Die Blendung des Ödipus – oder Der blinde Fleck unserer Kultur

von Thomas Gruner

Die Blendung des Ödipus – oder Der blinde Fleck unserer Kultur
Wednesday 01 December 2004

Alice Miller: Einleitung zum Ödipus-Artikel von Thomas Gruner

Ich habe im Laufe der Jahre ab und zu verschiedene Arbeiten über den Ödipus Komplex zugeschickt bekommen. Alle waren interessant und Freud gegenüber kritisch geschrieben. Doch mit der Zeit verlor ich das Interesse an dieser Diskussion, weil ich mich damit abgefunden habe, dass Freuds Ödipuskomplex ein Dogma ist und dass man über Dogmen nicht diskutieren könne. Thomas Gruner hat meine Aufmerksamkeit geweckt, weil er nicht nur zeigt, dass Freud die Wahrheit auf den Kopf gestellt hat, indem er den Sohn beschuldigte und den Mordversuch der Eltern ignorierte. Auch bleibt er nicht bei einer fruchtlosen Polemik mit Freud und seinen Schülern stehen, sondern zeigt die Wurzeln des universellen Wegschauens in unserer Kultur auf, wofür ihm Freud nur als Beispiel dient. Er weist auf eine seit Tausenden von Jahren herrschende Tradition hin, die sich auch in der griechischen Mythologie und in der Bibel spiegelt. Bei diesem Verfahren gelingt es ihm auch, die Frage zu beantworten, weshalb sich Ödipus schließlich das Augenlicht nimmt. Eigentlich hat er die Wahrheit erkannt, er hätte nur mit ihr leben müssen, mit der Wahrheit, dass seine Eltern ihn als kleines Kind nach der Geburt umzubringen versuchten und er nur dank eines fremden Hirten überlebt hatte. Diesen entsetzlichen Schmerz konnte er nicht ertragen, er zog es vor, die Wahrheit zu verleugnen und sich mit Hilfe seiner Blindheit vor ihr zu schützen.

Die Blendung des Ödipus
oder
Der blinde Fleck unserer Kultur

Thomas Gruner

“… dass ich der Mutter mich vermischen müsste / Und ein Geschlecht, den Menschen unerträglich zu schaun, vor Augen stellen würde und / Mörder sein dessen, welcher mich gepflanzt, des Vaters. / Und ich, als ich dies angehört, beschloss … / Hinweg an einen Ort zu gehen, wo ich niemals / Die Schanddinge der bösen mir / Gewordenen Sprüche sich erfüllen sähe” Sophokles: “König Ödipus”

1 Das Erzählte als Mittel der Erkenntnis

Die Fähigkeit des künstlerischen Gestaltens gab Menschen immer wieder die Möglichkeit, sich mit Ereignissen ihrer Zeit auseinander zu setzen, aber auch (bewusst oder unbewusst) Erfahrungen auszudrücken, die sie stark bedrängten. Besonders geeignet hierfür war das Mittel des Erzählens. Eine individuelle Geschichte sollte etwas zeigen, das womöglich alle anging. Damit stellten die Erzähler ihrer jeweiligen Gesellschaft ein Medium oder die Chance der kollektiven Selbstreflektion zur Verfügung.
Den Vorläufern der neuzeitlichen Erzählformen, den Mythen und religiösen Überlieferungen, kam hierbei eine starke kulturelle Bedeutung zu, über die die inzwischen vollständig marginalisierte und gesellschaftlich entwertete gegenwärtige Literatur längst nicht mehr verfügt. Heute beanspruchen Sozial- oder Wirtschaftswissenschaftler und vor allem die Vertreter der Medien die Meinungshoheit: Sie sagen uns, wie wir die Gesellschaft zu beurteilen haben, und es zeigt sich, dass diese Meinung im wesentlichen dem entspricht, was die jeweiligen Regierungen bereits verlautbaren ließen. Hinter dieser einen und einzigen wahren Meinung verschwindet vollständig die Erfahrung des einzelnen Menschen mit seiner Zeit und seiner Kultur. Da alle dasselbe denken und glauben sollen, hat eine Art “geistiger Zwangskollektivierung” stattgefunden und das Individuelle, der autonome Mensch verschwindet zunehmend aus dem öffentlichen Bewusstsein, ist unerwünscht und wird nicht mehr gebraucht. So wäre heute eigentlich die Literatur der Ort, an dem das Subjektive Zuflucht finden, sich ausdrücken und bewahrt werden könnte. Dies ist aber nur ganz vereinzelt der Fall.

Die frühen erzählenden Überlieferungen spiegeln noch nicht die Aufspaltung zwischen Wissenschaft und Kunst, die der neuzeitlichen Entfremdung zwischen Fühlen und Denken, Körper und Intellekt entspricht. Sie waren das Mittel der sozialen Selbstverständigung, indem sie die Geschichte, die Verstrickungen und Konflikte eines Individuums (sei es mit der Gottheit, einem tyrannischen Herrscher oder der Gemeinschaft der Menschen) erzählten, in denen sich der Zuhörer wiederfinden konnte. Die Mythologie der griechischen Antike dokumentiert dies besonders deutlich.
Der Mythos stellt außerordentliche Erfahrungen eines Einzelnen dar und betreibt zugleich eine Art früher (symbolisierender) Geschichtsschreibung, zunächst eine oral history des Volkes, indem die einzelnen Protagonisten zum Helden, zur Heldin werden, deren Schicksal eng mit dem der Allgemeinheit verwoben ist. Der mythologische Stoff transportiert jedoch über die erzählte Handlung hinaus sehr oft in einer tieferen Dimension auch eine Geschichte oder eine Erfahrung, die unbewusst zum Ausdruck kommt, nämlich die frühesten Erfahrungen der Menschen als Kinder. Der Stoff zeigt mit Hilfe zahlreicher Verschiebungen und Verkleidungen in verschlüsselter Form die Gewalt und Destruktivität am Anfang des menschlichen Lebens und die Bedeutung dieser Erfahrung für das einzelne und das kollektive Schicksal. Wie dies geschieht, das heißt wie sehr die Erzähler den “Text hinter dem Text” verstecken und verschlüsseln müssen, ist abhängig vom religiösen und ideologischen Hintergrund der Epoche. So kommt innerhalb der griechischen Mythologie die Destruktivität gegenüber dem Kind schonungsloser zum Vorschein als etwa in den Mythen des Alten Testamentes, das wegen seines spezifischen religiösen Sendungsbewusstseins die Eltern als Institution stärker in Schutz nehmen muss und dafür das Kind umso mehr beschuldigt.

Der Mythos und besonders dessen unbewusste Aussage erfahren in den verschiedenen Umformungen und Adaptionen in andere literarische Gattungen bis hin zu neuzeitlichen Interpretationen im Laufe der Zeit immer wieder Veränderungen, die Akzente verlagern sich jeweils. Dabei tritt der unbewusste Gehalt des Stoffes zunehmend in den Hintergrund und sowohl philosophische als auch psychologische Interpretationen zeigen darüber hinaus einen starken Widerstand gegenüber der Tiefenschicht des Erzählten. Schon der Mythos konnte die frühkindliche Erfahrung nicht unmittelbar erzählen, sie fließt in die Geschichte ein, ist gegenwärtig, aber Brechungen unterworfen. Dies erzeugt die starke emotionale Qualität des Erzählten, die Menschen immer wieder zu Deutungen des Stoffes provoziert, die seine unbewusst erzählte “zweite” Geschichte widerlegen sollen.

Die Mythologie als ein Zeugnis der Überlieferung der Anfänge unserer Kultur sagt zugleich etwas aus über deren Grundlage, sie vermittelt indirekt, worauf unsere Kultur seit jeher aufbaut und woran sie gerade deswegen scheitern wird. Diese Erkenntnis wird durch unterschiedliche Versuche der Deutung bekämpft.
Gerade der Mythos vom Schicksal des König Ödipus belegt diesen Vorgang innerhalb unserer Kultur sehr einleuchtend. Der Mythos ist der Geschichte des Kindes Ödipus noch relativ nahe, seine Umformung in der Tragödie des Sophokles verschiebt diese Geschichte auf eine ethische Fragestellung. Die psychoanalytische Deutung durch Sigmund Freud ist dann bestrebt, diese Geschichte zwar wieder hervorzuholen, allerdings nur, um sie dabei fast gewaltsam vollständig zu verzerren.

Ich habe kein Interesse daran, mich auf Freuds Realitätsfälschungen zu konzentrieren. Wenngleich die Psychoanalyse noch etliche Anhänger hat, wurde sie durch die Wirklichkeit längst widerlegt. Sigmund Freuds Umgang mit der Aussagekraft des Mythos ist aber symptomatisch für ein Verhalten der Gesellschaft bis heute: die annähernd lückenlose Ignoranz gegenüber der Bedeutung der Kindheit für das gesellschaftliche Klima. Allerdings gelingt es nicht, dieses Thema zum Verschwinden zu bringen, es bleibt gleichsam unterschwellig als Stachel im öffentlichen Bewusstsein und treibt Menschen dazu, die Fakten solange zu verdrehen, bis das Kind als Projektionsfläche des elterlichen Hasses als Täter dasteht. Um dieses Ziel zu erreichen, kommt manchmal jedes noch so unlogische Argument gelegen.

2 Weil nicht sein darf, was dennoch da ist …

“Es muss eine Stimme in unserem Inneren geben, welche die zwingende Gewalt des Schicksals im Ödipus anzuerkennen bereit ist, während wir Verfügungen … in anderen Schicksalstragödien als willkürliche zurückzuweisen vermögen”, schreibt Sigmund Freud 1900 in “Die Traumdeutung”, “sein [des Ödipus] Schicksal ergreift uns nur darum, weil es auch das unsrige hätte werden können … .” Und weiter: “Uns allen vielleicht war es beschieden, die erste sexuelle Regung auf die Mutter, den ersten Hass und gewalttätigen Wunsch gegen den Vater zu richten; unsere Träume überzeugen uns davon.”

Zu Beginn seiner Arbeit als Therapeut in eigener Praxis erfuhr Freud von zahlreichen Patientinnen, dass sie in der Kindheit sexuellen Übergriffen des Vaters ausgesetzt gewesen waren. In dieser Tatsache sah er folgerichtig die Ursache für ihre späteren seelischen Leidenszustände, ihre Symtpome, und entwickelte aus dieser Erkenntnis die sogenannte “Verführungstheorie”. Dieser Begriff ist bereits eine Verharmlosung, denn das Kind wird ja weniger verführt, sondern manipuliert, emotional erpresst, erniedrigt, ausgebeutet und unter Druck gesetzt oder vergewaltigt.
Sehr bald wandte sich der Begründer der Psychoanalyse von der kindlichen Realität ab. Alice Miller, Jeffrey Masson und Marianne Krüll haben mit je unterschiedlicher Akzentuierung beschrieben, vor welchem Hintergrund Freud die sogenannte “Verführungstheorie” aufgab und die Tatsache des lebenslangen Leidens von Kindern an den sexuellen Übergriffen ihrer Eltern durch ein seltsames Gebilde ersetzte, das er “Ödipuskomplex” nannte. Von nun an erscheint das Kleinkind als ein Geschöpf, das von dem Wunsch getrieben ist, mit dem gegengeschlechtlichen Elternteil sexuell zu verkehren und den gleichgeschlechtlichen aus Eifersucht zu ermorden.

Ich möchte daran erinnern, dass Freud seine Entdeckung der Realität des sexuellen Missbrauchs von Kindern durch die Eltern keineswegs nur deswegen aufgab, weil ihm (wie er dann behauptete) ein Irrtum unterlaufen war oder weil die damaligen Fachkreise und die Gesellschaft seiner Zeit dieser ebenso spektakulären wie skandalösen Entdeckung mit massivem Widerstand begegneten. Er war nicht nur der einsame Forscher, den man ins vollständige gesellschaftliche Abseits gedrängt hätte, wäre er bei seiner Erkenntnis geblieben. Freud spricht in Briefen an Wilhelm Fließ davon, dass er selbst als sehr kleiner Junge sexuelle Kontakte zu einer Kinderfrau erlebt und dass sein Vater die jüngeren Geschwister sexuell belästigt habe. Mehr erfahren wir nicht, aber es ist zumindest wahrscheinlich, dass der Vater das älteste Kind nicht verschont hat (Krüll; Masson). Freud war in seiner Kindheit selbst mit sexuellen Übergriffen, mit der Inzestthematik konfrontiert und hatte also ausreichende innerseelische und biographische Motive, um einer individuellen und kollektiven Realität auszuweichen und sie bis zur Unkenntlichkeit (oder bis zum Aberwitz) zu verdrehen.
Diese Fakten sind hinlänglich bekannt. Bekannt ist auch, mit welchem Eifer sich noch die Tochter Anna im hohen Alter abmühte, die Aufdeckung der peinlichen Familiengeheimnisse und ihrer Folgen für die Institution Psychoanalyse zu verhindern (Masson). Diese Vorgänge sind verständlich, wenn man sich die generationenübergreifende Dynamik des Verschweigens in Inzestfamilien vor Augen hält, sowie die Angst der Betroffenen vor der Realität ihrer Kindheit.

Freud beruft sich auf die Tragödie “König Ödipus” des Sophokles, in der er die allgemeingültige Wahrheit über die kindliche Entwicklung, wie er sie nach der Aufgabe der “Verführungstheorie” verstand, ausgedrückt finden möchte. In den “Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse” (1917) formuliert er seine Interpretation der sophokleischen Tragödie und welche ethnologische, kulturelle und psycho-historische Bedeutung er dem Stoff beimisst, wobei die Schuldzuweisung an das Kind unmittelbar deutlich wird:

“Er [der Zuhörer] reagiert so, als hätte er durch Selbstanalyse den Ödipuskomplex in sich erkannt und den Götterwillen sowie das Orakel als erhöhende Verkleidungen seines Unbewussten entlarvt. Als ob er sich der Wünsche, den Vater zu beseitigen und an seiner Statt die Mutter zum Weibe zu nehmen, erinnern und sich über sie entsetzen müsste. Er versteht auch die Stimme des Dichters so, als ob sie ihm sagen wollte: Du sträubst dich vergebens gegen deine Verantwortlichkeit und beteuerst, was du gegen diese verbrecherischen Absichten getan hast. Du bist doch schuldig, denn du hast sie nicht vernichten können; sie bestehen noch unbewusst in dir. … Auch wenn der Mensch seine bösen Regungen ins Unbewusste verdrängt hat und sich dann sagen möchte, dass er für sie nicht verantwortlich ist, wird er doch gezwungen, diese Verantwortlichkeit als ein Schuldgefühl von ihm unbekannter Begründung zu verspüren. … Aber noch mehr: in einer Studie über die Anfänge der menschlichen Religion und Sittlichkeit … ist mir die Vermutung nahe gekommen, dass vielleicht die Menschheit als Ganzes ihr Schuldbewusstsein, die letzte Quelle von Religion und Sittlichkeit, zu Beginn ihrer Geschichte am Ödipuskomplex erworben hat.”

Nunmehr stellt Freud das männliche Kind in den Vordergrund. Dies legen die eigene Kindheitsgeschichte und der Rekurs auf die Tragödie des Sophokles (aber auch der Mythos als Vorlage) nahe. Vor allem übergibt er die ganz realen Berichte seiner ersten Patientinnen auf diese Weise schlicht dem Mülleimer des Vergessens und Verschweigens. Allerdings berührt Sigmund Freud unbewusst und ungewollt jetzt auch einen weiteren Aspekt der tabuisierten Inzestthematik, nämlich die sexuelle Ausbeutung kleiner Söhne durch ihre Mütter. Auch hier wird exemplarisch deutlich, wie ein Mensch von einem Tabu unterschwellig gejagt werden kann; das Verleugnete kommt (wie in den Mythen) doch immer wieder an die Oberfläche und erscheint dort in verzerrter Form. Sehr ähnlich verhält es sich ja mit den Symptomen leidender Menschen, so dass man sagen könnte, die Psychoanalyse ist selbst ein Symptom für die Wahrheit, die sie so nachdrücklich bekämpft.

Die Tragödie des Sophokles ist von ihrem mythologischen Hintergrund nicht zu trennen, dessen Muster auch in der Tragödie wirksam ist: im einzelnen Schicksal etwas Allgemeines über oder für die jeweilige Gesellschaft, die jeweilige Zeit sichtbar zu machen. Die Tragödie will beim Zuschauer eine innere Erschütterung hervorrufen, um eine moralische Wirkung zu erzielen. Dabei reflektiert der Stoff auch die religiösen, ethischen und sozialen Vorstellungen und Werte seiner Epoche, im Guten wie im Schlechten.

Sigmund Freud hat also zu Recht auf die hohe kulturelle Bedeutung sowohl der griechischen Tragödie als auch (indirekt) des Mythos’ hingewiesen. Er glaubte, in diesem Stoff eine allgemeingültige Wahrheit über die Konflikte des Kindes gefunden zu haben, so dass dieser geeignet schien, einem psychoanalytischen Konstrukt den Namen zu geben.
Mich interessiert, dem Mythos und der Tragödie des Sophokles einige Fragen zu stellen, die Freud nicht stellte, weil er die Antworten sogleich bei der Hand hatte: Ist es logisch, den Stoff als Beleg oder Gleichnis für den “Ödipuskomplex” heranzuziehen? Wie sieht es aus mit der Schuld des Ödipus? Wie erscheinen dessen Eltern im Mythos? Welche frühen Erfahrungen des Kindes drückt der Mythos tatsächlich aus?
Alice Miller hat bereits 1981 in “Du sollst nicht merken” auf die (gelinde gesagt) befremdlichen Aspekte der Freudschen Interpretation der Tragödie hingewiesen. Ich meine darüber hinaus, dass eine einfache Lektüre des Mythos und seiner Adaption durch Sophokles sowohl für Freud als auch für seine damaligen und späteren Anhänger hätte hinreichend sein müssen, das Theorem vom “Ödipuskomplex” zu den Akten zu legen und nie mehr zu erwähnen.

3 “Doch … – soweit zu hören – wer wär elender? Wer … den wilden Qualen mehr Hausgenoß im Lebenswechsel?”: Das Schicksal des Ödipus

Wie bei vielen Kindern ist das Leben des Ödipus bereits vor seiner Geburt gezeichnet. Aber weder die Götter oder eine Weissagung noch ein unbewusster Trieb ziehen ihn in eine heillose Verstrickung, sondern die sehr konkrete Geschichte seines Vaters Laios wird zu der Last seines Lebens, an der am Ende nicht nur er sondern auch seine Kinder zugrunde gehen.
Als junger Mann ist Laios Gast des Königs Pelops. Er entführt dessen Sohn Chrysippos und “behandelte” ihn “auf so entwürdigende Weise, dass sich der Knabe, der vor Scham nicht aus noch ein wusste, das Leben nahm.” Man kann davon ausgehen, dass sich Laios des Kindes sexuell bediente. Hier führt der Mythos zu allererst ein Verbrechen ein, weil dieses Kind zu Tode kommt. Das ist durchaus bemerkenswert, denn Pädophilie und Päderastie waren im antiken Griechenland ein alltäglicher Vorgang. Ältere Männer befriedigten ihre sexuellen Bedürfnisse in der Regel bei Jungen. (Es ist nahezu ausgeschlossen, dass Freud dieser Hintergrund unbekannt war.)
Pelops verflucht den Laios: Sollte er jemals einen Sohn haben, möge er von diesem getötet werden. Laios wird König von Theben und heiratet Iokaste. Da die Verbindung kinderlos bleibt, befragt Laios das Orakel von Delphi, das dem Gott der Wahrheit und der Reinheit, Apollon, geweiht ist. Die Weissagung des Orakels ist eindeutig: Laios wird Vater werden, aber von der Hand des eigenen Sohnes sterben, weil Zeus ihn für den Tod des Chrysippos strafen will. Hier ist vom Inzest gar keine Rede, sondern das Schicksal des Laios wird als Folge seiner konkreten Schuld verstanden. Fortan lebt Laios getrennt von Iokaste.

Über die Zeugung des Ödipus und die Aussetzung des Säuglings existieren verschiedene Erzählweisen. Mal verführt Iokaste den Laios gegen seinen Willen, mal findet das Paar wieder zusammen. Beide Eltern planen den Tod des Kindes oder Laios ist die treibende Kraft. In jedem Fall ist der kleine Ödipus ein ungewolltes Kind, dem der Vater den Tod wünscht. Von Gewissenskonflikten des Laios wird nirgends berichtet, er will das Kind so schnell wie möglich loswerden, damit sich der Orakelspruch nicht erfüllt. Er hat keine Gefühle für seinen Sohn, und die Mutter unternimmt nicht den geringsten Versuch, um den Säugling zu retten. Ödipus wird in der Wildnis ausgesetzt, dort soll das Baby den Tod finden. Der massive Vernichtungswunsch der Eltern wird durch ein grausames Detail einsichtig: Die Aussetzung des drei Tage alten Kindes genügt ihnen nicht; ihm werden die Fersen (“mit einem Nagel”) durchbohrt und zusammen gebunden. Die von dieser Verletzung zurück bleibenden Narben, vermutlich sogar eine leichte Verkrüppelung der Füße, werden dem Kind später seinen Namen geben: Ödipus, der Schwellfuß.

Es ist also der Vater, der dem Sohn nach dem Leben trachtet. Doch das Mitleid eines Hirten rettet das Kind; der Säugling wird von Polybos und Merope, dem kinderlosen Königspaar von Korinth, adoptiert und wächst in der Überzeugung heran, deren leiblicher Sohn und legitimer Thronanwärter von Korinth zu sein.
Die Erzählweise des Mythos erlaubt viel Empathie mit dem Schicksal des Kindes Ödipus. Der junge Mann wird dann mit zahlreichen besonderen Eigenschaften, mit Klugheit und Mut, aber auch mit einem aufbrausenden, unbeherrschten Naturell, besonders jedoch mit einem starken Eigensinn ausgestattet. Was ihm als sichtbare Folge der Katastrophe seiner Kindheit bleibt, ist eine Benachteiligung bei sportlichen Wettkämpfen.
Auf einem Fest wird Ödipus von einem betrunkenen Korinther mit der Wahrheit konfrontiert: Er sei nicht der Sohn seiner Eltern. Wie so oft wird ein Mensch von Ahnungen über seine biographische Realität abrupt und von außen überrumpelt.

Ödipus kommt von nun an nicht mehr zur Ruhe. Er will die Wahrheit herausfinden, und zwar um jeden Preis, auch wenn sie für ihn selbst Nachteile mit sich bringen sollte. Er stellt Polybos und Merope zur Rede, die ihn (wie auch anders) weiterhin über seine Herkunft belügen. An dieser Stelle gäbe es die Gelegenheit, über die Macht des Unbewussten zu reflektieren, das auch den so privilegierten jungen Königssohn antreibt, trotz der Beschwichtigungen der Adoptiveltern unbedingt das Orakel von Delphi über seine Abstammung zu befragen. Mehr noch: Mut und Entschlossenheit des Ödipus, sich der Realität zu stellen, könnten manch einem Menschen als Vorbild dienen.
Nun erfolgt im Mythos der Umschlag, weniger in eine Schuldzuweisung, sondern in eine Verdammung (aufgrund der dem Ödipus weiterhin verborgenen Untat des Laios): Er werde den Vater töten, die Mutter zur Frau nehmen und mit ihr Kinder zeugen, die ebenso verflucht wären wie er selbst.
Das dem Gott der Wahrheit dienende Orakel verrät dem Ödipus nichts über seine Herkunft und seine Vorgeschichte. Der antike Mythos zeigt launenhafte Götter, die die schlimmsten Eigenschaften der Menschen in sich vereinigen, sich die Zeit mit Intrigen, Inzest und innerfamiliären Morden vertreiben und die Menschen je nach ihren Stimmungen manchmal ins Glück, meistens ins Unglück geraten lassen. Der Mensch kann sein Schicksal nicht beeinflussen, erzählen die Mythen aber auch die Tragödien. Er kann sich jedoch seinem Schicksal stellen, und dabei kommt es sehr darauf an, wie er das macht.

Ödipus unternimmt alles, damit sich der Orakelspruch auf keinen Fall erfüllen kann, widersetzt sich dem Beschluss des Gottes Apollon, reklamiert seinen Anspruch, das eigene Schicksal selbst zu bestimmen. In den Augen der Götter könnte dies sein eigentliches Vergehen gewesen sein. Im Glauben, die Weissagung beziehe sich auf Polybos und Merope, kehrt er gar nicht erst nach Korinth zurück, sondern beschließt, sich so weit wie möglich von dem Paar zu entfernen, das er für seine Eltern hält. Auf seiner Flucht begegnet er einem reichen alten Mann und dessen Gefolge. Der Alte demütigt ihn, schlägt ihn mit der Peitsche; Ödipus wehrt sich, versetzt dem Fremden einen Stoß, so dass dieser unglücklich stürzt und stirbt. Ödipus konnte nicht wissen, dass der fremde Mann sein leiblicher Vater war, er handelte eher aus Notwehr und der Tod des Laios erweist sich vielmehr als Unglücksfall, keineswegs als ein beabsichtigter oder insgeheim erwünschter Mord aufgrund von Hass, Rivalität oder Eifersucht (Vgl. auch Miller, 1981). Die Heirat mit Iokaste wird von ihm weder ersehnt noch angestrebt, sie ist der Lohn der Thebaner, weil er die Stadt von der Bedrohung durch die Sphinx rettet. Ödipus weiß auch hier nicht, dass die Witwe des Laios seine Mutter ist; Iokaste allerdings hätte ihn an den Narben seiner Fersen erkennen können (AM 1981), übrigens auch an seinem “sprechenden” Namen. In der sophokleischen Tragödie spricht Iokaste sogar die große Ähnlichkeit zwischen Ödipus und Laios ausdrücklich an.
Mit erschreckender Zwangsläufigkeit erfüllt sich im Mythos der Spruch des delphischen Orakels, dem der junge Mann ebenso entschlossen zu entgehen versuchte, wie er seine persönliche Wahrheit zu finden hoffte. Mythos und Tragödie zeigen später einen hoch geachteten König von Theben, der mit seiner Frau, seiner Mutter, ahnungslos vier Kinder zeugt: die Zwillingsbrüder Polineikes und Eteokles, sowie die Töchter Antigone und Ismene, deren späteres Schicksal für Kinder aus Inzestfamilien so typisch ist.

Die Tragödie des Sophokles beginnt, als Theben von Verfall und Untergang bedroht ist und folgt im weiteren Verlauf eng ihrer Vorlage. Die Stadt ist geplagt von Missernten, wirtschaftlicher Not, die Herden vermehren sich nicht mehr und die jungen Frauen gebären tote Kinder. Die Menschen erkranken an der Pest. Eindeutig werden die katastrophale gesellschaftliche Situation, die Bedrohung des Gemeinwesens mit dem Inzest in Verbindung gebracht, denn dem damaligen Zuschauer war der Mythos ja bestens bekannt.
In der Sekundärliteratur kann man gelegentlich lesen, die Tragödie reflektiere den Niedergang der perikleischen Epoche und den Ausbruch der Pest in Athen. Mir erscheint der Stoff durchaus als Versuch, als Anstrengung, einem drohenden Werteverlust eine strenge Form und eine klare Aussage entgegen zu setzen. In der Tragödie selbst wird dies durch den Chor angesprochen, der die Abwesenheit des Göttlichen in der Welt beklagt. Der Inzest spiegelt hierbei weniger die Übertretung sozialer Normen, er ist innerhalb der Tragödie auch nicht das beherrschende Thema, sondern wird im Werk eher zum Sinnbild für die Verletzung oder Vernichtung ethischer Übereinkünfte schlechthin, wodurch unmöglich wird, dass eine Menschengemeinschaft auf Dauer existieren kann.

Der eigentliche Fluch, der auf der Stadt lastet, ist aber in den Augen der Götter nun zunächst die Ermordung des Laios. Kreon, der Bruder der Iokaste, befragt das Orakel von Delphi über die Gründe für den Niedergang Thebens, das wiederum nicht die Wahrheit aufdeckt, sondern lediglich verkündet, der Mörder des Laios müsse gefunden und bestraft werden. Von der Vergewaltigung des Chrysippos ist keine Rede mehr. Das Verbrechen des Laios gerät im Mythos zunehmend in den Hintergrund und wird in der Tragödie überhaupt nicht erwähnt. Es findet eine Verschiebung, ein Bruch statt: Der Unglücksfall wird zum Mordfall erhoben, der eigentliche Verantwortliche für die unheilvollen Ereignisse zum Opfer. Dennoch wird Ödipus innerhalb der Tragödie nicht verurteilt, er ist schuldlos schuldig geworden. Wenngleich der blinde Theiresias den Ödipus anklagt, formuliert auch die Tragödie durch den Chor ausdrücklich ihr Mitgefühl mit dem Schicksal des Königs.
Dieser Zwiespalt kann aus heutiger Sicht zeigen, wie Menschen durch künstlerische Leistungen eine quälende oder tabuisierte Realität über ihre Kultur ausdrücken und zugleich verschleiern. Die Wahrheit schimmert hinter allen Verbiegungen jedoch immer wieder durch.

Erneut ist Ödipus entschlossen, die Fakten aufzudecken und überlässt die Wahrheitsfindung keineswegs der dafür zuständigen Gottheit. Vielleicht kann man ihn auch als sehr frühen Rebellen gegen die Konvention begreifen. Als der blinde Seher Theiresias ihm die Zusammenhänge enthüllt, wehrt er sich massiv, setzt aber den weiteren Ermittlungen keinen Widerstand entgegen. Er lässt Zeugen rufen, in der Hoffnung, die Aussagen des Theiresias entkräften zu können, der angeblich in einem höheren Sinne alles sieht, nur nicht das Verbrechen des Laios. Es ist dann Iokaste, die immer wieder versucht, Ödipus von weiteren Nachforschungen abzubringen, ihn zu beschwichtigen. Sie spricht davon, dass viele Männer in ihren Träumen mit der Mutter sexuell verkehrten. Ob diese Sentenz Freud veranlasste, die Aussagekraft der Träume auf die bloße Wunscherfüllung zu reduzieren und damit das Unbewusste, das er doch erforschen wollte, letztlich zu einem Abfallprodukt des Seelenlebens?

Als Ödipus erkennen muss, dass der Seher die Wahrheit verkündete, vollzieht er an sich selbst das Urteil, das er für den Mörder des einstigen Königs von Theben vorgesehen hat. Ich meine, dass dieses Urteil in seiner emotionalen Bedeutung viel von dem ausdrückt, was ehemalige Inzestkinder oft ihr ganzes Leben lang empfinden, häufig ohne ihre Gefühle, ihr besonderes Lebensgefühl verstehen und einordnen zu können:

“… wer wär unglückseliger als dieser Mann
und welcher Mann mehr gottverhasst als ich?
Den unter Fremden oder Bürgern keiner
Aufnehmen darf im Haus, ansprechen keiner
Und den man von den Häusern stoßen muss …
… Bin ich nicht schlecht?
Nicht unrein ganz? Wenn ich muss flüchten
Und darf als Flüchtling nicht die Meinen sehn,
Die Vatererde nicht betreten …
… lieber gehe
Ich spurlos von den Sterblichen hinweg,
Eh dass ich sehe, wie ein solcher Flecken
Des Missgeschicks auf mich gekommen ist!”

Iokaste tötet sich, als die Wahrheit ans Licht kommt. Ödipus straft sich selbst, er büßt und sühnt für etwas, das er weder gewollt noch gewusst hat. Er opfert sich letztlich für das Verbrechen seines Vaters. Er ist im Grunde auch als erwachsener Mann das Opfer des Laios. Aber die Ausstoßung aus der Menschengemeinschaft genügt nicht, Ödipus sticht sich die Augen aus. Nicht ertragen können, was man sehen muss, sich zerstören müssen, weil man Schuld und Scham in sich fühlt: Hier geht es nicht nur um Verdrängung, denn Ödipus stellt sich der Realität, sondern (wenn man will) um die Folgen ihrer Aufhebung. Sein Akt der Selbstzerstörung spiegelt das Entsetzen, das einen Menschen vor der Realität seiner Biographie erfassen kann, und auch die tief verinnerlichte Entwertung, die ein Inzest immer zur Folge hat.
Der Blick der Tragödie auf den Ödipus ist zum Schluss ein versöhnlicher. Die antiken Zuschauer erfuhren, wie sich Ödipus seinem Schicksal stellt, nicht aufgrund unbewusster, womöglich verwerflicher Triebkräfte, jedoch ohne es zu wissen in ein Verbrechen verstrickt gewesen zu sein. Das grausame Los des Ödipus dient der Rettung Thebens.

Der weitere Verlauf des Mythos (“Ödipus auf Kolonnos”; “Sieben gegen Theben”) zeigt, dass Selbstopferung und -bestrafung sinnlos waren. Theben hat dennoch keinen Bestand. Die Kinder des Ödipus setzen das Unglück ihrer Eltern fort. In der Möglichkeit, den Mythos gleichsam doppelt lesen zu können, wird ein Muster sichtbar, das für Inzestfamilien prägend ist.
Antigone hat in diesem Zusammenhang eine herausgehobene Position. Sie versucht, die Familie zu retten, sie opfert ihr Leben für die Familie. Sie begleitet den blinden Vater als Bettlerin in die Heimatlosigkeit bis zu dessen Tod. Zurückgekehrt nach Theben bestattet sie gegen den Willen von Kreon, der inzwischen die Stadt regiert, ihren toten Bruder Polineikes und verliert dadurch ihr Leben. Ihr Geliebter Haimon, der Sohn des Kreon, tötet sich daraufhin selbst. Auch er ein Opfer der Willkür seines Vaters. Die Zwillinge Polineikes und Eteokles töten sich gegenseitig im Zweikampf um die Macht über Theben. Über das Schicksal der eher angepassten, gehorsamen Ismene habe ich nichts finden können. Das Geschlecht des Labdakos, von dem Laios abstammt, geht unter, die Stadt Theben wird von Gewalt beherrscht.

Der Mythos als Quelle der Tragödie erzählt in einer tieferen Schicht eben auch die Geschichte eines Kindes als Erfahrung vieler Menschen: Das Leben der Kinder fällt den Eltern zum Opfer; die Kinder tragen die Vorgeschichte der Eltern ein Leben lang als Last mit sich herum, die von Generation zu Generation weiter gegeben wird. Die Wahrheit oder die Realität kann nicht unmittelbar zum Ausdruck gebracht werden, bleibt jedoch trotz aller Verkleidungen im Rahmen des Heldenepos, trotz aller Verschleierungen präsent. Am Anfang steht die Vergewaltigung eines Kindes durch den Laios, der Vernichtungswunsch der Eltern. Der Inzest mit der Mutter wird dem Ödipus eher schicksalhaft aufgezwungen. Die Inzest-Thematik kann sich im Mythos natürlich nicht ausdrücklich auf ein Kind und seine Mutter beziehen, sondern wird auf die Ebene des Geschehens zwischen Erwachsenen transponiert, so dass das Tabuisierte zwar angedeutet wird, jedoch nicht aufgedeckt werden muss.
Mythos und Tragödie erzählen ungewollt und mit unterschiedlichen Schwerpunkten die Geschichte eines Inzests und seiner Folgen für den Einzelnen und seine Nachkommen, aber auch für die Gemeinschaft der Menschen. Verfall und Untergang, das Verbrechen des Laios und der Inzest sind untrennbar miteinander verbunden. Der Mythos als frühe kulturelle Ausdrucksform zeigt zugleich, dass die menschliche Kultur auf dem Inzest und dem Hass der Eltern auf das Kind gegründet ist. Die Tragödie verschleiert den unbewussten Gehalt stärker, bringt ihn aber noch nicht vollständig zum Verschwinden.
Die in Mythos und Tragödie bereits vollzogenen Verdrehungen des realen Erfahrungshintergrundes werden von Freud noch einmal auf die Spitze getrieben. Die Psychoanalyse gebärdet sich dabei wie das delphische Orakel, das die Wahrheit konsequent verschweigt (obwohl sie diese gleichsam ex Cathedra zu verkünden vorgibt), dafür in Rätseln, Symbolen und Verschleierungen spricht. So wurde aus der Institution Psychoanalyse eine Art Kirche, in der man – ganz im Gegensatz zum Ödipus – das Heil im Glauben sucht und auf gar keinen Fall wissen darf.

4 Das Unsagbare verschafft sich dennoch Ausdruck …

Wie im Mythos vom König Ödipus ist die Opferung des Kindes Gegenstand zahlreicher früher Erzählformen. Griechische und römische Sagen berichten immer wieder von der Aussetzung und versuchten Tötung der Kinder. Väter oder Mütter verschlingen buchstäblich ihre Nachkommen. In den Märchen aller Kulturen findet sich der königliche Vater, der die Tochter heiraten will, die sich nur durch Flucht in die “Wüstenei” seinem Zugriff entziehen kann. Der Hass der Mutter erscheint in der bösen Stiefmutter, die den Kindern nach dem frühen Tod der guten leiblichen Mutter das Leben zur Hölle macht.
Religiöse Mythen der Völker sprechen häufig von der Präsenz des Inzest am Anfang der Menschheit. Auch die “Heilige Schrift” zeigt dies gleich zu Beginn der Schöpfungsgeschichte am Schicksal Lots und seiner Töchter und liefert die Beschuldigung des Kindes sogleich mit (Genesis 19): Lot und seinen Töchtern bleibt die Vernichtung innerhalb der Mauern von Sodom erspart, weil Jahwe sich gerührt zeigt, dass Lot zwei Fremde, die er als Engel des Herrn nicht erkennen kann, nicht nur in der Nacht bei sich aufnehmen will, sondern ihnen freundlicherweise auch seine Töchter anbietet. Um die Stämme Israels zu bewahren, machen die Töchter den Vater später betrunken, damit er Söhne mit ihnen zeuge (Vgl. auch: Rijnaarts, Josephine: “Lots Töchter”, München 1993). Dies alles, man staune, unter den wohlwollenden allgegenwärtigen Augen des sonst so strengen jüdisch-christlichen Gottes.

Die Frau des Lot war ja zur Salzsäule erstarrt, weil sie es wagte, trotz des ausdrücklichen Verbotes ihres Gottes auf das untergehende Sodom zurück zu blicken. Dieses Verbot und die Bestrafung seiner Missachtung stimmen ebenso nachdenklich wie die Selbstblendung des Ödipus. Ich fragte mich, warum sich der König von Theben die Augen aussticht, obwohl er die Wahrheit, mit der Mutter im Inzest gelebt zu haben, doch bereits erkannt hat. Was will oder darf er nicht sehen? Ich meine, er vermag die letzte Konsequenz nicht zu tragen, dass sein Opfer, seine Sühne vergeblich sind, dass nicht er schuldig ist, sondern seine Eltern an ihm schuldig wurden, dass sein ganzes Leben einer Geschichte zum Opfer fiel, die längst vor seiner Zeit stattgefunden hat. Ödipus geht gänzlich umsonst in die Verbannung, in die Heimatlosigkeit, er hat nichts getan, sondern wurde von seinen Eltern in ein Geschehen verstrickt, das er gar nicht durchschauen und beeinflussen konnte. Was er nicht sehen kann, ist der Hass des Laios und der Iokaste auf ihn als Kind.

Die Blendung des Ödipus spiegelt nicht nur den Selbsthass eines Inzestkindes, sondern vielleicht auch den blinden Fleck aller Kulturen, den ihre Mythen (bis hin zu den biblischen Mythen) mit vielen Worten und Sätzen zu verhüllen suchen: Am Anfang der Zerstörung steht der Hass der Eltern auf das Kind. Auch die Psychoanalyse hat lediglich einen neuen Mythos kreiert, unter dem Vorwand, in den Untergrund unserer Kultur hinabsteigen zu wollen, diesen nur noch mehr zugeschüttet. In diesem Sinne könnte man sagen, dass die Menschheit den Mythen offenbar immer noch nicht entwachsen ist.
Die Blindheit kann nicht schützen, es ist unmöglich, der eigenen Geschichte zu entkommen. Bei Sophokles spricht Ödipus eindrucksvoll über seine verzweifelten und vergeblichen Versuche, den Fluch des delphischen Orakels zu umgehen. Und auch der Freudsche Versuch, mit Hilfe einer aufgeblähten, ins Pompöse gesteigerten Theorie einfache Fakten zum Verschwinden zu bringen, musste misslingen und spiegelt lediglich den scheelen Blick jener, die unermüdlich Theorien auftürmen als Bollwerk gegen die Realität. Ein Phänomen, das man nach wie vor so oft in psychologischen oder psychologisierenden, aber auch sozialwissenschaftlichen Schriften entdecken kann.
Die frühen Erfahrungen vieler Menschen kommen (zumeist unbewusst) nämlich immer wieder mit “zwingende[r] Gewalt” zum Ausdruck, sie erzählen sich gleichsam in einer tieferen Schicht selbst: nicht nur in Überlieferungen, sondern vereinzelt bis hin zur modernen, auch gegenwärtigen Prosa.

Wenn wir auf die Gegenwart blicken, kann man feststellen, dass die in der Tiefe des Mythos ausgedrückte Wahrheit gelegentlich klar und unverstellt zu Tage tritt. So wird es immer schwieriger, ihr weiterhin auszuweichen.
In Portugal wird aktuell ein Verfahren gegen verschiedene Mitglieder der Landesprominenz eröffnet. Diese hatten sich elternlose Heimkinder in ihre Privatvillen zuführen lassen, um die Kinder wiederholt sexuell auszubeuten (Vgl. Spiegel-Online, 25.11.2004: “Prozess in Portugal”). Erneut wird deutlich, wie der Hass auf das Kind alle Schichten des gesellschaftlichen Lebens im Untergrund prägt. Und vielleicht ist es gerade dieser Hass, der so viele Menschen den Blick von der Realität des Inzests und der sexuellen Ausbeutung von Kindern abwenden lässt, denn der Inzest oder die Vergewaltigung eines Kindes sind nichts anderes als der Ausdruck für den Hass auf das Kind, letztlich für den von den eigenen Eltern übernommenen Hass auf das Kind, das ein Mensch selbst gewesen ist.
Die Realisierung dieses Hasses, der Abwesenheit der elterlichen Liebe ist vielleicht bedeutend schwerer zu ertragen als die Tatsache des sexuellen Missbrauchs. Das würde dann auch die schon fast verzweifelte Unlogik mancher psychologischer oder soziologischer Theorien erklären und die Hartnäckigkeit, mit der die im Inneren eingeschlossene bedrängende Erfahrung sich gleichwohl immer wieder Ausdruck verschafft.

© Thomas Gruner, Dezember 2004

Literatur:

Sophokles: “König Ödipus”, Insel Taschenbuch, Ff a.M. u. Leipzig 1973
Schwab, Gustav: “Sagen des klassischen Altertums”, Düsseldorf 1950
Stefanides, Menelaos u. Jannis: “Ödipus Tragödien”, Verlag Sigma, Athen 2002

ferner:
Freud, Sigmund: Studienausgabe Bd. I u. II, Fischer, Ff a.M. 1981
Krüll, Marianne: “Freud und sein Vater”, Fischer Taschenbuch, Ff a.M. 1992
Masson: Jeffrey M.: “Was hat man Dir, du armes Kind, getan”, Edition Kore 1994
Ders.: “Final Analysis: The Making and Unmaking of a Psychoanalyst”, New York 1990
Miller, Alice: “Du sollst nicht merken”, Suhrkamp, Ff a.M. 1981