von Alice Miller
Zum Film “Mummy Dearest”
(Meine liebste Rabenmutter)
Monday 01 March 2004
Vor einigen Tagen sah ich im Sender ARTE den alten Film “Mummy Dearest” (Meine liebste Rabenmutter) über die Schauspielerin Joan Crawford, gestaltet nach dem Buch ihrer Tochter Christina Crawford, das ich vor 20 Jahren gelesen hatte. Schon damals wollte ich aufzeigen, wie konsequent die ganze Umgebung und zahlreiche Beteiligten schweigend dem Martyrium des Kindes und der Jugendlichen zugesehen hatten, ohne sie auch nur ein einziges Mal in Schutz zu nehmen. Die Ehegatten der Mutter, die Bediensteten des Hauses, die Lehrer in der Schule hatten alle Gelegenheit zu sehen, wie die berühmte Schauspielerin ihre Tochter quälte, bedrohte, misshandelte, folterte, demütigte, ausnutzte, ohne jemals der Mutter Grenzen zu setzen, ohne sie jemals anzuklagen, ohne jemals etwas zu unternehmen, um das Kind zu retten. Schon vor 20 Jahren war ich über diese Haltung der Gesellschaft tief empört und ich kann mich noch erinnern, das ich in Interviews viel darüber gesprochen habe.
Doch jetzt, nachdem ich den Film zum ersten mal gesehen habe, sehe ich ihn auch als Illustration zu meinem letzten Buch und zum Artikel “Körper und Moral”. Am Ende des Filmes steht nämlich Christina mit Tränen in den Augen vor dem Totenbett ihrer Mutter und sagt: „Ich habe dich immer geliebt, du hast so gelitten, und nun bist du von diesem Leiden befreit.“ Diese Szene zeigt so deutlich die Tragik der misshandelten Kinder. Ihr eigenes Leid gilt für sie gar nicht. Was die Eltern und die Gesellschaft getan haben, als sie ihr Leiden ignorierten, haben sie so stark verinnerlicht, dass sie nur mit den Eltern Mitleid fühlen können, aber kein Mitgefühl für das Kind haben, das sie einst waren.. Das nennen wir alle Liebe.
Doch was war diese „Liebe“ anderes als die endlose Erwartung, die Mutter würde sich ändern, als das endlose Warten auf eine zuverlässige Zuwendung, auf beruhigende Zärtlichkeit, auf das Ende von Angst und Lüge? Dieses Warten auf Liebe ist keine Liebe. Auch wenn es immer so genannt wird.
Christina gehört zu den großen Ausnahmen, die fähig waren, ihre Wahrheit darzustellen und die Mutter so zu zeigen, wie sie war und wie sie mit ihr umgegangen ist. Trotzdem sagt sie am Schluss „Ich habe dich immer geliebt“, weil sie dieses Warten mit Liebe verwechselt. Zum Glück konnte sie sich von diesem Warten befreien und ein für sie und andere sinnvolles Leben gerade dank der Erkenntnis der Wahrheit aufbauen. Aber sehr viele misshandelte Kinder, die das Warten mit Liebe verwechseln, sind in Gefahr, mit Hilfe der eigenen Kinder oder Patienten oder Untergebenen den Mangel an Liebe auffüllen zu wollen. Daher scheint es mir wichtig, dass wir von dieser Verwechslung wegkommen. Warten auf Liebe ist keine Liebe, es ist eine Bindung, die uns oft die Empathie für unser eigenes Leiden verunmöglicht und daher zu ausbeuterischen Haltungen führt, wie dies am Beispiel der Schauspielerin Joan Crawford so deutlich wird. Sie ist grausam mit ihrer Tochter, weil sie unbewusst lebt. Sie kann schreien und weinen und um Mitleid betteln, kann aber nicht verstehen, dass sie die Tochter ausbeutet, weil sie ihre Eltern schont, weil sie sie in der gleichen Art „geliebt“ hat, wie andere misshandelte Kinder ihre Eltern lieben. Es ist eine sehr destruktive Bindung, deren Dynamik wir verstehen können und müssten, um ihren Klauen zu entkommen.
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