Empörung als Vehikel der Therapie

von Alice Miller

Empörung als Vehikel der Therapie
Tuesday 15 March 2005

Es kommt immer wieder vor, dass Bücher oder Artikel erscheinen, die uns über schreckliche Zustände oder Taten informieren (z. B. über das Quälen von Tieren, die Ausbeutung der Natur, Folterungen, Despotismus), und es ist natürlich, dass wir mit starken Gefühlen darauf reagieren. Zumindest ein großer Teil der fühlenden und denkenden Bevölkerung reagiert darauf mit Empörung. Es gibt allerdings eine Ausnahme: Wenn von Misshandlungen an Kindern wie Schläge und Ohrfeigen berichtet wird, lässt sich im allgemeinen eine auffallende Gleichgültigkeit feststellen, weil die meisten Menschen nach wie vor überzeugt sind, das Schlagen der Kinder sei notwendig und auch harmlos.

Wie kann man glauben, dass es für irgendeinen Menschen gut sei, geschlagen zu werden, und dies noch zur Zeit seines Wachstums, der Ausformung seines Gehirns? Vermutlich, so müsste man annehmen, haben die Befürworter der körperlichen Strafen noch nichts davon gehört, dass sich das menschliche Gehirn in den ersten drei Lebensjahren ausbildet und dass Gewalttätigkeit genau in dieser Zeit erlernt wird. Aber wie ist eine solche Ahnungslosigkeit möglich? Dieses Wissen wird doch nicht geheimgehalten. Zumindest gebildete Leute wie Lehrer, Priester oder Juristen, (Politiker, Staatsoberhäupter, Minister) müssten doch irgendwo, irgendwann mit den Fakten in Berührung gekommen sein.

Bereits vor zwanzig Jahren wurde einiges über Kindesmisshandlungen berichtet, doch nach wie vor regt sich nirgends die Empörung und das Entsetzen darüber, dass die Machtlosigkeit der Kinder rücksichtslos ausgebeutet wird und dies nur der Entladung der aufgestauten Hassgefühle der Erwachsenen, der Eltern und Betreuer dient. Ein Kind wird geschlagen? Na und, ist das nicht normal?

„Nein, das ist weder normal noch ungefährlich, noch ethisch zu verantworten“, sagen und schreiben einige Leute seit etwa zwei Jahrzehnten. Aber diese Menschen stellen bis heute eine kleine Minderheit dar. Meine zahlreichen Versuche, zum Beispiel mit Hilfe des Vatikans junge Eltern über die Gefährlichkeit des Schlagens von Kindern zu informieren, sind alle gescheitert. Ich stieß stets auf eine Mauer der Gleichgültigkeit und des Schweigens.

Wie lässt sich das erklären? Wir können kaum annehmen, dass sich etwa im Vatikan kein einziger Mensch befindet, der imstande wäre, sich über die Gewalt gegen Kinder zu empören und daher das Bedürfnis hätte, meine Informationen an den Papst weiterzuleiten. Und doch zeigt meine Erfahrung, dass dies bis heute nicht geschehen ist. Und nicht nur im Vatikan. Auf der ganzen Welt wird von Regierenden kaum etwas unternommen, um diese barbarische Praxis zu verbieten.

In den 70er Jahren hat Schweden ein Gesetz verabschiedet, das Gewalt gegen Kinder eindeutig untersagt. Leider sind seitdem nur dreizehn kleinere Staaten diesem Beispiel gefolgt. Obwohl wir heute wissen, dass wir mit Schlägen die Schläger und Schlägerinnen von morgen aufziehen, gibt es in der Öffentlichkeit keinen Aufschrei der Empörung. Stattdessen kultivieren wir ungestört gerade das, was wir angeblich ausrotten wollen: Folter, Kriege, Genozide. Wir produzieren aktiv die Gewalttätigkeit und die Krankheiten für morgen. Denn in jedem einzelnen Fall lässt sich nachweisen, dass hinter den Gewalttaten eine Geschichte der Demütigungen steht (vgl. James Gilligan, „Violence“, Putnam N.Y., 1996).

Ich frage mich immer wieder, weshalb es so schwer ist, dieses Wissen zu vermitteln und weshalb die normale Reaktion der Empörung nur dann ausbleibt, wenn es sich um das Schlagen der kleinen Kinder handelt? Eigentlich kenne ich die Antwort auf diese Frage, aber ich hoffe immer wieder, dass ich mich täusche. Die Antwort, die ich gefunden habe, lautet: Die meisten von uns waren misshandelte Kinder und haben sehr früh lernen müssen, dies zu verleugnen, um zu überleben. Wir waren gezwungen zu glauben,

dass wir „zu unserem Besten“ gedemütigt und gequält wurden,
dass die Schläge nicht weh taten und harmlos seien,
dass sie dem Wohl der Allgemeinheit dienen (sonst wären wir angeblich zu gefährlichen Monstern heran gewachsen).

Wenn unser Gehirn diese irreführenden Informationen sehr früh gespeichert hat, dann bleiben sie gewöhnlich ein Leben lang wirksam, d. h. sie bilden dauerhafte Denkblockaden. Es sei denn, diese würden – eventuell in einer Therapie – aufgelöst werden. Doch gewöhnlich lassen sich die meisten Menschen nicht darauf ein, ihre Denkblockaden aufzugeben. Sie wiederholen immer wieder wie im Chor: „Meine Eltern taten das Beste, um mich gut zu erziehen, ich war ein schwieriges Kind und brauchte strenge Disziplin.“ Wie soll es diesen Menschen möglich sein, sich angesichts der Kindesmisshandlung zu empören? Sie sind ja seit ihrer Kindheit von ihren wahren Gefühlen, von ihren Schmerzen der Demütigung und Qual getrennt. Um ihre Empörung zu spüren, müssten sie an diese alten Schmerzen herankommen. Doch wer will das schon?

So bleiben diese Schmerzen sehr häufig hinter eisernen Türen im Keller ihrer Seele eingesperrt. Und wehe, wenn jemand an diesen Türen rütteln sollte: Lieber Depressionen erleiden, lieber Medikamente, lieber Drogen nehmen, lieber sterben, als an die alte Folter erinnert zu werden. Also tauft man die Folter mit dem wohlklingenden Namen „Erziehung“ und muss die Schmerzen nicht spüren. Diese Menschen sind der Empörung nicht fähig, solange sie verleugnen, dass sie als Kinder selbst Opfer waren. Nur wenige stellen sich den Fakten ihres Lebens und fühlen sich dadurch jedoch oft isoliert. Denn sie leben in einer Gesellschaft, in der sich aufgeschlossene Menschen zwar ganz ehrlich über manches Unrecht empören können, wie z. B. über Kinderarbeit in Asien, nur nicht über das Unrecht, dessen Opfer sie selbst gewesen sind. Sie wurden zu Opfern, als sie noch nicht selbständig denken konnten und sie die Meinung ihrer Eltern übernommen haben, dass sie zu ihrem Besten gefoltert wurden. All dies geschah, um die Treue und Liebe zu ihren Eltern pflegen zu können, was häufig auf Kosten der eigenen Kinder geschieht. Eigentlich müsste nun die Zeit gekommen sein, dass diese einst missbrauchten Kinder den Mut zur Auflehnung finden.

Die Unfähigkeit, sich über das Schlagen der Kinder zu empören, lässt sich zwar aus unserer Geschichte heraus verstehen, doch sie verschließt uns den Zugang zum Verständnis zahlreicher Phänomene. Das lässt sich anhand verschiedener Problemkreise illustrieren. Ich möchte im Folgenden am Beispiel von drei Bereichen aufzeigen, wie die Fähigkeit, sich zu empören und die Erstarrung aufzulösen, uns ermöglichen könnte, nicht nur unser Wissen zu vertiefen, sondern auch effektive Abhilfe und Vorbeugung zu leisten, wo sie dringend nötig sind. Es handelt sich um die herkömmliche Sicht auf die Delinquenz (Massenmorde und Serienverbrechen), um die Tradition der Kindesmisshandlungen in Familien und um die geforderte Neutralität in der Praxis der Psychotherapie.

Massen- und Serienmörder

Sowohl in der forensischen Psychiatrie als auch innerhalb der Psychoanalyse wird immer wieder behauptet, dass die abscheulichen Taten der Massenmörder kaum Folgen von erlittenen Kindesmisshandlungen sein könnten, weil manche Mörder aus Familien stammten, die nach außen weder zerrüttet noch besonders gewalttätig wirken würden. Wenn man sich allerdings die Mühe macht, genau nach der Erziehungspraxis der Eltern zu fragen, ergibt sich in allen Fällen ein Bild des Grauens, das den Taten des Serienmörders in keiner Weise nachsteht. Im Gegenteil: Da die Perversionen an Kindern verübt wurden – und zwar über Jahre – lässt sich das, was man gewöhnlich Züchtigung nennt, durchaus auch als Mord bezeichnen, als Mord an der Seele nämlich. Wie das Buch „Base Instincts“ von Jonathan Pincus zeigt (vgl. Thomas Gruners Artikel „Frenzy“ auf dieser Website), ist es nicht einmal schwierig, Einzelheiten über die Grausamkeit der Eltern zu erfahren, weil der Verbrecher diese selbst nur äußerst selten als pervers beurteilt; er sieht sie als eine ganz normale Erziehung, hängt wie fast alle anderen in der Kindheit misshandelten Menschen an seinen Eltern und schützt sie vor jedem Vorwurf. Der befragende Psychiater übernimmt gewöhnlich dieses Urteil (wenn auch er seine eigenen Eltern nie in Frage gestellt hat) und kommt zu dem Schluss, dass der vor ihm sitzende Serienmörder mit destruktiven Genen auf die Welt gekommen sein müsse, die ihn zum Verbrechen treiben.

Ich sah einmal einen Fernsehbericht über die wachsende Jugendkriminalität. Der Reporter gab sich Mühe, die Motive der jungen Delinquenten zu verstehen, und befragte darüber Staatsanwälte, Polizeifunktionäre, Gefängnisdirektoren, die alle ohne Ausnahme mit Bedauern behaupteten, dass in keinem der Fälle irgendwelche Motive für die begangenen Morde bzw. schweren Körperverletzungen festzustellen gewesen seien. Das sei typisch für die moderne Jugend, wurde dabei angemerkt. Als einzige Ursache der starken Erregung wurden höchstens Alkohol oder Drogen genannt. Warum diese Leute zu Drogen greifen, wurde allerdings nicht gefragt. Dass diese Jugendlichen seit ihrer Kindheit mit einem erheblichen Rachedurst leben, der wie eine Zeitbombe in ihnen wirkt, scheinen all die befragten Beamten noch nie gehört zu haben.

So arbeitet also ein Gefängnisdirektor seit 20 Jahren mit allen Problemen dieser Institution, aber offenbar hat ihn die Frage niemals interessiert, wie kriminell gewordene Jugendliche aufgewachsen sind und wer die Keime der Gewalt in ihre Seelen gesät hat. Es ist ihm nie die Information aufgefallen, die fast in allen Protokollen über die Tat zu finden ist, dass der Täter ausrastet, wenn er sich beleidigt, gedemütigt oder erniedrigt fühlt. Als Kind durfte er nicht auf Erniedrigung reagieren, jetzt kann er es. Dass er dann prompt im Gefängnis landet, gehört zu seinem Zwang der Selbstbestrafung, denn im Grunde gibt er sich seit jeher selbst dafür die Schuld, nicht geliebt worden zu sein. Das hat er ja von klein auf gehört.

Er hat auch als gedemütigtes Kind nie lernen können, seinen starken Zorn straflos mit Worten auszudrücken, also greift er sofort zur Tat, wie er es bei seinen Eltern erfahren hat. Diese Lektion hat sein Gehirn sehr früh gespeichert, und sie ist wirksam, sobald sich der Betroffene in seiner Würde angegriffen fühlt. Da man aber die ersten, wirklichen Angreifer nicht beschuldigen darf, kommt mehr als die Hälfte der entlassenen Häftlinge wieder ins Gefängnis zurück.

Der Analytiker Frank M. Lachmann widmet in seinem Buch („Aggression verstehen und verändern“, Klett-Cotta, 2004) ein ganzes Kapitel dem Thema Serienmord und folgert, dass sich diese Menschen unserer Fähigkeit der Empathie vollkommen entziehen. Er unterscheidet zwischen dem „schuldigen“ (der Ödipus von Freud) und dem „tragischen“ Menschen (Kohut), dessen Signale in der Kindheit nicht adäquat beantwortet wurden. Für beide könne, so Lachmann, der Psychoanalytiker Empathie empfinden. Doch sowohl Serienmörder als auch etwa Hitlers Handlanger bilden für ihn eine Kategorie, die sich angeblich unserem Verständnis entziehen MUSS. Diese Verbrecher stellen nun das Böse an sich dar. (Ich weise hier noch einmal darauf hin, dass es mir nicht um Mitgefühl mit erwachsenen Sadisten geht, sondern um Verständnis für das Leiden des Kindes, das sie waren.)

Wie steht es also mit Terroranschlägen, Genoziden wie in Ruanda, in Jugoslawien und an so vielen anderen Orten jetzt in der Welt? Können wir uns vorstellen, dass Menschen sich in die Luft sprengen wollen, die in der Kindheit geliebt, beschützt und respektiert wurden? Ich kann mich nicht damit abfinden, dass man diese Menschen, die tatsächlich zu grausamen Taten fähig sind, als Ausgeburten eines abstrakten Bösen darstellt und sich weigert, die Wurzeln ihres Zerstörungszwangs in ihrer Geschichte zu suchen. Diese lassen sich nämlich ohne weiteres entdecken, wenn wir uns nicht nur über die Verbrechen des Erwachsenen, sondern auch über die in seiner Kindheit erlittene Folter entsetzen. Da gehen alle Rätsel auf. Dann stellen wir fest, dass es keinen einzigen Serien- oder Massenmörder gibt, der nicht als Kind Opfer von zahlreichen Demütigungen und seelischen Morden war. Doch um das sehen zu können, brauchen wir die Empörung, die uns im Zusammenhang mit der Kindheit gewöhnlich fehlt. Lachmanns Buch zeigt, dass nicht nur Psychiater, sondern auch Analytiker vor diesem Schritt zur Perspektive des kindlichen Leidens zurückschrecken. Für diese Blindheit bezahlt die Gesellschaft einen sehr hohen Preis. Denn könnte man dem ehemaligen Opfer helfen, sich gegen die Taten seiner Eltern aufzulehnen, würde ihm das unter Umständen genügen, um seinen Zwang, seine brutale Geschichte immer wieder unbewusst zu inszenieren, endlich aufzulösen.

Kindesmisshandlung – eine Familientradition

Wenn wir uns mit der Dynamik des Wiederholungszwanges bekannt machen, können wir ihn in allen misshandelnden Familien feststellen. Die Art des Missbrauchs, der an den Kindern verübt wird, hat oft eine lange Vorgeschichte. Die gleichen Muster der Entwürdigung, der Verwahrlosung, der Machtausübung, des Sadismus in den Familien lassen sich häufig auf mehrere Generationen zurückführen. Um dem Entsetzen ausweichen zu können, entwickelt man immer wieder neue Theorien. So haben sich z. B. einige Psychologen eine Theorie ausgedacht, nach der ihre Klienten nicht an der eigenen Kindheit leiden, sondern an den Geschichten und Problemen ihrer entfernten Vorfahren, die sie angeblich mit ihrer Erkrankung aufzulösen suchen.

Mit solchen Theorien kann man sich beruhigen, man braucht sich nicht die Kindheitshölle des Klienten vorzustellen und erspart sich die Empörung. Doch ist dies – ähnlich wie die genetische Begründung – nichts anderes als eine Flucht vor der schmerzhaften Realität. Es ist absurd, die Zunahme der Gewalt z.B. im heutigen Irak oder Genozide als Folgen destruktiver Gene zu deuten. Warum sollten plötzlich zu Hitlers oder Milosevic’s Zeiten so viele Menschen mit destruktiven Genen geboren worden sein? Und doch zögern viele Intellektuelle nicht, an solche Erklärungen zu glauben. Sie glauben an das Böse schlechthin, um sich den Schmerz darüber zu ersparen, dass zahlreiche Eltern ihre Kinder aus unbewusstem Hass quälen, unabhängig davon, mit welcher Rechtfertigung sie ihre Gewalttätigkeit tarnen. Doch das ist die Wahrheit, und wenn man sie nicht fliehen muss, kann man etwas gewinnen. Man verlässt dann den mittelalterlichen Glauben an den Teufel (die Gene), die Kette der Gewalt wird sichtbar und auch, dass sie unterbrochen werden könnte.

Sadistische Eltern sind nicht vom Himmel geschickt worden, sie wurden als Kinder ebenso sadistisch behandelt – daran besteht gar kein Zweifel. Wer das Gegenteil behauptet, will die Realität verdrängen, dass ein gequältes Kind nicht nur wie das Opfer eines Mörders einen Tod erleidet, sondern unzählige seelische Tode und Folterungen im Laufe der ersten formenden Jahre seines Lebens, und zwar seitens der Menschen, von denen es abhängig ist und die es sich nicht ersetzen kann.

In Deutschland wurde kürzlich vom Tod eines siebenjährigen Mädchens namens Jessica berichtet, das von seiner Mutter ausgehungert worden war und neun Kilogramm wog, als es starb. Die Presse bekundete Entsetzen, es wurde eine Trauerfeier veranstaltet mit Blumen, Kerzen und schönen Worten, wie es sich gehört. Tote und ungeborene Kinder werden weltweit geliebt und betrauert, nur das Leiden der lebenden Kinder immer wieder auffallend bagatellisiert. Bei der Feier und in der Presse stellte sich daher niemand die Frage, wie es dazu gekommen sei, dass eine Mutter ihr Kind verhungern lässt, dass sie über Jahre ruhig mit ansehen kann, wie sein Körper langsam abstirbt, gar nichts dabei empfindet und das Kind allein seinen Qualen überlässt.

Es fällt uns schwer, uns einen solchen Sadismus vorzustellen, obwohl wir nur sechzig Jahre von Auschwitz entfernt sind, von dem Ort, an dem man gewollt Millionen verhungern und sie auf ihren Tod warten ließ. Weder damals, noch später, noch heute stellte man sich indessen die Frage, wie es dazu kommt, dass Menschen so sadistisch WERDEN: Wie wurden sie erzogen, wie wurde ihnen die Fähigkeit genommen, sich gegen das Unrecht aufzulehnen, das grausame Tun ihrer Eltern zu erkennen und sich dagegen zu wehren? Im Gegenteil, es wurde ihnen beigebracht, jede Form von Sadismus der Eltern zu billigen. Und dies konnte ungehindert geschehen, weil jedes Kind seine Eltern lieben möchte und die Wahrheit nicht sehen will. Die Wahrheit ist zu grausam, um sie als Kind auszuhalten, also schaut das Kind weg. Doch der Körper hat nichts vergessen, und der Erwachsene praktiziert den Sadismus seiner Eltern unbewusst, wie automatisch, bei seinen Kindern, mit seinen Untergebenen, mit allen, die von ihm abhängig sind. Er weiß nicht, dass er mit anderen das gleiche macht wie seine Eltern einst mit ihm, als er vollkommen von ihnen abhängig war. Manche ahnen es und suchen therapeutische Hilfe. Doch was finden sie dort?

Therapie – Neutralität versus Parteilichkeit

In meiner Ausbildung zur Psychoanalytikerin wurde viel Wert darauf gelegt, dass der Analytiker neutral bleibt. Dies gehörte zu den Grundregeln, die seit Freud als selbstverständlich galten und streng befolgt werden mussten. Damals dachte ich noch nicht, dass diese Regel mit dem Zwang zusammenhing, die Eltern des Patienten vor jedem Vorwurf zu schützen. Meine Kollegen schienen keine Probleme mit der Wahrung der Neutralität zu haben, sie schienen nicht daran interessiert zu sein, die Qualen eines geschlagenen, gedemütigten und inzestuös ausgebeuteten Kindes nachzuempfinden. Vielleicht waren einige von ihnen ja auch Opfer solcher Qualen. Da sie aber in ihrer Lehranalyse ebenfalls mit der von Freud geforderten Neutralität behandelt worden waren, hatten sie keine Gelegenheit, ihre eigenen verleugneten Schmerzen zu entdecken. Um dazu in der Lage zu sein, hätten sie nicht einen neutralen, sondern einen parteilichen Therapeuten gebraucht, einen Begleiter, der ganz auf der Seite des einst gequälten Kindes stünde und sich über das dem einstigen Kind zugefügte Unrecht empörte, BEVOR der Klient / die Klientin selbst dazu fähig ist. Die meisten Klienten kennen nämlich am Beginn der Therapie keine Empörung. Sie erzählen zwar von Fakten, die empörend sind, aber sie fühlen dabei keine Auflehnung, nicht nur weil sie von ihren Gefühlen getrennt sind, sondern weil sie nicht wissen, dass es überhaupt andere Eltern geben kann.

Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, dass meine genuine Empörung über das, was dem Patienten oder der Patientin in seiner / ihrer Kindheit zugemutet wurde, ein wichtiges Vehikel der Therapie war. Dies lässt sich ganz besonders in Gruppen feststellen. Jemand erzählt z. B. in ruhigem Ton oder sogar lächelnd, dass er / sie als Kind im dunklen Keller für Stunden eingesperrt wurde, wenn das Kind den Eltern widersprochen hatte. In der Gruppe hört man ein Raunen der Bestürzung. Doch der Betreffende ist noch nicht so weit, er kann keine Vergleiche ziehen. Für ihn war diese Behandlung normal.

Mir sind auch Menschen begegnet, die etliche Jahre mit Primärtherapeuten gearbeitet hatten und mühelos über das in der Kindheit erfahrene Leiden weinen konnten, doch sie waren trotzdem weit davon entfernt, sich über den erfahrenen Inzest oder die perversen Prügelrituale der Eltern zu empören. Sie hielten die erfahrenen Vergewaltigungen für normale Bestandteile jeder Kindheit und meinten, die bloße Entdeckung ihrer alten Gefühle würde sie heilen. Nicht immer ist es so, jedenfalls dann nicht, wenn die starke Bindung an die unbewussten Eltern und die an sie gestellten Erwartungen weiterhin bestehen. Ich meine, dass beides nicht aufgelöst werden kann, solange der Therapeut neutral bleibt. Das ist mir in Gesprächen mit Kolleginnen aufgefallen, die korrekt mit den Klienten am Zugang zu deren Emotionen arbeiteten, aber selbst noch nicht frei waren von der Idealisierung ihrer eigenen Eltern. Sie konnten ihren Klienten erst helfen, nachdem sie ermutigt worden waren, ihre eigenen Gefühle zuzulassen und die Empörung auszudrücken, die die Perversionen der Eltern der Klienten in ihnen als Therapeuten auslösten.

Das hatte oft eine starke Wirkung, es war, als hätte man den Damm entfernt, der einen Fluss blockierte. Manchmal brachte die Empörung der Therapeutin beim Klienten seinerseits rasch eine Lawine der Empörung ins Rollen. Nicht immer war dies der Fall. Es gab Klienten, die dafür Wochen, Monate oder gar Jahre brauchten. Doch durch die Offenheit der Zeugin kam ein Prozess der Befreiung in Gang, der bisher durch die Moral der Gesellschaft blockiert war. Der Umbruch geschah dank der engagierten, freieren Haltung der Therapeutin, die dem einstigen Kind zeigen konnte, dass es über das Verhalten seiner Eltern entsetzt sein DÜRFE und dass JEDER FÜHLENDE MENSCH DARÜBER ENTSETZT WÄRE MIT AUSNAHME DESJENIGEN, DER SELBST DAS EINST GEQUÄLTE KIND WAR.

Es mag sein, dass meine Ausführungen so verstanden werden, als schriebe ich Rezepte für Therapeuten und würde ihnen raten, sich zu empören, um ihren Klienten zum Durchbruch zu verhelfen. Das wäre ein großes Missverständnis. Ich kann niemandem raten, Gefühle zu haben, die er nicht hat, und niemand kann solche Ratschläge befolgen. Ich nehme aber an, dass es Therapeuten gibt, die ehrlich darüber empört sind, wenn sie vom skandalösen Verhalten der Eltern ihrer Klienten erfahren. Es ist durchaus möglich, dass manche von ihnen meinen, sie dürften ihrer Empörung keinen Ausdruck verleihen, weil sie in der Ausbildung gelernt haben, dies müsse auf jeden Fall unterbleiben. Innerhalb der Freudschen Schule haben sie sogar gelernt, ihre Gefühle als Gegenübertragung aufzufassen, d. h. als bloße Reaktionen auf die Gefühle des Klienten. So sind sie daran gewöhnt, ihre eigenen Gefühle, ihre verständliche, einfache Reaktion auf Grausamkeit, weder wahrzunehmen noch auszudrücken.

In einer solchen Therapie bleibt der Klient in seiner kindlichen Angst befangen und wagt es nicht, seine befreienden Emotionen zum Ausdruck zu bringen und seinen Zorn, seine Empörung als eine normale Reaktion auf Grausamkeit und Perversion zu erleben. So möchte ich hier Therapeuten ermutigen, ihren eigenen Gefühlen zu folgen, diese nicht als Gegenübertragung zu missdeuten, sondern sie ernst zu nehmen, zu ihnen zu stehen und sie zu artikulieren. Es wird ihnen leichter fallen, die Empörung zuzulassen, weil sie nicht Kinder dieser Eltern waren und im Gegensatz zu ihren Klienten eher die Möglichkeit haben, eine bestimmte Form der Perversion nicht als normales Verhalten zu bewerten. Jeder Therapeut kann die Wahrheit meiner Behauptungen selbst überprüfen. Auf keinen Fall würde ich ihm raten, etwas anzuwenden, was nicht seinen Gefühlen entspricht und wovon er nicht selber aus eigener Erfahrung überzeugt ist.

Die allgemeine Tendenz, dem Gefühl der Empörung auszuweichen, ist verständlich, denn dieses Gefühl kann leicht die Empfindung der kindlichen Ohnmacht auslösen und die Erinnerungen an die Zeit, in der mancher von uns ausweglos dem Sadismus der Erwachsenen ausgeliefert war und sich nicht wehren durfte. Dass auch ich trotz all meiner Bemühungen von dieser Tendenz zur Flucht nicht frei bin, wurde mir kürzlich durch einen Leserbrief bewusst. Die Leserin schrieb, dass ihre Tochter bei einem telefonischen Notdienst für Opfer ritueller Kindesmisshandlungen arbeitet und dort erfahren hat, dass in einzelnen Fällen Kinder gezwungen wurden, Babys umzubringen. Ich wurde darauf aufmerksam, dass ich in „Das verbannte Wissen“ geschrieben hatte, das gefolterte Kind glaube, es habe das Baby in sich umgebracht, als es verpflichtet war, zu lügen und zu schweigen. Doch offenbar ist es nicht ausgeschlossen, dass man Kinder im Rahmen perverser Rituale tatsächlich zwingt, Babys zu töten, wie man sie auch bisweilen nötigt, Tiere zu quälen.

Es ist begreiflich, dass wir am liebsten nichts davon hören möchten und Menschen, die so handeln, eher als Monster ansehen wollen. Da wir aber heute zunehmend mit terroristischen Gewalttaten konfrontiert sind, können wir es uns nicht leisten, Perverse zu dämonisieren, und nicht verstehen zu wollen, wie sie zu Sadisten gemacht wurden. Denn die Produktion der Perversion setzt sich ungehindert fort. Wenn wir nicht lernen, diese Zusammenhänge zu durchschauen und die Eltern an der Ausübung ihrer perversen Erziehungspraktiken zu hindern, wird die künftige Menschheit an ihrer verblüffenden Ignoranz zugrunde gehen.

Alice Miller.

zum Weiterlesen: Frenzy (der angeführte Artikel von Thomas Gruner).