte, verstärkte und kultivierte die Grausamkeit, sie war zum politischen Programm geworden. Die Ignoranz meiner Eltern, die viele Gleichaltrige auch in ihrer eigenen Familie beobachten konnten, gab mir schon in der frühen Jugend das Gefühl, gleichsam in einer Kloake zu leben, aber nicht in einem Land, das ich als echte Heimat empfinden konnte.
Ich meine, auf dieser Ebene der Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie und Herkunft liegt für die Kinder und Enkel sowohl der Täter- als auch der Opfergeneration eine Chance, sich zu begegnen und miteinander zu kommunizieren.
Im Roman Der Boxer sagt Paula, Arno Blanks Geliebte, einen jener “rätselhaften” Sätze, mit denen Jurek Becker seine Leser zuweilen gerne beschäftigt: “Wenn wir alles andere vorher vergessen wollten, würden wir nie mehr zum Leben kommen.” Die Hoffnung, man könne dann leben, wenn man den Schrecken der Vergangenheit vergessen hat, ist eine Illusion. Und wenn man vergisst, was war, ist echtes Leben nicht möglich.

Berlin im Februar 2004

Literatur:
Becker, Jurek im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main: “Jakob der Lügner”, Bibliothek Suhrkamp 1981; “Der Boxer”, Bibliothek Suhrkamp 1990; “Nach der ersten Zukunft, Erzählungen”, Suhrkamp Taschenbuch 1983; “Bronsteins Kinder”, Suhrkamp Taschenbuch 1988; “Warnung vor dem Schriftsteller: Drei Vorlesungen in Frankfurt”, Edition Suhrkamp 1990; “Ende des Größenwahns”, 1996
Suhrkamp Taschenbuch Materialien: “Jurek Becker”, Hrsg.: Heidelberger-Leonard, Irene; Ff a.M. 1992
Text und Kritik, Heft 116, 1992: “Jurek Becker”
“Der Spiegel”, Heft 13/1997
Gaus; Günter: “Zur Person”, Edition Ost, Berlin 1998
Gilman, Sander L.: “Jurek Becker”, Econ Ullstein List Verlag, Berlin u. München 2002
Singer, Oskar Dr.: “Im Eilschritt durch den Gettotag … Reportagen und Essays aus dem Getto von Lódz”, Hrsg.: Feuchert, Sascha u.a.; Philo Verlagsgesellschaft, Berlin/Wien 2002
Im Internet sind Informationen über das Getto von Lódz beispielsweise zu finden unter: “Simon Wiesenthal Center, Multimedia Learning Center Online” und “Jewish Virtual Library”
Weitere Literaturhinweise:
Epstein, Helen: “Die Kinder des Holocaust, Gespräche mit Söhnen und Töchtern von Überlebenden”, C.H. Beck, München 1987
Matwin-Buschmann, Roswitha (Übers.): “Kinder des Holocaust sprechen … Lebensberichte”, Reclam Verlag, Leipzig 1995
Chamberlain, Sigrid: “Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind”, Psychosozial-Verlag, Gießen 1997

© Thomas Gruner