Auflösung der Folgen von Kindesmisshandlungen

von Alice Miller

Auflösung der Folgen von Kindesmisshandlungen
Monday 30 October 2006

Seit dem Erscheinen des „Dramas des begabten Kindes““ im Jahr 1979 erhalte ich regelmäßig Briefe von Lesern, die mir ihre Geschichte erzählen und viele diesbezügliche Fragen stellen. Ich hatte oft das Bedürfnis, auf diese viel sagenden Lebensberichte zu reagieren, und bedauerte sehr, dass ich diesem Bedürfnis hauptsächlich aus Zeitgründen nicht nachgeben konnte. Auch hatte ich den Wunsch, diese wichtigen Zeugnisse, Berichte der Opfer von Kindesmisshandlungen, anderen Menschen zukommen zu lassen, aber durfte dies nicht, weil die Texte nur an mich im Vertrauen gerichtet wurden.
Erst Mitte 2005 kam ich auf die Idee, auf meiner Webseite im Internet eine Mailbox einzurichten, um dort die Briefe von allgemeinem Interesse und meine Antworten darauf mit der Erlaubnis der Autoren veröffentlichen zu dürfen. Die Briefe erzählen von oft unfassbaren Qualen der in der Kindheit misshandelten Menschen, die trotz jahrelanger Therapien niemals realisiert haben, dass sie misshandelt wurden. Sie litten an zahlreichen Krankheiten, beschuldigten sich für alles, was man ihnen angetan hatte, und erst bei der Lektüre meiner Bücher konnten sie angeblich die Leiden ihrer Kindheit zum ersten Mal fühlen. Einige fanden hier den Schlüssel zum Verständnis ihres ganzen Lebens und damit auch den Ausgang aus ihren panischen Ängsten, Depressionen und Süchten.
Natürlich stehen diese Menschen jetzt vor vielen Fragen, denen sie bislang ausgewichen sind. Meine Antworten auf diese Fragen versuchen ihnen zu helfen, sich in der neuen Situation zu orientieren und Menschen zu finden, die ihnen als einfühlsame und wissende Zeugen beistehen können, um das gewonnene Wissen optimal zu nutzen.
So fanden hier die einst misshandelten Menschen eine Plattform, die ihnen ermöglichte, sich frei zu äußern und gemeinsam Wege der Befreiung von den tragischen Folgen der erlittenen Misshandlungen zu suchen.
Wir können die Folgen von Misshandlungen nicht in Therapien auflösen, die den Fakten ausweichen und sich nur auf die Analysen der psychischen Realitäten beschränken. Aber wir können uns von den Folgen befreien, wenn wir bereit sind, uns emotional mit der Wahrheit unserer Kindheit zu konfrontieren, die Verleugnung unseres Leidens aufzugeben, Empathie für das Kind, das wir waren, zu entwickeln und so die Gründe unserer Ängste zu verstehen. So befreien wir uns von den Ängsten und den Schuldgefühlen, die uns von klein auf aufgebürdet wurden. Durch die Kenntnis unserer Geschichte und unserer Gefühle lernen wir den Menschen kennen, der wir sind, und lernen ihm das zu geben, was er unbedingt braucht, aber von den Eltern nie bekommen hat: die Liebe und den Respekt. Das ist das Ziel der aufdeckenden Therapie: Die Wunden können vernarben, wenn sie gepflegt und ernst genommen werden, doch die Existenz der Narben sollte man nicht leugnen.
Was ich noch beim Schreiben von „Evas Erwachen“ und der „Revolte des Körpers“ vermutet habe, bestätigen die Leserbriefe in vollem Umfang: An den Folgen von seelischen Verletzungen in der Kindheit leidet nicht nur eine begrenzte Gruppe von Menschen, sondern der überwiegende Teil der Weltbevölkerung. Doch es sind nur wenige, die es wissen wollen, weil die Angst vor der damaligen Hilflosigkeit des geschlagenen Kindes sie von diesem Wissen abhält. Denn ich gehe davon aus, dass wir alle, bis auf wenige Ausnahmen, in der Kindheit geschlagen wurden, in den meisten Fällen sehr früh (wie es die Pädagogen empfohlen haben (vgl. „Am Anfang war Erziehung“). Ein geschlagenes Kind erwartet Strafe für jede Äußerung von Unzufriedenheit, geschweige denn Wut. Diese Angst mag unbewusst bleiben (weil ihre Ursachen nie entdeckt und nie verarbeitet wurden), aber sie kann sehr aktiv wirken, den Menschen sein Leben lang begleiten und sein ganzes Verhalten bestimmen.

Im Folgenden zitiere ich meine Antwort vom 27. 8. 2006 auf die Frage einer Leserin, was ich unter dem Begriff „aufdeckende Therapie“ verstehe, die sich für mich und andere als wirkungsvoll erwies.
„Aufdeckend nenne ich eine Therapie, die den Klienten hilft, ihre verdrängte schmerzhafte Kindheitsgeschichte mit Hilfe der erwachten Gefühle und Träume kennen zu lernen, damit sie nicht länger Angst haben müssen vor Gefahren, die ihnen in der Kindheit real gedroht haben, aber heute nicht mehr drohen. Die Klienten haben es dann nicht mehr nötig, das unbewusst zu fürchten und zu wiederholen, was ihnen im zartesten Alter passiert ist, weil sie jetzt ihre kindliche Realität kennen und in der Gegenwart des Therapeuten als einfühlsamen Zeugen, mit Zorn und Trauer darauf reagieren konnten. Sie hören dann auf, sich lieblos zu behandeln, sich zu beschuldigen, sich durch Süchte aller Art zu schädigen, weil sie nun Empathie für das Kind entwickeln konnten, das unter dem Verhalten der Eltern schwer gelitten hat. Sollten später Gefahren im Leben der Erwachsenen auftreten, werden diese besser ausgerüstet sein, um ihnen zu begegnen, weil sie jetzt ihre alten Ängste besser verstehen und einordnen können.
Dieses Vorgehen steht im krassen Gegensatz zu sämtlichen Formen der Behandlungen, in denen es darum geht, ein neues Verhalten einzuüben, oder das Wohlbefinden zu verbessern (mit Yoga, Meditationen, positiven Gedanken usw.). Hier wird das Thema der Kindheit in allen Fällen gemieden. Die Angst vor diesem Thema, die in der ganzen Gesellschaft gegenwärtig und leicht festzustellen ist. führe ich auf die Furcht der einst geschlagenen Kinder zurück, die Furcht vor dem nächsten Schlag, falls sie es wagen würden, die Grausamkeit ihrer Eltern zu durchschauen. Und da die meisten Menschen mit Schlägen (psychischen aber auch vor allem physischen, die immer noch als harmlos und notwendig angesehen werden) aufwachsen mussten, ohne sich wehren zu dürfen, ist diese Angst so verbreitet.
Sie zeigt sich auch in der Psychoanalyse, die bis heute dem Problem der Misshandlungen in der Kindheit ausweicht und es ausblendet. Ihre Theorien wurden bereits auf dieser Angst vor den Eltern aufgebaut. So bleiben Analysanden wie auch Analytiker manchmal Jahrzehnte lang in einem Begriffslabyrinth stecken, leiden permanent unter Schuldgefühlen, weil sie es den Eltern angeblich so schwer gemacht haben, das “gestörte” Kind zu verstehen. Oft wissen sie gar nicht und dürfen es auch nicht erfahren, dass sie schwer misshandelte Kinder waren.
Ob eine Gesprächstherapeutin dieses Wissen ermöglicht, hängt davon ab, was sie über ihr eigenes Leben und ihre ersten Jahre weiß. Um diese Fragen zu klären, habe ich die FAQ Liste verfasst, die die Hilfesuchenden darüber orientieren kann, was sie zu erwarten haben, bevor sie sich binden.“