von Thomas Gruner
Perversion und Gesellschaft, Teil 1
Wednesday 30 June 2004
Perversion und Gesellschaft
Über das Leben im Paradies
Vorspann: Einige Fragen an mich selbst und die Antworten
Glaubst du, dass alle Menschen oder alle Politiker pervers sind? Nein. – Glaubst du, dass jeder Mensch in der Kindheit misshandelt und missbraucht wurde? Auf keinen Fall, aber viele Menschen sind auf die eine oder andere Art davon betroffen. – Kannst du dir nicht vorstellen, dass es doch Eltern gibt, die ihre Kinder lieben? Das kann ich mir nicht nur vorstellen, davon bin ich überzeugt. – Dürfen Eltern keine Fehler machen? Ich rede doch nicht von Fehlern. Ich rede von Vernachlässigung, Gewalt oder Inzest. – Meinst du, dass jeder in der Kindheit misshandelte Mensch pervers wird? Nein, nicht zwangsläufig. Ich meine, dass jeder Mensch, der später eine Perversion ausbildet, in der Kindheit von körperlicher oder seelischer Gewalt betroffen war. Das kann man nachweisen. – Bist du der Meinung, dass alle Menschen, die eine Perversion entwickelt haben, faschistoid sind? Überhaupt nicht, es ist nur schwer anzuzweifeln, dass der faschistoide Charakter in jedem Fall auch ein perverser, nämlich ein sadistischer ist. – Ist es kein Fortschritt, dass die blutigen Diktaturen Europas durch die westlichen Demokratien abgelöst wurden? Ja, sicher, aber eine Gesellschaft braucht doch mehr, um überleben zu können, als die Minimalübereinkunft, andere beispielsweise nicht zu vergasen. Es gibt keinen Grund, sich damit zu brüsten. – Interpretierst du die Perversion als Menetekel für den Untergang des Planeten, für Dekadenz oder moralische Verfehlung, als Sünde? In keiner Weise. Die Perversion ist ein Symptom für etwas, das ist alles. – Glaubst du, dass man ein politisches Zeitereignis wie etwa den Krieg im Irak mit der Kindheit der Entscheidungsträger erklären kann? Jedes Ereignis steht in einem historischen, ökonomischen und politischen Kontext. Es gibt viele Ursachen und viele Wirkungen. Wenn ein einzelner Mensch selbstzerstörerische Tendenzen entwickelt und keine Alternative sucht oder findet, hat dies mit den ersten Erfahrungen in der Kindheit zu tun. Das Destruktive kann auf die Gesellschaft zurück wirken, wenn die zerstörerischen Impulse von einer hinreichenden Anzahl Menschen geteilt und auch im Rahmen der Politik oder der Ökonomie wirksam werden. – Wären alle Probleme gelöst, wenn Kinder nicht mehr geschlagen oder missbraucht würden? Ich vermute, dass bestimmte gravierende Probleme in der Form nicht existieren würden oder die Menschen wären in der Lage, sie zu lösen. Ein Paradies auf Erden kann es natürlich nicht geben. – Willst du die Welt erklären? Ich habe nicht vor, irgendjemandem irgendetwas zu erklären. Ich will über etwas nachdenken, das mich interessiert. Ich will nicht nur wissen, wer ich bin, ich will auch wissen, wo ich lebe.
… aber warum solle es nicht eine Chance für eine ganze Kultur sein, wenn es möglichst viele ihrer Mitglieder wagen können, der eigenen Wahrheit ohne Angst ins Gesicht zu sehen?
Christa Wolf
1 „Wir fanden, es sah lustig aus. Deshalb wurden die Fotos gemacht.“
(Lynndie England, Militärpolizistin, 21 Jahre, zur Entstehung eines Polit-Pornos)
Als in den vergangenen Wochen Bilder der von amerikanischen und britischen Soldatinnen und Soldaten vergewaltigten und gedemütigten irakischen Gefangenen in den Medien erschienen, äußerten sich auf der Straße befragte Bürger verschiedener Nationen schockiert und kommentierten das Geschehen manchmal kurz und bündig: Was sie da sehen würden, erschiene ihnen pervers, meinten die Menschen.
Auch Politiker der westlichen Staaten zeigten eine gewisse Irritation. Ihre verlegenen Gesichter mochten eine Erklärungsnot zum Ausdruck bringen, denn immerhin hatten sie ihren Wählern jahrelang gepredigt, diese lebten in der besten aller Welten, allenthalben herrschten Freiheit und Demokratie, sogar in einem solchen Überfluss, dass diese Werte gleich in sämtliche Regionen des Globus exportiert werden müssten, auch wenn die dort lebenden Menschen nicht das mindeste Bedürfnis nach der westlichen Variante dieses hehren Exportgutes verspürten. Und wer nicht so recht glauben könne, dass er im Paradies lebe, sei eben ein Feind sowohl der Freiheit als auch der Demokratie oder, was wohl dasselbe bedeuten soll, anti-amerikanisch. Nun aber zeigte sich eine bemerkenswerte Sprachlosigkeit derer, die sich selbst als die gesellschaftliche Elite bezeichnen. Üblicherweise verfügen Minister, Kanzler und Präsidenten über einen Tross unterbezahlter akademischer Hilfskräfte, die ihnen jedes in der Öffentlichkeit geäußerte Wort zuvor sorgfältig aufschreiben und mit viel Mühe einstudieren müssen. Nun sah es so aus, als ob jene Souffleure kollektiv zur selben Zeit krank feiern würden. Zu hören war nämlich lediglich ein mehr oder weniger peinliches Gestammel über Abscheu und Aufklärungsbedarf. Der britische Premierminister verkündete nach der Art sehr kleiner Kinder, die sich die Hand vor das Gesicht halten und glauben, man könne sie nun nicht mehr sehen: Das haben wir nicht gemacht, das waren wir gar nicht. Der amerikanische Präsident sagte, wie sein Verteidigungsminister, ahnungslos etwas sehr Bedeutungsvolles: Das sind nicht wir; so sind wir nicht.
Glücklicherweise haben wir die Medien und ihre allwissenden Kommentatoren, die uns die Welt immer so aufschlussreich erklären. Was lesen und hören wir? In jedem Menschen lebe ein Tier, eine Bestie, die vermutlich insbesondere in Kriegszeiten aus einem Schlummer erwache, ihr Unwesen treibe und sich pünktlich mit dem Ende der Kampfhandlungen wieder zur Ruhe begebe. Jetzt wissen wir alles und sind mehr als erschöpfend aufgeklärt. Oder doch nicht?
Ich stimme denen zu, die meinen, die auf den Bildern dargestellten Quälereien und Erniedrigungen seien pervers. Der Politprominenz der Vereinigten Staaten kann ich hingegen nicht zustimmen, sondern stehe im Gegenteil vor der Frage: Halten uns diese Bilder, jedem Einzelnen wie der Gesellschaft, nicht einen Spiegel vor? Was sehen wir in diesen Bildern über uns selbst? Was sagen diese Bilder über den Zustand des gesellschaftlichen Systems aus, in dem wir leben?
Bislang wurde das sogenannte, aber niemals definierte „Böse“ immer außerhalb gefunden und bekämpft: sehr selten in rechtsextremistischen Folterdiktaturen, immer im Kommunismus und neuerdings, seitdem dieser fast gänzlich verschwunden ist, im Islam. Nun scheint aber „das Böse“ gleichsam wie ein Bumerang auf uns zurückgekommen zu sein, es ist plötzlich in unserer Mitte. „Das Böse“ kann nicht mehr ideologisiert werden. Dies war für mich der Auslöser über die durch die Bilder entlarvten Perversionen scheinbar „normaler“, rechtschaffener Bürger und Angehöriger einer „demokratischen“ Armee intensiver nachzudenken.
Zunächst: Was ist auf den Bildern zu sehen? Nackte männliche Gefangene werden zu gegenseitigen sexuellen Handlungen gezwungen. Männliche Bewacher urinieren auf die ihnen ausgelieferten Männer. Gefangene Männer müssen sich nackt in verschiedene sexuelle Posen begeben; sie werden gezwungen zu onanieren. Alle Gefangenen wurden ihrer Persönlichkeit, ihrer Identität beraubt, indem man ihnen Plastiksäcke über die Köpfe stülpte. Für ihre Peiniger hatten sie also kein Gesicht mehr. Man sieht ebenfalls Bewacher, die hingegen ihr Gesicht zeigen, und sich selbstbewusst, ein wenig aufgegeilt, mit ihren Gefangenen fotografieren ließen, ein Phänomen, das seit den nationalsozialistischen Konzentrationslagern keineswegs neu ist.
Ferner sagen inzwischen freigelassene Opfer der Misshandlungen aus, man habe sie gezwungen, ihre Nahrung aus verschmutzen Toilettenbecken zu sich zu nehmen oder die Schuhe bzw. Stiefel ihrer Bewacher zu lecken.
Besonders wurden von den Medien jene Bilder aufgegriffen, die eine junge Soldatin zeigen: ein kleines, wenig weiblich, dafür sehr unscheinbar wirkendes Geschöpf. Mal zerrt sie einen nackten, am Boden liegenden Gefangenen an einer Hundeleine und wirkt noch so, als ob sie über die Macht, die ihr als Frau plötzlich zuteil wurde, selbst überrascht sei. Dann aber ist sie schon kecker zu sehen: Mit Kippe im Mund grinst sie in die Kamera und zeigt auf die Geschlechtsteile der männliche Gefangenen, als wolle sie mit einer Pistole abdrücken. Gleichwohl scheint ihr der Anblick der vielen männlichen Geschlechtsteile doch noch nicht ganz geheuer zu sein.
Was fangen wir an mit der auf diesen Bildern gezeigten Realität? Es erscheint mir sinnvoll, diese Realität auf ihren Aussagewert hin zu überprüfen.
Ich persönlich muss sagen, dass ich in diesen Bildern nichts Neues entdecken kann. In erster Linie sehe ich auf diesen Bildern Pornographie mit einem Inhalt, der nicht jedem, aber der Mehrheit pornographischer Erzeugnisse eigen ist: eine Inszenierung, und zwar eine spezielle, nämlich die Inszenierung des sexuellen Missbrauchs durch Mächtige an Ohnmächtigen. Deswegen bin ich der Auffassung, dass diese Bilder Perversionen dokumentieren. Pornographie will ja auch etwas zeigen, das der Betrachter nicht jeden Tag zu sehen bekommt, denn würde er es täglich sehen können, müsste er kein Geld für pornographische Erzeugnisse ausgeben. Pornographie zeigt unter anderem etwas, das bislang heimlich, im Verborgenen ausgeübt wurde oder der Gegenstand heimlicher, nicht offen geäußerter Wünsche war, in aller Offenheit, Schonungslosigkeit, sozusagen im hellen Tageslicht. Da dem Begriff Perversion landläufig die Nebenbedeutung des Verbotenen anhaftet, eignen sich Perversionen (auch ökonomisch) vorzüglich für die Darstellung im Rahmen der Pornographie.
Sicherlich gibt es die sogenannten „Edel-Pornos“, die in der Regel gut trainierte junge Körper bei eher herkömmlichen sexuellen Aktivitäten zeigen. Wirtschaftlich interessanter sind aber jene Produkte im Rahmen der Pornoindustrie, die einen ausgefalleneren Geschmack bedienen. Man hört oft, dass auf Freiwilligkeit beruhende sexuelle Handlungen welcher Form auch immer unproblematisch seien. Die irakischen Gefangenen wurden hingegen gezwungen, sie mussten sich auf verschiedene Art und Weise sexuell erniedrigen lassen, sie hatten keine Wahl. Gerade dies zeichnet aber auch den Charakter des florierendsten Zweigs der Pornoindustrie aus: der Kinderpornographie. Die Kinderpornographie zeigt die Inszenierung der Macht eines Erwachsenen über den ohnmächtigen Körper eines Kindes. Dieses Kind ist kein Individuum mehr, es ist seiner Menschlichkeit beraubt, es ist Gegenstand der Begierde, auch der Neugierde des Erwachsenen. Das Kind ist reduziert auf seine Geschlechtsteile. Der kindliche Körper erscheint in den verschiedensten Posen; Kinder und Jugendliche werden zu sexuellen Handlungen mit Erwachsenen oder zu gegenseitigen sexuellen Handlungen genötigt. Ich finde, dass der Kern, der Aussagewert der Kinderpornographie dem der Bilder der inhaftierten irakischen Männer entspricht. Da es sich bei der Kinderpornographie und –prostitution weltweit um einen ungemein boomenden Erwerbszweig handelt, sind sie ebenso alltäglich wie der Inhalt der Inszenierungen der amerikanischen Militärs mit ihren Gefangenen.
Nicht alltäglich, sondern überraschend scheint für die Öffentlichkeit das Erscheinen perverser Inszenierungen im Rahmen des Gesellschaftlichen, des Politischen zu sein. Die pornographischen Inszenierungen in Bagdad beseitigen die Illusion, dass das Perverse lediglich eine private Angelegenheit einzelner Individuen sei. Sie enthüllen einen Zusammenhang zwischen Perversion und Macht, genauer zwischen Perversion und Politik. Inzwischen haben Beteiligte und Zeugen der Misshandlungen ausgesagt, dass diese mit Wissen und Billigung auch der höchsten Entscheidungsträger stattfanden; diesem Thema hat unlängst u.a. der TV-Sender Arte eine ausführliche Dokumentation gewidmet.
Das besondere Interesse der Öffentlichkeit an der jungen Lynndie England scheint ferner die Verblüffung darüber zum Ausdruck zu bringen, dass auch eine Frau an den sexuellen und nicht-sexuellen Misshandlungen im Irak beteiligt war. Hinter dieser Verblüffung verbirgt sich offenbar die Frage: Ist es denkbar, dass auch eine Frau pervers ist? Gibt es also perverse Frauen? Hat die Frau in Gestalt der 21-jährigen Lynndie England nun ihre ewige Unschuld verloren?
Wir hören schließlich, dass das bislang veröffentlichte Material lediglich die Spitze des Eisberges darstelle, das wahre Ausmaß wolle und könne man der Öffentlichkeit nicht zumuten, insbesondere die Dokumentation analer Vergewaltigungen der männlichen Gefangenen durch männliche Angehörige der „Koalition der Freiheit“. Homosexuelle Übergriffe wurden auf den Bildern aber bereits sichtbar. Nicht nur in der amerikanischen Armee gelten diese Handlungen als besonders verpönt und ehrenrührig. Nun scheint deutlich zu werden, dass die Hochburg der Heterosexualität wie ein Kartenhaus zusammenbricht. Vermutlich besteht ein enger Zusammenhang zwischen Perversion und Heuchelei, und es fragt sich, unter welchen Umständen erklärtermaßen heterosexuelle Männer scheinbar plötzlich ein Interesse an den Geschlechtsteilen, Körperöffnungen und am Beobachten gleichgeschlechtlicher sexueller Aktivitäten ihrer Geschlechtsgenossen entdecken. Nicht dass dieses Interesse am Ende schon immer da gewesen ist. Bewahre.
Werden Kinderpornographie und Kindesmissbrauch aufgedeckt, äußern sich die Täter sehr häufig nach folgendem Muster: Es sei gar nichts geschehen, sie hätten eigentlich nichts gemacht, und wenn doch etwas geschehen sei, habe dies keine Bedeutung, es handele sich um einen Ausrutscher, zufällig sei man in eine mehr oder weniger schmuddelige Angelegenheit hineingeraten. Involvierte Frauen artikulieren in aller Regel: Ich habe gar nichts getan und wenn ich etwas getan habe, dann wurde ich von Männern dazu gezwungen.
Als Lynndie England über ihre Beteiligung an den Misshandlungen befragt wurde, meinte sie, sie habe wirklich nichts gemacht, was man auf den Bildern sehe, sei gar nicht geschehen und wenn es doch geschehen sei, dann habe sie auf Befehl von Vorgesetzten gehandelt und außerdem sei sie schwanger. Ihre Schwester Destiny erscheint im Fernsehen und verlautbart: Alles, was man sehe, sei gar nicht wahr, es könne auch nicht wahr sein, denn Lynndie sei ein ganz normaler Mensch, ihre ganze Familie sei völlig normal. Das, was jedermann sehen kann, ist also scheinbar gar nicht vorhanden.
Die Angehörigen der internationalen Politik argumentieren sehr ähnlich: Man habe eine Unmenge an Material gefunden, aber alles, was sich ereignet habe, sei ein singulärer Vorfall, es könne sich nur um Einzelfälle handeln, weil es so etwas eigentlich überhaupt nicht gebe, auch wenn die Fülle der Enthüllungen für die Öffentlichkeit eine Zumutung sei. In Groß-Britannien findet die seltsame Logik einen Höhepunkt: Die Bilder seien gefälscht, britische Soldaten würden niemals Gefangene misshandeln, und die Soldaten, die Gefangene unter der Folter getötet hätten, würden angeklagt, auch wenn man nicht so genau wisse, dass jemand unter der Folter zu Tode gekommen sei. Der amerikanische Außenminister fliegt nach Bagdad, besichtigt den Tatort, ordnet die Freilassung von etlichen hundert Inhaftierten an, die noch wenige Augenblicke zuvor als die ganze Welt bedrohende Terroristen galten, und verbietet Foltermethoden, die es angeblich nie gab, die nie jemand angeordnet hat, von denen nie jemand wusste. Der deutsche Außenminister reist in die Vereinigten Staaten und sagt eigentlich gar nichts, nur, meint er ungefähr, in Ordnung sei das alles nicht.
Man bekommt den Eindruck, dass sich die politischen Entscheidungsträger ertappt fühlen. Anders ließe sich ihre Verlegenheit und ihre hektische Betriebsamkeit nicht erklären. Nicht die Folter und die Erniedrigungen sind das Schlimme, sondern die Aufdeckung derselben. Peinlich eben.
Ein mir bekannter Psychologe arbeitete einige Zeit in einer Einrichtung, die missbrauchenden Vätern Therapie anbietet. Er berichtete mir einmal anonymisiert von einem Vater, 40 Jahre alt, der von seinen kleinen fünfjährigen Zwillingstöchtern pornographische Fotos angefertigt hatte. In der Therapie sagt der Vater, er habe wirklich nichts gemacht, lediglich seine Töchter fotografiert. Darauf hingewiesen, dass seine Töchter auf den Fotographien unbekleidet und in durchaus obszönen Posen zu sehen sind, findet der Mann, dass diese Bilder lediglich zufällig entstanden seien. Das habe nichts zu bedeuten. Mit der Tatsache konfrontiert, dass die Bilder die Vagina und den Anus seiner Töchter in Großaufnahme zeigen, dass zu sehen ist, wie er selbst die Finger in die Vagina und den Anus seiner kleinen Töchter praktiziert, äußert der Vater spontan: Das habe er so nicht gemeint. Befragt, warum er seine Töchter fotografiert und ob er sexuelle Erregung dabei empfunden habe, sagt er: Aber nein, es hat keinen besonderen Grund, keinen besonderen Anlass für die Fotos gegeben. Ob er nicht beim Anblick der Vagina seiner kleinen Töchtern sexuell stimuliert sei, will der Therapeut noch einmal wissen. Nein, antwortet der Mann, sicher nicht, sie sind ja noch Kinder. Warum er dann Abzüge der Bilder männlichen Bekannten zur Verfügung gestellt habe, wodurch schließlich der Missbrauch aufgedeckt wurde? – Ja, daran kann ich mich nun nicht mehr erinnern.
Ich sehe die große Ähnlichkeit der Reaktion und Argumentation auf den aufgedeckten privaten sexuellen Missbrauch und den aufgedeckten sexuellen Missbrauch im Rahmen der Politik. Ich finde durchaus ein gemeinsames Muster. Wenn Kinder, verhört durch die Eltern, sich aus Angst vor Strafe in unlogische Argumente und offenkundige Unwahrheiten verstricken, auf denen sie dennoch beharren müssen, in der Hoffnung der Strafe zu entgehen, ist das mehr als verständlich und vor allem auch altersangemessen. Wenn Erwachsene ähnlich verfahren, muss man wohl oder übel von einer mentalen Beschädigung ausgehen und eine mehr oder weniger ausgeprägte Infantilität vermuten. (Übrigens: Gerade Politiker müssen sich vor Enthüllungen nicht fürchten. Vielleicht müssen sie von ihrem Amt zurück treten, aber doch nur, um sogleich einen wesentlich höher dotierten „Job“ in der Wirtschaft zu erhalten. Von den sogenannten Ruhegeldern ganz zu schweigen.) Ich finde also einen Zusammenhang zwischen Perversion und Infantilität auf der einen, aber auch einen innigen Zusammenhang zwischen Politik, Perversion und Infantilität auf der anderen Seite.
Lynndie England äußerte in einer Befragung, sie habe „lustig“ gefunden, wenn sie sich mit den erniedrigten Gefangenen fotografieren ließ. Dies ist keine erstaunliche Bemerkung, denn sie dokumentiert durch die Bagatellisierung lediglich die völlige Abspaltung von ihren Emotionen. England’s Äußerung enthüllt aber noch mehr. Sie und ihre Kollegen müssen sich sehr sicher gewesen sein, nicht belangt zu werden, sozusagen in einem allgemeinen Konsens zu handeln. Vor allem berührt sie einen entscheidenden Aspekt: Pornographische Inszenierungen des sexuellen Missbrauchs enthalten und erzeugen für den Konsumenten einen „Kick“. Es lohnt sich, diesen „Kick“ sehr genau anzusehen. Ich werde darauf noch zurück kommen.
In den Medien wird hauptsächlich die Folterung der Gefangenen skandalisiert. Es ist zutreffend, dass die veröffentlichten Bilder unter anderem auch körperliche und seelische Folter beweisen, aber in erster Linie sind sie ein Dokument des sexuellen Missbrauchs, der sicher auch Folter ist. Mir fiel nur auf, dass im Zuge der allgemeinen Diskussion die Dinge nur sehr selten beim Namen genannt werden. Die öffentliche Diskussion verschleiert letztlich eher, als zu einer Aufklärung beizutragen.
Lynndie England stammt, so konnte man lesen, aus ärmlichen Verhältnissen; eigentlich hatte sie studieren wollen, landete aber vor ihrer militärischen Laufbahn in einem Hühnerschlachthof. Offenbar soll suggeriert werden, dass es einen Zusammenhang zwischen nicht konformem Verhalten und Armut gebe. Vielleicht wäre es interessant, wenn sich Journalisten sehr genau mit der Familiengeschichte der Misshandler beschäftigen würden. Ein Mensch wird nicht einfach pervers geboren, sondern er wird sehr früh pervers gemacht. Da, was leicht zu zeigen ist, viele Menschen von Perversionen betroffen sind, muss diese Tatsache eine Rückwirkung auf die Gesellschaft haben; logischerweise gibt es keinen gesellschaftlichen Bereich, der in diesem Zusammenhang ausgeklammert werden könnte. Die Perversion als Massenphänomen sagt also etwas aus über den Zustand unserer Kultur. Anders formuliert: Es ist überfällig, die Verfassung wenigstens unserer (westlichen) Gesellschaften im Licht dieses Massenphänomens zu beschreiben.
Dies ist in einem Artikel natürlich nicht zu leisten, ich möchte im Folgenden jedoch zeigen, dass und wie die Perversion unseren Alltag durchdrungen hat.
Um zu verstehen, welche Funktion die Perversionen erfüllen und welche Botschaften sie vermitteln, ist es für mich kaum hilfreich, auf die Theorien der unterschiedlichen psychotherapeutischen Schulen zurück zu greifen. Die verschiedenen klassischen psychoanalytischen Erklärungsansätze seit Freud weisen zwar auf den feindseligen, gegen die Mutter gerichteten Charakter der Perversion hin, verlieren sich aber im Obskuren, indem sie die spätere Perversion als Fehlleistung des fast ausnahmslos männlichen Kindes beschreiben, das den sogenannten ödipalen Konflikt nicht bewältigen konnte und (wie sehr oft deutlich wird) aus angeblicher Verwöhntheit auch nicht wollte. Die psychoanalytischen Theorien sind also vielmehr ein recht unverblümter Ausdruck der Feindseligkeit des Therapeuten gegenüber dem Kind, das der Patient einmal war.
Der Realität näher kommt der primärtherapeutische Erklärungsversuch (den sich vor einem anderen Hintergrund inzwischen auch modernere Analytiker zu eigen gemacht haben) insbesondere bei Arthur Janov, der anhand der Praxis belegt, dass die Perversion ein Agieren darstelle, welches die Sexualität lediglich als Mittel benutze, um starke, unbewusste Emotionen zu vermeiden. Sobald diese Gefühle bewusst wahrgenommen und ausgedrückt werden könnten, sei die Perversion verschwunden. Janov hat hier auf etwas oberflächliche und reduzierte Weise eine Funktion der Perversion beschrieben, ohne sehr viel von ihrer Entstehung und stummen Sprache verstanden zu haben. Dies mag daran liegen, dass seine Publikationen eher der Werbung für sein „Therapie-Imperium“ als der Herstellung von Realität dienen.
Die Psychiatrie oder Psychopathologie verwickelt sich in der Regel in Widersprüche: Ein Zusammenhang zwischen der Perversion des Erwachsenen und seiner Kindheit sei nicht nachweisbar, gleichwohl finde die psychosexuelle Entwicklung eines Menschen in der frühesten Kindheit statt, sei später kaum noch zu verändern und allenfalls durch verhaltenstherapeutische Konditionierungen zu variieren.
Schließlich gibt es noch die These, die sich aktuell größter Beliebtheit erfreut, weil sie jede unangenehme Frage vom Tisch wischt und die individuelle Lebensgeschichte negiert: Perversionen seien wie die Depression und andere seelische Leidenszustände genetisch bedingt, ein unausweichliches Schicksal also.
Dem Begriff des Perversen wird gerne der des Normalen gegenüber gestellt. Der Vorstellung, was gut und schlecht oder böse, gesund und krank sei, sind auch die Psychotherapien verhaftet. Die Psychotherapie als Institution versucht seit jeher, in irgendeiner Weise abweichendes Verhalten zu begradigen. Das bezeichnet sie als Heilung. Sigmund Freud hat im negativen Sinne folgenschwere Theorien in die Welt gesetzt, untern denen bis heute Patienten leiden müssen. Allerdings kann man feststellen, dass er zumindest die Breite menschlicher Sexualität und die Perversion beschrieben und diskutiert hat, ohne moralisch zu argumentieren oder zu werten. Dieser Haltung schließe ich mich an. Es wäre sinnlos, Lynndie England und ihren Kollegen moralische Vorhaltungen zu machen. Die Moral kann eine Perversion nicht außer Kraft setzen, ebenso wenig ein juristisches Verbot. So ist der sexuelle Missbrauch von Kindern in vielen Ländern gesetzlich untersagt, wird aber bekanntlich ausgesprochen rege praktiziert. Ich meine, man sollte eine Perversion ansehen und beschreiben, um die Geschichte, die sie in verschlüsselter Form erzählt, verstehen zu können. Dabei ist es sinnvoll, Menschen zu Wort kommen zu lassen, die sich ihrer Perversion bewusst wurden und immerhin unter ihr leiden. Ich habe in den vergangenen zehn Jahren einige Male in unterschiedlichen Zusammenhängen erlebt, dass Männer und Frauen den seltenen Versuch unternahmen, über ihre Perversionen zu sprechen. Das hat mir erheblich mehr erklärt als die Fülle der Fachliteratur. Glücklicherweise konnten diese Menschen eine Verbindung zwischen ihrer Perversion und ihrer Kindheit entdecken und verstehen. So kann ich mir den Versuch ersparen, über die veröffentlichten Bilder Rückschlüsse auf die mir unbekannte Biographie der missbrauchenden Soldaten sowie der ihrer Vorgesetzten ziehen zu wollen. Die keineswegs verblüffende Übereinstimmung zwischen den authentischen Beschreibungen Betroffener und der Missbrauchsinszenierung im Irak wird unmittelbar deutlich.
Ich kann nicht definieren, was „normal“ sei. Eine solche Definition interessiert mich nicht. Mich interessiert auch nicht, welche sexuellen Praktiken der christliche Gott, der Prophet, der Papst oder Arthur Janov und seine Kollegen für statthaft oder verpönt halten. Mich interessiert aber der Punkt, an dem private Übereinkünfte innerhalb sexueller Kontakte in selbstzerstörerische oder andere zerstörende Handlungen umschlagen und damit zwangsläufig einen Einfluss auf die gesamte Gesellschaft erhalten. Mich interessiert, warum das so ist und warum das auch gar nicht anders sein kann.
Landläufig wird das Wort pervers gerne mit dem Begriff abartig gleichgesetzt. Diese letztlich ideologische Zuordnung ist falsch. Der Begriff pervers stammt vom lateinischen „perversus“ und bedeutet ursprünglich: „verdreht, umgekehrt“. Es liegt nahe, sich die Frage zu stellen, was in einem Menschen verdreht ist oder besser, verdreht wurde und wodurch dies geschah.
Die Vorstellung, welche sexuellen Praktiken konform seien oder nicht, ist ständigen Veränderungen unterworfen. Was noch vor einigen Jahrzehnten als pervers galt, ist heute common sense und fällt unter die Kategorie „Blümchensex“.
Weil die Übergriffe im Irak in erster Linie Perversionen dokumentieren, ist mein Ansatz also ein anderer: Ich möchte der stummen Sprache der perversen Inszenierung genauer zuhören, um sie als Sprache des einstigen Kindes verstehen zu können, das den Perversionen der Eltern ohnmächtig ausgeliefert war. Diese stumme Sprache hat, wie auch die Pornographie, etwas Schonungsloses, so dass man ihr nur mit ebenso schonungslosen, eindeutigen Worten begegnen kann.
2 „M, Ende 30, gut aussehend, will von Paar (M u. W) ab ca. 60 als Sexspielzeug benutzt werden. Euer Wille ist mir Befehl.“
(Eine Kontaktanzeige in einem Berliner Stadtmagazin: Perversion und Alltag)
Es ist schon länger her, dass in einem privaten Fernsehsender Deutschlands zu später Stunde eine Prostituierte sehr freizügig gekleidet, im vorgerückten Alter und mit erheblicher Leibesfülle eine Talk-Show moderierte. Zuschauer konnten sie anrufen und über ihre sexuellen Vorlieben plaudern. Selten stand das Telefon des Studios still. Männer jeden Alters riefen an; einige beschimpften die Frau als „dreckige Nutte“, wenige wünschten ihr die „Vergasung“, die meisten wollten das Gespräch am liebsten gar nicht beenden. Alle Männer waren aber von dem speziellen Habitus dieser Frau ganz offenbar auf je unterschiedliche Weise stark beeindruckt.
Die Anrufer brachten immer wieder zum Ausdruck, dass sie den Typ Frau, den die Dame repräsentierte, schon sehr lange gesucht hätten, kaum sei ihnen eine Frau begegnet, die dem gesuchten Idealbild so sehr entspreche. Ob sie denn auch „härteren“ Sex praktiziere, wurde immer wieder gefragt, ob sie, die Prostituierte, eventuell bereit wäre, die Männer mit verschiedenen Gegenständen zu schlagen, an einer Leine wie einen Hund durch ihr Studio zu dirigieren, ob sie auch „versaut reden“, die Männer mehr oder weniger in der Fäkalsprache beschimpfen würde, denn, so die Anrufer, von „0815-Sex“ seien sie inzwischen bedient, den könnten sie ja immer haben. Na klar doch, hauchte die Prostituierte ins Telefon und gab sich sexuell stimuliert, sie mache einfach alles von „zart bis hart“, sei ausgesprochen „experimentierfreudig“, sie kenne keine Tabus: „Erlaubt ist, was gefällt“.
Diese Plattitüden mag ein junger Mann zum Anlass genommen haben, noch detaillierter und präziser über seine sexuellen Wünsche zu sprechen. Immer habe er Probleme gehabt, erzählte er, mit gleichaltrigen Frauen sexuell zu verkehren, dabei langweile er sich nämlich und es sei folglich sehr schwer für ihn, überhaupt eine Erektion zu bekommen. Lange habe er sich seiner sexuellen Phantasien geschämt, sich für „abartig“ gehalten, bis es ihm endlich gelungen sei, seine „wahren Bedürfnisse“ zu akzeptieren, die, wie er genau wisse, schon immer da gewesen seien. „Jetzt endlich“, sagte der Mann, „kann ich zu mir stehen, Scham habe ich gar nicht mehr, ich fühle mich so befreit“, und er berichtete weiter, dass er keine Zärtlichkeit brauche, „dieses Geschmuse“ ihm vielmehr auf die Nerven gehe, eine Beziehung wolle er gar nicht, er lebe gerne allein, reden könne er mit Freunden und Freundinnen bei einem Bier in der Kneipe, dazu brauche er keine Partnerin. Was er sich wünsche, sei „ganz einfach knallharter Sex“, bei dem es wirklich zur Sache gehe, „kein Vorspiel, kein Nachspiel, kein unnötiges Gerede, vor allem keine Tabus“. Die Prostituierte lächelte verständnisinnig und wollte genauer wissen, was er sich denn vorstelle unter „knallhartem Sex“. – „Ich suche eine Frau, die viel älter ist als ich, sie sollte einige Pfunde mitbringen, mit diesem Schlankheits- und Jugendwahn kann ich nichts anfangen. Ich kann mir vorstellen, zu dir zu kommen und du befiehlst mir, dass ich mich ausziehen muss. Ich möchte, dass du sehr streng zu mir bist, dass du mich züchtigen und abstrafen wirst. Ich muss mich bücken und du schlägst mich mit meinem eigenen Gürtel, es darf ruhig etwas bluten, aber nicht zu sehr. Ich liebe das Gefühl, beherrscht und bestraft zu werden, mich macht die Verbindung zwischen Schmerz und Lust einfach geil. Das ist für mich Orgasmus, meistens komme ich dann schon, da muss ich mich nicht einmal selbst anfassen.“ Und noch einmal: „Ich finde das einfach geil.“ „Aber das ist es doch auch“, die Dame produzierte einen Augenaufschlag, „und ich finde es ganz super, wie du zu deiner Lust stehen kannst?“
Die Frau beendete schließlich ihre Sendung, nicht ohne zu bedauern, dass so wenige Menschen „ihre Geilheit“ akzeptieren würden, da sei noch viel zu tun, deswegen liebe sie ihren Beruf und sie liebe auch die Anrufer.
Es ist nicht erforderlich, den kommerziellen Sex-Markt oder einschlägige Magazine zu konsultieren, es reicht aus, eine beliebige, ganz seriöse Programmzeitschrift einer beliebigen größeren Stadt aufzuschlagen, um unter den verschiedenen Gesuchen in der Rubrik „Kontakte“ stets sehr ähnliche Wünsche zu entdecken. Was auch immer im Einzelnen gesucht wird, die verwendeten Vokabeln sind fast ausnahmslos identisch und tauchen immer wieder auf: „Strafe, Bestrafung, Abstrafung, Erziehungsspiele, Hiebe, Züchtigung, Abrichtung, Erniedrigung, Demütigung, Benutzung“, manchmal kaschiert durch die Begriffe „Dominanz und Unterwerfung“. Unbedingt soll die gesuchte Person über ein sehr genau beschriebenes äußeres Erscheinungsbild verfügen, das nahezu keine Abweichungen duldet; entscheidend ist sehr oft auch ein erheblicher Altersunterschied. Im Regelfall wird keine Partnerschaft angestrebt, durchaus aber ein „Dauerkontakt“, jedoch „ohne Anlaufzeit“, seltener werden explizit familiäre Bezüge hergestellt. So schreibt ein junger Mann, der sich als „Boy, 29 Jahre alt“ vorstellt, in einer Berliner Stadtzeitung, er suche einen Mann „ab 60 Jahre“, „Opatyp“, der ihn zwinge, sich zu entkleiden, in die Badewanne stecke, seinen Anus und seinen Penis wasche, ihn dabei ohrfeige und beschimpfe und hernach nötige, ihn oral zu befriedigen. Eindeutig drücken auch einige homosexuelle Männer ihre Sehnsucht nach einem „Daddy-Typ“ aus, der sie „konsequent und ohne Tabus“ erziehen möge.
Dem Wunsch nach Demütigung, körperlicher Züchtigung und Beherrschung korrespondiert auf der anderen Seite die Suche nach einer Person, die, je nach sexueller Orientierung, über ein knaben- oder mädchenhaftes Äußeres verfügen und erheblich jünger sein soll, sowie „fügsam, gehorsam, gefügig, willig, brav, unterwürfig, devot“, gerne „unerfahren“, in jedem Falle ohne Körperbehaarung („rasiert“), „belastbar“, das heißt schmerztolerant. Auch hier wird zuweilen ausdrücklich auf „Vater/Sohn-„ respektive „Vater/Tochter-Spiele“ oder die Suche nach dem „Typ kleine Lolita“ hingewiesen.
Dass es in diesem Zusammenhang keineswegs um die konkrete, aktuelle sexuelle Befriedigung gehen muss, sondern vielmehr die Inszenierung der Erziehung, der Bestrafung, also ein Ritual, im Vordergrund stehen kann, dokumentiert anschaulich etwa das Dauerinserat eines „Erziehers“ im Alter von 50 Jahren wiederum in einer Berliner Stadtzeitung: „Suche junge M u. W, 18 bis maximal 20 J., die sich von mir auf meinem Dachboden mit Riemen, Peitsche, Stock auf den nackten Hintern schlagen lassen. Kein Sex, gutes TG [Taschengeld] möglich“.
Die Inszenierung des Strafens und Bestraft-, des Erniedrigens und Erniedrigt-Werdens beinhaltet ausdrücklich zahlreiche Details, wie das Fesseln und Knebeln, das Verbinden der Augen, das Anschreien und verbale Beschimpfen, das Lecken von Schuhen und Stiefeln. Gesucht werden vielfach Kandidaten männlichen und weiblichen Geschlechts, die das Attribut „zeigefreudig“ für sich in Anspruch nehmen können, sich „bloßstellen, entblößen, zur Schau stellen, obszön posieren, sich begutachten, untersuchen, fotografieren lassen“ (respektive umgekehrt). Sehr häufig taucht die Phantasie auf, die in einer etwas skurrilen Vornehmheit mit den Substantiven „Natursekt und Kaviar“ umschrieben wird und schon von Freud sehr sachlich diskutiert wurde. Ein zentraler Bestandteil oder auch Mittelpunkt des Rituals der Erniedrigung ist für viele Menschen der Wunsch, die Ausscheidungen flüssiger oder fester Konsistenz ihrer Sexualpartner und –partnerinnen zu sich zu nehmen bzw. „sich anpissen, anpinkeln, einsauen, vollsauen“ oder sich „zur Sau machen“ zu lassen. Der Vorgang des Ausscheidens und die Ausscheidungsprodukte haben offenbar vielfach eine große Bedeutung. Diese Wünsche können sich ebenfalls von konkreten sexuellen Handlungen ablösen und in der sprachlichen Formulierung mehr oder weniger direkt erneut eine Assoziation zu frühen Kindheit herstellen. So erscheint in einer Berliner Stadtzeitung mehrfach das Gesuch eines Mannes „40 J.“ mit folgendem Inhalt: „suche dom. [dominant] W nicht unter 50, schwergewichtig, große Brüste, die mich windelt u. mich auspeitscht, wenn die Windel voll ist. Kein Sex, Honorar mögl.“.
Dass sich manche Menschen jenseits der Sexualität und ihrer sexuellen Orientierung nur noch als Container der Ausscheidungs- oder Abfallprodukte anderer begreifen, könnte folgendes bündig formulierte Inserat nahe legen: „Mittelalterlicher Mann dient als mobile Toilette für M u. W, keine finanz. Interessen“.
Eindeutige Assoziationen bietet zusammenfassend folgender Text: „M, Ende 30, gut aussehend, will von Paar (M u. W) ab ca. 60 als Sexspielzeug benutzt werden. Euer Wille ist mir Befehl.“
Ich erinnere mich an einen Dokumentarfilm, der 1989 in einem Berliner Programmkino gezeigt wurde. Ein junger Mann, Ende 20, wurde mit der Kamera begleitet und erzählte ohne Scheu, wie er sein Leben ganz als Diener seiner jeweiligen Herren und Herrinnen ausgerichtet habe, von denen er sich mit Schlägen traktieren und als „Toilettensklave“ „abrichten“ ließ. Dies war der Mittelpunkt seiner Existenz. Besonders ist mir eine Szene im Gedächtnis geblieben: Der Mann kauerte nackt und angekettet auf dem Fußboden, während er auf die Verdauungsprodukte seiner jungen Herrin wartete, die ihm bald in einem Hundefressnapf vorgesetzt wurden. „Für mich ist es befreiend gewesen,“ meinte er ausgerechnet in dieser Haltung, „ich bin stolz darauf, dass ich zu meinen Bedürfnissen stehen kann und finde, dieses Thema darf kein Tabu mehr sein.“
Der Film kam an dem Tag ins Programm, als in Berlin die Mauer geöffnet wurde und die Freiheit westlicher Provenienz über das spätere ostdeutsche Beitrittsgebiet hereinbrach. Dies war sicherlich Zufall, entbehrte aber nicht einer gewissen sinisteren Komik. Es handelte sich hierbei in keiner Weise um Pornographie, der Film war informierend, sogar aufklärend gemeint. Das Kino war trotz der aufwühlenden Zeitereignisse ausgesprochen gut besetzt. Ich musste damals auch an das Schlagwort der „von der Liebe befreiten Sexualität“ denken, dessen sich dann wieder viele homosexuelle Männer so sehr rühmen.
Diese Inserate und die in ihnen dokumentierten sexuellen Wünsche sind weder Einzel- noch Extremfälle, sondern alltäglich und weit verbreitet. Andernfalls wäre es auch unmöglich, dass ein kompletter Industriezweig von ihnen profitiert. (Übrigens wird in diesem Zusammenhang nicht zuletzt immer wieder offenbar, wie stark homosexuelle Wünsche auch bei Familienvätern ausgeprägt sind. Dies belegte bereits in den 40iger Jahren der sogenannte „Kinsey-Report“ in den USA. Man kann also in keiner Weise behaupten, die gleichgeschlechtliche Orientierung sei die Angelegenheit einer gesellschaftlichen Minderheit.) Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen, dass ich keineswegs die Auffassung vertrete, Sexualität könne oder dürfe nur im Rahmen einer festen Partnerschaft, ausschließlich mit demselben Partner, derselben Partnerin, nur zwischen Menschen verschiedenen Geschlechts oder lediglich zum Zweck der Zeugung eines Kindes stattfinden. Das wäre lächerlich. Ich kann auf die von mir erwähnten Inserate weder empört, angewidert, amüsiert noch gehässig reagieren. Für mich sind diese Gesuche gerade in ihrer Kürze und notwendigen Klarheit auch Träger von indirekten Botschaften und diesen gilt mein Interesse.
Die Botschaft besteht für mich in einem Bild, in einer Momentaufnahme: Ein sehr kleines Kind wird auf gewalttätige Art und Weise immer wieder von den Eltern kujoniert, die ihren Spaß dabei haben, die Lust erleben, weil sie nun endlich ein Wesen gefunden haben, das sie nach Belieben unterwerfen und gefügig machen, dessen Körper sie bis in alle intimen Funktionen unter ihre ständige Kontrolle bringen können. Ein Kind ist gezwungen, die Züchtigungen, die es erfährt, als angemessen und gerechtfertigt zu empfinden, um sich die Existenz der Eltern zu bewahren. Die Unterwerfung wird, wenn sie häufig genug stattfindet, zur Normalität, Alltäglichkeit. Aus den vom Kind so sehr gefürchteten Schlägen, werden im Laufe einer Biographie geliebte und ersehnte Schläge. Der Körper erzählt zwanghaft die Geschichte der frühesten Erfahrungen eines Kindes, die vom Erwachsenen aber nicht verstanden wird, weil die seltsame Lust von Mutter oder Vater in ihn eingegangen ist, den Körper vollständig besetzt hält. Man kann auch sagen, dass die kujonierenden Eltern weiterhin ihr Unwesen im erwachsenen Menschen treiben, nach wie vor die Regie über das Leben übernehmen. Wie sonst sollte es möglich sein, dass jemand, der gerade gefesselt und geschlagen wird, davon spricht, nun endlich seine Freiheit gefunden zu haben. Vielleicht sind dabei Menschen, die sich in die Rolle des Leidenden, Erduldenden phantasieren, der Realität ihrer Kindheit noch näher, als jene, deren Selbstbild vollständig mit den aggressiven Eltern verschmolzen zu sein scheint.
Man mag sich diesen Gedankengängen anschließen oder nicht, einleuchtend werden sie jedenfalls für mich durch die Tatsache, dass immer eine Assoziationsmöglichkeit zu einem Eltern-Kind-Verhältnis nahe liegt. Stets wird eine Person mit einem sehr genauen und entweder der Eltern- oder Kindfigur entsprechenden äußeren Erscheinungsbild gesucht, der Altersunterschied ist oft erheblich und das verwendete Vokabular ist nur allzu bekannt, es entstammt ohne Ausnahme der „Schwarzen Pädagogik“. Ich habe mich bewusst auf Inhalte konzentriert, die relativ leicht einen Bezug zur Kindheit sichtbar machen können und zugleich faktische Ähnlichkeiten mit den Misshandlungen im Irak aufweisen. Damit möchte ich die Menschen, die beispielsweise entsprechende Kontaktanzeigen aufgaben, nicht mit den misshandelnden Militärs, von denen ich in meinen Überlegungen ausging, gleich setzen. Ich halte es allerdings für bedeutsam, dass die enthüllten Inszenierungen im Irak Gegenstand der sexuellen Phantasien und Praktiken vieler Menschen sind. Warum also sollte es erstaunlich sein, dass Soldaten und Soldatinnen einer westlichen Armee sowie diejenigen, die ihnen spezielle Verhörmethoden nahe legen und diese entwickeln, nicht ebensolche sexuellen Wünsche haben, die sie nun (was ich für entscheidend halte) in einer realen und nicht im Rollenspiel vereinbarten Misshandlungs- und Erniedrigungssituation umsetzen können. Die Erniedrigung muss nicht mehr nur phantasiert oder gespielt werden, jetzt endlich kann man sie in der Tat praktizieren.
Anzeigen in seriösen Zeitschriften müssen sich sprachlich wie inhaltlich immer noch an gewisse Gepflogenheiten halten. Hier sind es auch überwiegend Männer, die sich auf die Suche begeben, wie sie sich ihre besonderen Wünsche erfüllen könnten. Das Internet bietet aber durch den Schutz seiner Anonymität und seine Unkontrollierbarkeit ein Feld für ganz offen vorgetragene sexuelle Obsessionen, die sehr deutlich machen, von welchen Zwängen viele Menschen unserer Gesellschaft, Männer wie Frauen, besetzt sind. Hier wird dann der Zusammenhang zum sexuellen Missbrauch und zur körperlichen Misshandlung des Kindes durch die Eltern offener artikuliert und somit evident. Jeder Mensch, der über einen Internetzugang verfügt, kann dies mühelos nachprüfen.
Das Internet als „Hauptumschlagplatz“ gewerblicher und nicht-gewerblicher Kinderpornographie im strafrechtlichen Sinne wird gelegentlich in der Öffentlichkeit diskutiert. Auch außerhalb der aktuellen juristischen Tragweite offenbaren die Kommunikationsmöglichkeiten des Mediums, wie stimulierend die Vorstellung, mit einem Kind sexuell zu verkehren oder es zu demütigen und zu schlagen, offenbar ist. Der Anblick eines unbekleideten Kindes besonders in der Vorpubertät ist für viele Männer und Frauen anscheinend unglaublich erregend.
Allein der Anbieter Yahoo verfügt über zahlreiche Gruppen, die angeblich Kindern und Jugendlichen ein Forum für ihre verschiedensten Interessen eröffnen sollen. Diese Interessen sind recht eindeutig: „Freikörperkultur“ bzw. „FKK“, verbunden mit der Bitte an die Kinder, diverse Fotos von sich einzusenden, auf denen sie unbekleidet zu sehen sind; Austauschmöglichkeiten über sexuelle Fragen und Erfahrungen; Kontaktforen für Kinder und Jugendliche, teilweise nach Geschlechtern getrennt. Dass hier eher eine Stimulation für Erwachsenenphantasien geschaffen wurde, liegt auf der Hand.
Vor allem sprechen die Themen der im gesamten Internet von Nutzern immer wieder eingerichteten und frei zugänglichen Chat-Räume für sich: „Inzest“, „VaterundSohn“, „SohnaufMutter“, „BruderundSchwester“, „MutterundTochtergesucht“, „PapisSuesse“, „RohrstockfuerKids“, „freieEltern“, „strengeEltern“, „FamilienFKK“, „Teenies“, „nurbis7jahre“, „winzigeMuschi“, „Susi12Jbrauchtes“ – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Ein hohes Erregungspotential kommt offensichtlich auch der Vorstellung des erzwungenen sexuellen Verkehrs von Frauen und Mädchen mit Tieren zu, was folgende häufig auftauchende Raumnamen plausibel machen: „vonHundgenommen“, „tierliebesiegesucht“.
Alle diese Räume werden in hohem Maße frequentiert und belegen sowohl die Wurzel als auch den zentralen Inhalt der Perversion. Dabei drängt sich mir die Frage auf: Sind wir eine pädophile Gesellschaft?
Der Kern der Perversion ist nicht nur (ob in der Phantasie oder der Realität) das Erniedrigen und Zufügen von Schmerz, das Brechen des Willens, das vielfältige Benutzen eines Körpers, sondern vermutlich ausnahmslos gebunden an das frühe, sehr konkrete Verhältnis zwischen Eltern und Kind. Dies dokumentieren die Inszenierungen im Rahmen der Perversion teils verschlüsselt oder symbolisch, sehr oft aber auch eindeutig und unmittelbar. Für die der Perversion immanente Botschaft spielt es dabei keine Rolle, ob die Inszenierung lediglich phantasiert oder in die Tat umgesetzt wird.
Deutlich wurde bereits, dass die Inszenierung sehr häufig bestimmter Gegenstände und Kleidungstücke bedarf. Der „Fetisch“ hat als magisches Objekt ursprünglich eine religiöse Bedeutung; hier verstärkt und symbolisiert er das Gefüge, das System von Macht und Ohnmacht, Unterwerfung und Demütigung, von Terrorisierung und Angst. Der Fetisch kann aber auch als Medium dienen, über die herkömmlichen Praktiken der Selbstbefriedigung hinaus eine angstfreie Sexualität ohne jede Bindung, Beziehung, ohne Kontakt und die Anwesenheit eines anderen Menschen zu ermöglich. Kann man in diesem Fall von einer Art autistischer Sexualität sprechen, der eine große Furcht vor Nähe zugrunde liegt? Und wenn das so ist, wer hat auf welche Art und Weise das Kind derartig geängstigt, dass der Erwachsene später keine Nähe mehr ertragen kann? Auf diese Fragen brachte mich eine vor wenigen Tagen im Fernsehen ausgestrahlte Dokumentation über „sexuelle Abweichungen“. Ein Mann berichtete, dass er sich mittels eines sehr speziellen Gegenstandes „Orgasmen“ verschaffen könne, die er im Kontakt mit einer Frau niemals erlebe. Diese Entdeckung habe ihn unabhängig von Beziehungen gemacht, er müsse auch nicht mehr nach Kontakten suchen, der Fetisch stärke seine Autonomie und Freiheit. „Warum sollte ich auf die Lust verzichten, die ich auf diese Weise erreichen kann?“, fragte der Mann. Ich habe immer gedacht, dass die Perversion sehr oft einsam macht, aber dieser Mann schien in keiner Weise so zu empfinden. Im Gegenteil: Offenbar hatte er für irgendetwas eine ideale Lösung gefunden.
Ein Kind ist mit einem Vater oder einer Mutter konfrontiert, die es mit Schlägen bedrohen, durch Anschreien in Panik versetzen, durch verbale Beleidigungen und erniedrigende Züchtigungen etwa mit Gegenständen auf das nackte Gesäß demütigen. Die Eltern machen das Kind zum Container, zum Mülleimer ihrer frei flottierenden Aggressionen. Das Kind erleidet Höllenqualen, es vergeht kaum ein Tag, an dem es nicht ständig Angst vor den Schmerzen der körperlichen Züchtigung haben muss. Wo der Erwachsene vielleicht noch notgedrungen die Zähne zusammen beißen könnte, wird der kindliche Körper von Schmerz überflutet. Ein Kind muss durch die physische Stärke der Eltern das Gefühl haben, es werde umgebracht. Das Kind weiß nicht, wann der Vater oder die Mutter die Züchtigung beenden. Es weiß nur, dass es jederzeit für jeden beliebigen Vorfall, den die Eltern als Vergehen erachten, mit Schlägen rechnen muss. Ist schon der sogenannte „Klapps“ eine Demütigung, so sind die mit Stöcken, Kleiderbügeln, Küchenutensilien verabreichten Prügel nichts anderes als Folter. Ein größeres Kind wird darüber nachdenken, wie es die Wut der Eltern vermeiden kann. Es wird aber die Erfahrung machen, dass diese Wut, was auch immer das Kind unterlässt, wie sehr es sich auch bemühen mag, nicht erlischt. Der Furor der misshandelnden Eltern ist zumindest als Bedrohung stets allgegenwärtig. Das Kind leidet unter den Schmerzen, es fühlt sich wie Unrat, nichtswürdig, erbärmlich, falsch, vielfach wäre es lieber tot, sein Leben ist zur Hölle geworden.
Aber auch Eltern, die ihr Kind nicht schlagen, sondern es mit Worten und Gesten in beschämende, entwertende, erniedrigende Situationen bringen, Eltern, die dem Kind immer wieder zeigen, dass sie es nicht leiden können, dass es unerwünscht, überflüssig, lästig ist, vermitteln dieselbe Botschaft: Wer bist du schon, du hast kein Recht auf deine Existenz; so wie du bist, bist du unerträglich, eine Quelle ständigen Missbehagens. Bist du eigentlich nicht viel mehr als ein Haufen Kot?
Ein Vater, der seine Tochter nicht penetriert, sondern lediglich mit Blicken verfolgt oder zufällig, zufällig beim Spiel oder im Badezimmer die Vagina seiner kleinen Tochter immer wieder berührt („kille, kille, was ist schon dabei“), vermittelt ohne Worte die Botschaft: Du bist ein Gegenstand, ein Stück Fleisch, du machst mich geil. Ich kann mit dir nichts anfangen, aber dein kleiner Körper ist die unerschöpfliche Quelle meiner Gier, deshalb darfst du existieren. Geschieht etwas Besonderes? Die lustigen, spaßigen spielerischen Berührungen des Vaters wird das kleine Mädchen weder deuten noch einordnen oder reflektieren können. Papa hat seine kleine Prinzessin ja nur lieb. Aber der Körper des Mädchens registriert auf einer ganz anderen Ebene jeden Vorgang, er registriert den geilen, den gierigen Blick des Vaters, der eingeht in den Körper der Tochter, die sich mit eben diesen Augen sehen muss. Der gierige und stets entwertende Blick des Vaters wird zu dem Blick, mit dem sich die Tochter in Zukunft und oft auch für immer wahrnehmen wird: Meine Existenzberechtigung ist deine Gier, mich selbst gibt s doch gar nicht.
Eine Mutter herzt ihren kleinen Sohn. Lachend spielt sie beim Baden oder Anziehen mit seinem Penis. Wie lustig dieser kleine „Schnulli“, „Pimmel“, „Pippimann“, das „Pimmelchen, Schniedelchen, Schwänzchen“ doch ist. Wie besorgt diese Mutter scheinbar um das Wohlergehen des Sohnes ist, indem sie eifrig die Vorhaut vor und zurück schiebt. Wie sie den kleinen Penis ihres Sohnes doch stimulieren, manipulieren, kontrollieren kann. Sie muss diesen kindlichen Penis in keiner Weise fürchten, er kann ihr nichts antun, ist gar nicht bedrohlich. Doch welches Bild wird sie ihrem kleinen Sohn vermitteln von seiner Männlichkeit, von seinem Geschlecht? Gilt ihm, dem Sohn, ihre volle Aufmerksamkeit, findet sie an dem Kind Gefallen, Vergnügen oder an seinem Penis, der zu ihrem Spielzeug geworden ist?
Der Sohn wird notgedrungen die lustigen Spielchen, den Spaß der Mutter als den seinen empfinden müssen, denn wie könnte ein Kind ertragen, dass es ein „Nichts“ ist, das ihm die Seele abgesprochen wird, dass es in den Augen der Mutter, ein Gegenstand ist, ein Objekt, ein Ding, dass es für seine Sehnsucht, ganz einfach geliebt zu werden und glücklich zu sein, keine Chance gibt. Der kleine Junge lebt in der Hölle, aber er ist gezwungen, diese Hölle als Paradies zu betrachten.
Ob dieser Junge später dem Ekel vor der Mutter dadurch zu entgehen sucht, indem er den sexuellen Kontakt mit Männern vorzieht, oder etwa in Chaträumen, Pornokinos, am Stammtisch gemeinsam mit anderen Männern über „die dreckigen Fotzen“ herzieht, denen man „es mal so richtig besorgen müsste“, mag auch von dem Bild abhängen, das der Vater von sich, von Männlichkeit vermittelt hat. War er schwach und hilflos, stand selbst unter der Knute der Mutter, konnte dem Sohn keinen Schutz bieten und hinterließ eine lebenslange Sehnsucht, oder präsentierte er sich cholerisch, laut, gewalttätig als Patriarch und somit innerhalb der Familie seine reale Macht, die der Sohn aus Furcht bewundern musste?
Eine Mutter bekommt ein Kind und ist vom ersten Tag seines Lebens an fortwährend um die Ausscheidungen dieses Kindes besorgt, sie kontrolliert ständig den Körper, zeigt dem Baby ihren Abscheu vor den natürlichsten Körperfunktionen, bestraft das Kind, wenn es diese nicht kontrollieren kann, gerät außer sich und vermittelt dem Kind: Was ich deinen Ausscheidungen gegenüber empfinde, empfinde ich deinem Körper, also dir gegenüber, dem kleinen Wesen, das du bist. Der Erwachsene kann sich an diese sehr frühen Erfahrungen selbst beim besten Willen nicht erinnern, was bleibt ihm übrig, als sie immer wieder zu inszenieren. Er mag der jetzt alten Mutter sogar zugetan sein, aber der Körper erzählt immer wieder die Botschaft: Schau doch, wie sie wirklich zu dir war, sieh doch, wie ihre wahren Gefühle für dich gewesen sind. Diese Frau war ein Monster. Sie hat dich im wahrsten Sinne des Wortes für Scheiße gehalten.
Das Verdrehte der Perversion wird sehr deutlich. Aus der einstigen Angst und dem Schmerz werden scheinbare Lust, aus dem Ekel angebliches Vergnügen. Der Terror war für das Kind so alltäglich, dass der Erwachsene ihn nicht wahrnehmen kann. Das so eindeutige Bild für Unfreiheit, gefesselt zu sein, geknebelt oder angekettet, wird zum Synonym für Freiheit.
Einmal unterhielt ich mich mit einem Mann, der mir sehr selbstbewusst erzählte, wie er Vergnügen dabei empfinde, sich beim Sex von anderen Männern auspeitschen und sich mit verschiedenen Geräten, Klammern zum Beispiel, an den Genitalien und den Brustwarzen quälen zu lassen. Ich fühle nicht den geringsten Schmerz dabei, meinte er durchaus stolz. Das kenne ich von mir auch, antwortete ich, aber nicht als Erwachsener. Als Kind wurde ich von meiner Mutter so geschlagen, dass ich Angst hatte, sterben zu müssen. Aber eines Tages, im Alter von neun Jahren, entdeckte ich einen Trick. Wenn ich mich konzentrierte, konnte ich buchstäblich meinen Körper verlassen und habe tatsächlich keine Schmerzen empfunden. Darauf war ich stolz, denn diese Entdeckung rettete mir das Leben. Nur stand ich viel später vor der Frage, wie ich in diesen Körper wieder zurück kehren, wie ich ganz natürliche und berechtigte Gefühle wieder fühlen kann. Der Mann stand abrupt auf und ging, ohne ein Wort zu sagen. Meine Antwort war ihm vermutlich zu viel gewesen.
Die Abwesenheit der angemessenen, authentischen Gefühle und Reaktionen, das Vermeiden körperlicher und emotionaler Nähe zeigt die Angst des sehr kleinen Kindes, die Einsamkeit und die Kälte, in der es aufwachsen musste. Das Leiden dieses Kindes ist nur noch bildhaft in der Inszenierung sichtbar. Ich frage mich, wie aus einem Kind, das so früh zum Objekt gemacht wurde, ein Erwachsener werden soll, der als Subjekt, Herr seiner selbst die Freiheit von der Unfreiheit unterscheiden kann. Denn schließlich wurde ihm die Unfreiheit von Anfang an als Segen und Notwendigkeit verkauft. Die Misshandlung, das Ignorieren seiner Bedürfnisse geschahen bekanntlich zu seinem Besten.
Die Bedürfnisse eines Kindes sind sehr einfach und klar: Nahrung, Pflege, Ansprache, körperliche und emotionale Zuwendung. Werden diese Bedürfnisse nicht erfüllt, muss das Kind sterben. Ein Mensch, der von Anfang seines Lebens an nur Gewalt als einzige Berührung und Antwort erfährt, wird diese, auch wenn sie schmerzhaft war, immer wieder suchen müssen. Er ist, wie das berühmte Gänsekücken bei Konrad Lorenz, konditioniert auf die erste Begegnung. Ein Kind, dessen Bedürfnisse ständig ignoriert wurden, weil sein Körper, weil der ganze kleine Mensch lediglich den pervertierten sexuellen und emotionalen Bedürfnissen der Eltern diente, hatte niemals die Chance, seine eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und zu entwickeln. Der Erwachsene wird womöglich nicht einmal wissen, dass er sehr früh etwas vollkommen anderes brauchte, als er erhielt. Er war der Mülleimer für die entfremdeten perversen Wünsche der Eltern, die so zu den eigenen wurden. Zumindest fühlt es sich so an. Wie soll er nun zwischen lebensbejahenden und destruktiven, künstlichen, ihm aufgezwungenen Bedürfnissen im persönlichen, aber auch im gesellschaftlichen Bereich unterscheiden können.
Es gibt auch Kinder, die weder misshandelt noch missbraucht, stattdessen mit zahlreichen materiellen Dingen überhäuft und mit dem Fernsehgerät oder dem Computer als Kommunikationsersatz abgespeist werden, weil ihre Eltern als Personen kaum präsent sind. Vielleicht sind die Eltern zu sehr mit der Planung ihrer Karriere beschäftigt. Das Kind mag glauben, dass es doch alles hat, was es braucht, mehr hat als andere Kinder, doch die Gleichgültigkeit und Ignoranz der Eltern gegenüber seinen echten Bedürfnissen verhindert, dass es mit diesen lebensnotwendigen Informationen überhaupt in Kontakt kommen kann. Der Erwachsene hat kaum eine andere Wahl, als die Ignoranz der Eltern als Haltung zu übernehmen und wird später womöglich allein deswegen zufrieden sein, wenn er am allgemeinen Konsum teilhaben darf, zumal diese Möglichkeit inzwischen zu einem Luxus geworden ist.
Ich meine, dass in diesen individuellen Prägungen eines Kindes sehr wohl eine Ursache für die Entwicklung der fatalen Toleranz für destruktive Entscheidungen etwa im Rahmen der Politik zu sehen ist. Die Menschen lernen früh, zu dulden, was die „da oben“, „die Großen“ treiben. Manche werden eifrige Kunden der Pornoindustrie, die ihnen ihrerseits suggeriert, dass ihre Verletzungen und Verbiegungen nicht nur ganz normal, sondern sogar erwünscht sind. Die Pornoindustrie verbreitet in Bildern eine den Predigten der Politik verwandte Botschaft: Preise uns. Du bist frei, du kannst tun und lassen, was du willst. Nur stelle diese Freiheit nicht in Frage.
Wie ein Kind, das froh und dankbar ist, wenn es vom gewalttätigen Vater einmal nur angeschrieen und nicht geschlagen wurde, wird ein früh verwirrter Mensch zufrieden und dankbar sein, in einer Welt zu leben, die ihm sogar erlaubt, die Exkremente anderer Personen zu verspeisen. Kann es einem besser gehen? Man muss nur einer der zahlreichen Polit-Runden im Fernsehen aufmerksam zuhören und wird immer wieder feststellen, wie Kritiker unserer aktuellen Lebensweise mit dem nur mühsam gezügelten Hass der anwesenden Politprominenz jeder Couleur abgekanzelt werden: Ich bitte Sie, natürlich haben wir Probleme, aber man muss das Positive sehen, und die Probleme werden wir selbstverständlich lösen. Seien Sie froh, dass Sie hierzulande so frei sprechen dürfen, andernorts würden Sie für solche Meinungen ins Gefängnis gesteckt oder an die Wand gestellt. Sollen solche und ähnliche Äußerungen suggerieren, dass wir denjenigen, die uns regieren, dankbar sein müssen, wenn sie uns nicht standrechtlich exekutieren oder foltern lassen? Die Enthüllungen im Irak könnten dies nahe legen. Mit Blick zum Beispiel auf die besondere deutsche Geschichte wäre sogar ein Fortschritt zu verzeichnen. Allerdings haftet dann dem Fortschritt in meinen Augen auch etwas Perverses an.
Mich kann man nicht von der These überzeugen, dass es eine der Gattung Mensch innewohnende Lust an der Zerstörung gebe. Ich glaube jedoch, dass es einen Zwang zur Rache gibt und ein inneres Getriebensein, die frühen Verletzungen immer wieder zu inszenieren. Diese Zwänge bleiben wahrscheinlich so lange bestehen, wie die Blindheit des Kindes für den wahren Charakter der Eltern nicht aufgelöst wurde. Sobald ein Mensch aber anfängt, die Realität seiner Kindheit zu sehen und damit zwangsläufig die Eltern durchschauen lernt, wird er auch die Welt, in der er lebt, mit anderen Augen, manchmal sogar mit dem bösen Blick wahrnehmen.
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