Saddam Hussein und die Kardinäle

von Alice Miller

Saddam Hussein und die Kardinäle
Thursday 01 January 2004

Die Lektüre eines Artikels von Henryk M. Broder in der online-Ausgabe des Spiegels vom 22.12.2003 http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,279468,00.html hat mich dazu veranlasst, ebenfalls einen Beitrag zu schreiben. Das Original können Sie in der online-Ausgabe des Spiegels vom 12.1.2004 http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,281109,00.html lesen, hier eine gekürzte Fassung:

Saddam Hussein und die Kardinäle
(Mitleid mit dem Vater)

Kurz nach der Verhaftung von Saddam Hussein, die viele Menschen mit großer Erleichterung aufnahmen, häuften sich plötzlich weltweit auch Stimmen des Mitleids mit dem skrupellosen, bisher gefürchteten Tyrannen. Anscheinend genügte es bereits, dass er keine Gefahr mehr darstellte, um sogar Mitleid zu erregen. Weil der Hass da am größten ist, wo wir uns von einer Person bedroht, also von ihrer Willkür abhängig fühlen. Wenn dieses Machtverhältnis sich ändert, verschwindet der Hass. Und jeder fühlt sich natürlich besser, wenn er sich von diesem bedrückenden Gefühl befreien kann.
Doch meines Erachtens können wir in unserem Urteil über Tyrannen nicht einfach vom normalen Mitgefühl für den einzelnen Menschen ausgehen und dabei seine Taten vergessen. Besonders wenn der Despot noch am Leben ist, dürfen wir nicht außer acht lassen, mit welcher Leichtigkeit dieser Mann Menschen hinrichten ließ, sobald es ihm beliebte. Es lässt sich nachweisen, dass sich der Charakter eines Tyrannen im Laufe seines Lebens nicht verändert, dass er seine Macht auf destruktive Weise missbraucht, solange ihm kein Widerstand entgegen gesetzt wird oder solange er jeden möglichen Widerstand im Keim ersticken kann. Denn sein eigentliches, unbewusstes, hinter allen bewussten Aktivitäten verborgenes Ziel bleibt unverändert: die in der Kindheit erfahrenen und verleugneten Demütigungen mit Hilfe der Macht ungeschehen zu machen. Da dies aber nie erreicht werden kann, weil sich das Vergangene nicht auslöschen und auch nicht bewältigen lässt, solange man sein damaliges Leiden leugnet, ist das Unterfangen eines Diktators zum Scheitern im Wiederholungszwang verurteilt. Immer neue Opfer müssen dafür den Preis zahlen.
Hitler führte der ganzen Welt vor, durch sein eigenes Verhalten, wie sein Vater mit ihm als Kind umgegangen war: vernichtend, erbarmungslos, protzig, rücksichtslos, prahlerisch, pervers, selbstverliebt, kurzsichtig und dumm. Durch seine unbewusste Imitation blieb er ihm treu. Aus dem gleichen Grund verhielten sich sehr ähnlich Diktatoren wie Stalin, Mussolini, Franco, Ceausescu, Idi Amin, Saddam Hussein und so viele andere. Saddams Biographie ist ja geradezu ein Paradebeispiel der extremen Demütigung eines Kindes, für die später Abertausende als Opfer seiner Rache mit ihrem Leben bezahlen mussten. Die Weigerung, endlich aus diesen Tatsachen zu lernen, erscheint zwar grotesk, doch deren Gründe liegen auf der Hand. Der skrupellose Tyrann mobilisiert nämlich die verdrängten Ängste der einst geschlagenen Kinder, die ihren Vater niemals anklagen konnten, auch heute nicht können, und die ihren Vätern trotz der erlittenen Qualen die Treue halten. Jeder Tyrann versinnbildlicht diesen Vater, an dem man mit allen Fäden hängt, in der Hoffnung, ihn einmal, mit Hilfe der eigenen Blindheit, in einen liebenden Menschen verwandeln zu können.
Diese Hoffnung mag die Vertreter der katholischen Kirche dazu bewogen haben, Mitleid für Hussein zu demonstrieren. Ich hatte sie vor zwei Jahren um Unterstützung ersucht, als ich dem Vatikan das Material über Spätschäden des Kinderschlagens vorlegte und um eine diesbezügliche Aufklärung bei den jungen Eltern bat. Es gelang mir damals bei keinem der Kardinäle, die ich angeschrieben hatte, eine Spur von Interesse für das weltweit ignorierte, aber brennende Problem der geschlagenen Kinder zu wecken. Auch nicht das geringste Zeichen der christlichen Barmherzigkeit kam zum Vorschein. Sie zeigen aber heute unmissverständlich, dass sie zwar des Erbarmens fähig sind, doch bezeichnenderweise weder für geschlagene Kinder noch für Saddams Opfer; sondern für ihn selbst, für eine skrupellose Vaterfigur, die der gefürchtete Despot symbolisiert.
Geschlagene, gequälte, gedemütigte Kinder, denen kein helfender Zeuge jemals Beistand, entwickeln in der Regel später eine große Toleranz für die Grausamkeiten der Elternfiguren und offenbar eine auffallende Gleichgültigkeit, was das Leiden misshandelter Kinder betrifft. Dass sie einst selber zu ihnen gehörten, wollen sie auf keinen Fall wissen, und die Gleichgültigkeit schützt sie davor, die Augen zu öffnen.
So werden sie zu Anwälten des Bösen, auch wenn sie noch so sehr von ihren humanen Absichten überzeugt sind. Aber wie sollten sie ihre Wahrheit entdecken? Von klein auf mussten sie lernen, ihre wahren Gefühle zu unterdrücken und zu ignorieren; sie mussten lernen, sich nicht diesen Gefühlen, sondern einzig den Vorschriften der Eltern, Lehrer und kirchlicher Autoritäten anzuvertrauen. Nun lassen ihnen ihre Aufgaben des Erwachsenen keine Zeit für das Wahrnehmen ihrer eigenen Gefühle mehr übrig. Es sei denn, diese passen genau in das patriarchalische Wertsystem, in dem sie leben: wie das Mitleid mit dem Vater, sei er noch so destruktiv und gefährlich. Je umfangreicher die Verbrechen eines Tyrannen, desto mehr kann er auf Toleranz zählen, solange den Bewunderern der Zugang zum Leiden ihrer eigenen Kindheit hermetisch verschlossen bleibt.

Alice Miller.

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