von Alice Miller
Über den Missbrauch des Vertrauens in der Therapie
Saturday 01 May 2004
Ich wurde vor kurzem mit einer Geschichte konfrontiert, die mich dazu bewogen hat, auf Dinge einzugehen, die vielleicht für die meisten Therapeuten selbstverständlich sind, aber offenbar nicht für alle, auch nicht für manche, die den besten Ruf genießen.
Es scheint mir selbstverständlich, dass jeder Patient das Recht auf die absolute Diskretion seines Therapeuten hat. Die Gesetzgebung schützt dieses Recht sehr klar und eindeutig: Es ist verboten, Informationen an andere zu geben, die man in der Rolle des Therapeuten erhalten hat.
Trotz dieses klaren Verbotes geschieht es leider hier und da, dass das Gesetz missachtet, dass der Therapeut sogar wie von einem Zwang zur Indiskretion getrieben oder das Verbot aus welchen Gründen auch immer ignoriert wird. Er wird selten zur Rechenschaft gezogen, weil seine Patienten, falls sie überhaupt vom Verrat erfahren, gar nicht auf den Gedanken kommen, ihn anzuklagen. Sie verhalten sich wie kleine Kinder, die ihre Eltern nicht beschuldigen dürfen und lieber wegschauen und verdrängen als realisieren wollen, dass ihnen ein Unrecht geschehen ist. Auch in krassen Fällen, wenn sie gehört haben, dass ihr Therapeut bereits vor Gericht gestanden hat, drücken sie die Augen zu, um die Hoffnung auf Hilfe nicht zu verlieren.
Ein ernsthafter Therapeut indessen, der sich seiner wahren Gefühle bewusst ist, wird das Vertrauen seiner Patienten wie ein kostbares Geschenk erachten und es niemals wie ein Stück Ware behandeln, dessen man sich nach Belieben bedienen darf. Wenn es ihm passiert, dass er einmal kopflos oder unachtsam gehandelt hat, wird er sich bei der Person entschuldigen, deren Vertrauen er verraten hat, weil er weiß, dass man einen Fehler nur dann wieder gut machen kann, wenn man ihn zugibt und ihn nicht leugnet. Auf keinen Fall wird er versuchen, jemandem einzureden, dass die Indiskretion notwendig war, um einem anderen Patienten zu helfen. Er wird wissen, dass eine solche Heuchelei seine ganze Arbeit in Frage stellen würde.
Denn es gibt keine halbe Redlichkeit. Entweder ist man redlich oder man ist es nicht. Der Patient sollte nicht darüber getäuscht werden, wie er dies in der Kindheit so lange wurde. Er vertraute jahrelang Menschen, die seines Vertrauens nicht würdig waren und wagte dies sein Leben lang nicht zu sehen, weil diese Einsicht sehr schmerzhaft war. Ein Therapeut sollte niemals von dieser Geschichte seiner Patienten und dessen Toleranz profitieren. Er schuldet ihnen allen die volle Glaubwürdigkeit und Diskretion.
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