Irreführende Informationen

von Alice Miller

Irreführende Informationen
Monday 15 March 2004

Die französische Journalistin Mireille Dumas präsentierte im dritten französischen Fernsehen im März 2004 eine Sendung, in der mehrere Personen, die einst in der Kindheit Opfer von sexuellen Misshandlungen waren, ihre Geschichten erzählten. Die meisten hatten sie in mehrfachen Therapien bereits verarbeitet, oder angeblich verarbeitet. Sie lieferten erschütternde Fakten. In den meisten Fällen waren es nicht die Eltern, sondern fremde Personen, pädophile Priester, Lehrer, Freunde der Familie, die die Taten an den Kindern verübten, und so konnte der Vorwurf an die Eltern nur indirekt geäußert werden, denn diese haben zumindest den Missbrauch nicht begangen. Zweifellos haben sie ihn indessen durch ihr Wegschauen ermöglicht. Diese Enttäuschung an den Eltern wurde meistens artikuliert, und schon das konnte man als einen großen Fortschritt empfinden, im Vergleich mit den verschleiernden Sendungen, die gewöhnlich zu diesem Thema geboten werden.

Doch auch hier, wie üblich, war es der psychologische Experte, der die Wahrheit verschleierte. Während sich die juristische Expertin über die Verschleierung der Tatsachen in der Justiz wahrheitsgetreu äußerte, versuchte der Kinderpsychiater die Bedeutung der hier erzählten Tatsachen zu relativieren oder diese sogar ins Gegenteil zu verdrehen. So wollte er z.B. die Rolle der Phantasie des Kindes in den Blickpunkt rücken, um der Freudschen Tradition zu entsprechen, wogegen sich die ehemaligen Opfer deutlich wehrten. Doch er tat noch mehr. Nachdem er doch zu hören bekam, welche Schäden im späteren Leben der Missbrauch in der Kindheit verursacht hatte, dass er die jungen Leute in Drogensucht, Delinquenz und schwere Erkrankungen getrieben hatte, sagte er ganz ruhig und besänftigend: “Aber zum Glück müssen die meisten Opfer nicht zu Tätern werden, sie müssen nicht den erfahrenen Missbrauch an ihren Kindern ausüben. Vielleicht kaum 10% tun das, doch 90% werden zu wunderbaren Eltern.”

Diese Aussage von einem Kinderpsychiater, der doch die Wahrheit aus der Praxis kennen müsste, wenn er sie zulassen würde, war höchst erstaunlich. Woher nimmt dieser Mann seine Statistik, musste man sich fragen. Denn in Wahrheit ist es ja vermutlich umgekehrt, dass kaum 10% dem Schicksal der Wiederholung entgehen, und zwar nur, wenn sie sich des Leidens in der Kindheit bewusst werden. Ansonsten schlagen die geschlagenen Eltern ihre Kinder und behaupten, dies sei zu deren Wohl. So viele missbrauchen ihre Kinder und behaupten, sie würden ihnen Liebe schenken, wie sie von ihren Eltern oder Erziehern beschenkt wurden. Wie ist es möglich, dass ein Kinderpsychiater dieses nicht weiß? Ich denke, dass ihn die Angst davor hindert, seine eigene verdrängte und verleugnete Geschichte zu entdecken und den Schmerz zu spüren, die sie ihm verursacht hat. Dazu kommt seine Angst, alleine dazustehen, wenn er sich für die Wahrheit aussprechen und sich nicht dem allgemeinen Trend der Verleugnung anschließen würde. Vielleicht möchte er den Kollegen gefallen, oder seinen eigenen Eltern, oder sich selber, und verrät das kleine Kind, das er einmal war, indem er eine eklatante Unwahrheit vor Millionen von Zuschauern von sich gibt, Unglücklicherweise wird er als Experte angehört und ernst genommen. Das ist eine der vielen Formen, in denen man den einst erfahrenen Betrug an andere weitergibt, sogar an große Massen von Menschen weitergibt, ohne die Verantwortung dafür zu übernehmen, was man eigentlich tut und aus welchen Gründen man dies tut.