von Alice Miller
Depression – der Zwang zum Selbstbetrug
Tuesday 01 March 2005
Der russische Schriftsteller Anton Tschechow gehört seit meiner Jugend zu den von mir bevorzugten Autoren. Ich erinnere mich noch sehr genau, wie ich im Alter von etwa sechzehn Jahren die Erzählung „Krankenzimmer Nr. 6“ verschlang und voll Bewunderung war für Tschechows Scharfsinn und psychologisches Wissen, aber vor allem für seinen Mut, die Wahrheit zu sehen, sie zu zeigen und niemanden zu schonen, den er als Schurken erkannt hatte.
Viel, viel später las ich seine „Briefe“ und erfuhr aus ihnen wie aus den Biographien Einzelheiten über seine Kindheit. Da fiel mir auf, dass Tschechows Mut zur Wahrheit, den ich so bewunderte, an seine Grenzen stieß, wenn es um die Person seines Vaters ging.. Seine Biographin Elsbeth Wolffheim erzählt Folgendes über den Vater:
„Herabsetzungen, Demütigungen erlebte er nicht nur im Schulalltag, erst recht litt er unter den Repressionen im Elternhaus. Tschechows Vater war jähzornig, grob und behandelte seine Angehörigen mit extremer Strenge. Die Kinder wurden beinahe täglich verprügelt, sie mussten morgens um 5 Uhr aufstehen, noch vor Schulbeginn im Laden helfen, nach dem Unterricht ebenfalls, so dass sie für ihre Schulaufgaben kaum Zeit fanden. Dazu war es im Winter eiskalt in dem Kellerladen, wo sogar die Tinte gefror. Bis spät in den Abend hinein bedienten die drei Brüder Kunden, zusammen mit jungen Lehrlingen, die gleichfalls verprügelt wurden von ihrem Patron und manchmal vor Erschöpfung im Stehen einschliefen. Der Vater … engagierte sich mit fanatischem Eifer im kirchlichen Leben, leitete den Kirchenchor, in dem auch seine Söhne singen mussten.“ (Elsbeth Wolffheim, „Anton Tschechow“, Rowohlt 2001, S. 13)
Einmal schrieb Tschechow, er habe sich beim Singen in diesem Chor wie ein Katorgasträfling gefühlt (ebd. S. 14), und in einem Brief an seinen Bruder schildert er seinen Vater in wenigen Zeilen wahrheitsgetreu, doch diese Wahrheit schien in seinem ganzen Leben keinen Platz zu finden: „Despotismus und Lüge haben unsere Kindheit dermaßen vergällt, dass einem schlecht wird und man Angst hat sich daran zu erinnern.“ (Wolffheim, s.15) Solche Aussagen sind äußerst selten, der Sohn kümmerte sich sein Leben lang unter großen finanziellen Opfern um das Wohl seines Vaters. Dass er auch seelische Opfer auf sich nahm, indem er seine Wahrheit unterdrückte, hat niemand in seiner Umgebung geahnt, weil seine Haltung allgemein als Tugend angesehen wurde. Doch die Verleugnung der authentischen Gefühle, die sich auf den extremen Missbrauch des Kindes bezogen, erforderte viel Kraft und mochte dazu geführt haben, dass Tschechow schon früh an Tuberkulose erkrankte und auch an Depressionen litt, die man damals als Melancholie bezeichnete. Schließlich starb er im Alter von 44 Jahren. (Auf diesen Zusammenhang bin ich in „Die Revolte des Körpers“ genauer eingegangen.)
Aus dem gerade erschienenen Buch von Ivan Bunin („Tschechow“, Friedenauer Presse, Berlin 2004) erfuhr ich, dass meine Überlegungen durch Tschechows eigene Worte bestätigt werden können. Er spricht hier ein hohes Lob für seine Eltern aus, obwohl er genau wissen musste, dass er damit die Realität vollständig verdrehte:
„Vater und Mutter sind für mich die einzigen Menschen auf dem Erdball, für die mir nichts zu schade ist. Wenn ich einmal oben stehen werde, so ist dies das Werk ihrer Hände, sie sind prächtige Menschen, allein ihre grenzenlose Kinderliebe stellt sie über jedes Lob, verdeckt alle ihre Mängel.“
Nach Bunin soll Anton Tschechow gegenüber Freunden sogar mehrmals betont haben: „Ich habe nicht gegen das Vierte Gebot verstoßen.“
Dieser Verrat am eigenen Wissen stellt keine Ausnahme dar. Viele Menschen hegen ihr Leben lang ähnlich grundfalsche Urteile über ihre Eltern, aus verdrängter Angst, die eigentlich die Angst des sehr kleinen Kindes vor den Eltern ist. Sie bezahlen diesen Selbstverrat mit Depressionen, Selbstmord oder schweren Erkrankungen, die zu einem frühen Tod führen. Fast immer lässt sich in Fällen von Suizid feststellen, dass grausame Kindheitserfahrungen völlig verleugnet oder niemals als solche erkannt wurden. All diese Menschen wollten von ihrem frühen Leiden nichts wissen und lebten in einer Gesellschaft, die dieses Leiden ebenso ignoriert. Für das Wissen über das Schicksal von Kindern und seine Bedeutung für das spätere Leben gibt es bis heute keinen oder viel zu wenig Raum. Daher wundert man sich gewöhnlich, wenn zum Beispiel ein gefeierter Star Selbstmord begeht und so enthüllt wird, dass er unter Depressionen litt. Er oder sie hatten doch alles gehabt, was andere sich so sehr wünschen, bekommt man dann von allen Seiten zu hören, was hat diesem Menschen bloß gefehlt?
Die Diskrepanz zwischen der verleugneten Realität und der „glücklichen“ Fassade fiel mir auch auf, als ich einen Dokumentarfilm über die Sängerin Dalida sah, die lange an schweren Depressionen litt und sich im Alter von 54 Jahren das Leben nahm. Es wurden viele Menschen interviewt, die sie angeblich sehr gut kannten und liebten, die ihr beruflich oder privat sehr nahe standen. Alle beteuerten ausnahmslos, dass ihnen Dalidas Depressionen und der Selbstmord ein völliges Rätsel waren. Immer wieder wurde gesagt: „Sie hatte alles, was man gewöhnlich begehrt: Schönheit, Intelligenz, Riesenerfolge. Weshalb also diese wiederkehrenden Depressionen?“
Diese Ahnungslosigkeit der ganzen Umgebung Dalidas machte mir bewusst, in welcher inneren und äußeren Einsamkeit sich das Leben dieses Stars trotz der vielen Bewunderer abgespielt haben musste. Ich vermute, dass die Geschichte ihrer Kindheit den Selbstmord der Sängerin erklären könnte, doch dieser Aspekt wurde in der Sendung von keinem Menschen erwähnt. Ich suchte im Internet und fand, was man eigentlich immer erfährt, dass Dalida angeblich eine glückliche Kindheit und liebevolle Eltern hatte. Gerade das Schicksal berühmter Menschen macht doch sehr deutlich, wie verbreitet die Depression ist. Dennoch wird fast nie nach der Ursache, der Wurzel dieses Leidens gefragt. Die Depression erscheint so als unabwendbar und unerklärlich. Es wurde gerade nicht die Frage gestellt, wie Dalida als Kind womöglich die Tatsache erlebte, dass sie bei Nonnen aufwuchs.
Nach allem, was ich über solche Internate gelesen habe, weiß ich, dass Kinder dort nicht selten sexuelle, physische und psychische Gewalt erdulden müssen, und dies alles als Zeichen der Liebe und Fürsorge zu verstehen haben, somit lernen, die Lüge als etwas Normales zu akzeptieren. Mir ist auch bekannt, dass Versuche, die skandalösen Zustände in solchen Schulen an die Öffentlichkeit zu bringen, von den kirchlichen Institutionen unterbunden werden. Die meisten ehemaligen Opfer tun alles, um die in der Kindheit erlittenen Qualen zu vergessen, zumal sie wissen, dass sie in der Gesellschaft kaum wissende Zeugen finden, die ihr Leiden ernst nehmen würden. Nur die Empörung der Gesellschaft könnte ihnen helfen, die eigene Empörung zu spüren und sich gegen die Lüge aufzulehnen. Wenn dieser Beistand aber so gut wie gar nicht vorhanden ist, wenn alle Autoritäten sich mit der Lüge solidarisieren, wird den Betreffenden die Depression geradezu aufgezwungen.
Dalidas Schicksal bleibt, wie das vieler Berühmtheiten, rätselhaft, und gerade dies scheint die Öffentlichkeit zu faszinieren.
Manche weltberühmten Stars, die beneidet oder gar vergöttert wurden, waren im Grunde sehr einsam. Sie wurden, wie das am Beispiel von Dalida deutlich wird, nie verstanden, weil sie sich selbst nicht verstehen konnten. Und sie waren nicht in der Lage, sich selbst zu verstehen, weil das Umfeld ihnen kein Verständnis, sondern lediglich Bewunderung entgegen brachte. Schließlich nahmen sie sich das Leben. Dieser Kreislauf sagt sehr viel über die Mechanismen der Depression aus. Menschen suchen Verständnis auf dem Wege des Erfolges, geben sich unendlich viel Mühe, um diesen zu erreichen und ein immer größeres Publikum für sich zu begeistern. Doch diese Begeisterung nährt sie nicht, solange ihnen das Verständnis fehlt. Das Leben hat dann trotz der Karriere letztlich für sie gar keinen Sinn, da sie sich selbst so fremd bleiben. Und sie bleiben sich fremd, weil sie das, was am Anfang ihres Lebens geschah, vollständig vergessen wollen und das Leiden ihrer Kindheit verleugnen. Da die gesamte Gesellschaft auf diese Weise funktioniert, konnten die Stars von niemandem verstanden werden und litten unter ihrer Einsamkeit.
Diese umfassende Verleugnung der Schmerzen am Beginn unseres Lebens ist verhängnisvoll. Stellen wir uns vor, dass ein Mensch eine Wanderung unternehmen will und sich gleich am Anfang seines Weges den Fuß verstaucht. Auch wenn er versucht, seine Schmerzen zu ignorieren und weiterzuwandern, weil er sich darauf gefreut hat, werden andere früher oder später wahrnehmen, dass er hinkt. Sie werden ihn danach fragen, was ihm geschehen ist. Dann wird er seine Geschichte erzählen, sie werden verstehen, warum er hinkt, und ihm raten, sich behandeln zu lassen.
Anders ist es, wenn es um die Leiden der Kindheit geht, die eine ähnliche Rolle im Leben eines Menschen spielen, wie der verstauchte Fuß am Anfang einer Wanderung. Man kann sie nicht „weg philosophieren“, sie werden die ganze Wanderung mitbestimmen, allerdings mit dem Unterschied, dass in der Regel niemand dieser Tatsache Beachtung schenken wird. Da ist sich die ganze Gesellschaft mit dem Leidenden gewissermaßen einig, der nicht erzählen kann, was ihm passiert ist. Der in seiner Integrität Verletzte hat möglicherweise auch keine Erinnerungen. Er spielt mit, wenn er sein ganzes Leben unter Menschen verbringen muss, die die Traumen der Kindheit bagatellisieren. Sein Leben wird deshalb ungefähr so verlaufen, wie die Wanderung eines Menschen, der gerade am Anfang seinen Fuß verstaucht hat, aber dies nicht wahrhaben will und so tut, als ob ihm eigentlich nichts geschehen sei. Sollte er aber doch Menschen begegnen, die über die lang andauernden Auswirkungen von Kindheitstraumen Bescheid wissen, hat er die Chance, seine Verleugnung aufzugeben und auf diese Weise die einst erlittenen Wunden womöglich ausheilen zu lassen.
Viele Menschen haben dieses Glück nicht. Gerade die Berühmtesten waren umgeben von zahlreichen ahnungslosen Bewunderern, unter denen sich niemand befand, der die innere Not des vergötterten Stars erkannt hätte oder auch nur kennen lernen wollte. Es gibt dafür immer wieder Beispiele. Denken wir an das Schicksal der zauberhaften Marilyn Monroe, die von ihrer Mutter in ein Heim gegeben und mit neun Jahren vergewaltigt, später zurückgekehrt in die Familie vom Stiefvater sexuell belästigt wurde, und bis zu ihrem Ende nur ihrem Charme vertraute, so dass die Depression und die Drogen sie schließlich umbrachten. Über ihre Kindheit äußerte sie die im Internet häufig zitierten Sätze:
„Ich war kein Waisenkind. Ein Waisenkind hat keine Eltern. Alle anderen Kinder im Waisenhaus hatten keine Eltern mehr. Ich hatte noch eine Mutter. Aber die wollte mich nicht. Ich schämte mich, das den anderen Kindern dort zu erklären…“
Manche mögen sich einen ähnlichen Erfolg für ihr eigenes Leben wünschen und können nicht begreifen, warum ein Star diesen nicht genießen kann. Wenn ein Mensch besonders begabt ist, kann er diese Begabung auch dafür benutzen, seine Abwehr gegen die Wahrheit zu verstärken und diese von sich selbst und den anderen fernzuhalten.
Eine Ausnahme in diesem Kreislauf stellen Menschen dar, die als Kinder Traumen erlitten, die nicht von den Eltern verursacht wurden. Diese Menschen haben mehr Chancen, in der Gesellschaft Empathie zu finden, weil jeder ahnen kann, was es bedeutet, zum Beispiel in einem Lager aufgewachsen zu sein oder als Geisel von Terroristen einige Tage in einer schrecklichen Ohnmacht zu verbringen. Dann können die ehemaligen Opfer von Traumen damit rechnen, sowohl etwa von Pflegeeltern, als auch von Freunden oder der weiteren Familie verstanden zu werden und Mitgefühl zu bekommen.
Ein solches Beispiel bietet uns der in Frankreich durch seine Unterstützung der Theorie der Resillianz bekannte Autor Boris Cyrulnik. Er wurde als siebenjähriges Kind in das KZ Drancy deportiert, aber er wurde nach der Befreiung von vielen liebenden Menschen betreut und konnte (gerade dank dem Wissen seiner Umgebung, wie schrecklich diese Erlebnisse für ihn waren) diese schlimme Zeit verarbeiten. Nun vertritt er in seinen Büchern die Meinung, dass jedes Kind in sich die Kraft hat, eine traumatische Kindheit zu überwinden, ohne daran zu erkranken, und diese Kraft nennt er die angeborene Resilianz.
Diese Theorie enthält in meinem Augen einen gefährlichen Irrtum. Es stimmt, dass wir als Kinder sehr viele Ressourcen besitzen, um sogar schwere Verletzungen zu überleben. Doch um deren Folgen ausheilen zu lassen, brauchen wir wissende Zeugen in der Gesellschaft. Diese existieren aber in den meisten Fällen nicht, wenn die erlittenen Misshandlungen durch die Eltern begangen wurden. Ein von den Eltern misshandeltes Kind ist als Erwachsener ohne Zeugen und bleibt daher isoliert: nicht nur von den anderen, sondern auch von sich selbst, weil er die Wahrheit verdrängt hat, und niemand ihm hilft, die Realität seiner Kindheit wahrzunehmen. Denn die Gesellschaft steht immer auf der Seite der Eltern. Jeder weiß, dass es so ist, und wird daher kaum wagen, sich seiner Wahrheit zu nähern. Sollte es ihm aber doch in einer gelungenen Therapie möglich sein, seinen Zorn zu erleben und auszudrücken, wird sich dieser Mensch unter Umständen mit der Feindseligkeit seiner ganzen Familie und seiner Freunde konfrontiert sehen, die ihn angreifen werden, weil er ein Tabu überschreitet und weil die Überschreitung dieses Tabus den anderen ebenfalls Angst macht. Diese Menschen werden manchmal mit allen Mitteln gegen den Betreffenden vorgehen, um ihre eigene Verdrängung intakt halten zu können.
Es gibt wenige Überlebende von Kindesmisshandlungen, die in der Lage sind, diese Aggressionen auszuhalten und die lieber die um sie entstandene Isolation in Kauf nehmen, als ihre Wahrheit zu verraten. Doch mit steigendem Wissen um die emotionale Dynamik dieser Prozesse wird sich hoffentlich etwas verändern, und durch die Bildung von mehr aufgeklärten Gruppen muss dann nicht mehr mit einer vollständigen Einsamkeit gerechnet werden. Die Theorie der Resillianz halte ich deshalb für gefährlich, weil sie dazu geeignet ist, die Zahl der wissenden Zeugen zu vermindern, statt sie zu vermehren. Wenn die angeborene Resillianz genügen sollte, um schwere Folgen von Traumatisierungen aufzulösen, dann wäre die Empathie der wissenden Zeugen nicht notwendig. Ich meine, dass die Gleichgültigkeit den Kindesmisshandlungen gegenüber bereits groß genug ist, wir brauchen sie nicht noch zu verstärken.
Aufgeklärte Menschen sind allerdings immer noch rar, auch unter den Fachleuten. Wer sich heute zum Beispiel über das Leben von Virginia Woolf informieren will und im Internet die entsprechende Seite besucht, wird von namhaften Psychiatern erfahren, dass sie „geisteskrank“ war und dass diese Erkrankung nichts mit der sexuellen Gewalt ihrer Halbbrüder zu tun hatte, der sie als Kind jahrelang ausgeliefert war. Obwohl Virginia Woolf in autobiographischen Schriften den Schrecken ihrer Kindheit eindrucksvoll beschreibt („Skizzierte Erinnerungen“, Frankfurt a.M. 1993), wird der Zusammenhang zwischen den schweren Traumatisierungen und den späteren Depressionen noch im Jahre 2004 vollständig geleugnet.
Zu ihren Lebzeiten wurde er erst Recht nicht erkannt. Die Schriftstellerin trug diese Texte in dem Künstlerkreis, in dem sie verkehrte, vor, doch blieb sie einsam, weil ihr selbst und ihrer Umgebung, sogar ihrem Mann Leonard (wie dessen Erinnerungen an seine Frau bezeugen) die Bedeutung der frühen Erfahrungen verschlossen blieben. Sie war umgeben von Menschen, de ihre künstlerischen Ziele teilten und förderten, konnte aber ihr Erleben der völligen Einsamkeit, das immer wieder auftauchte, selbst nicht verstehen. Dies kann schließlich den Weg zum Selbstmord ebnen, weil die aktuelle Isolation ständig an die lebensbedrohliche Verlassenheit des kleinen Kindes erinnert.
Jede sogenannte Geisteskrankheit, die zum Suizid geführt hat, wird meist auf genetische Ursachen zurückgeführt. Biographen beschreiben in allen Details das spätere Leben ihrer Protagonisten, aber die Kindheit findet selten die Beachtung, die ihr zukäme.
Es ist vor kurzem eine als Roman präsentierte, umfangreiche Biographie von Alain Absire über das Leben der Jean Seberg erschienen („Jean S.“, Feyard 2004), die in fünfunddreißig, zum Teil sehr bekannten Filmen (etwa „Außer Atem“) Hauptrollen gespielt hat. Offenbar hatte Jean Seberg schon als Kind eine Leidenschaft fürs Theater gezeigt und sehr unter der moralisch rigiden Haltung ihres lutherisch protestantischen Vaters gelitten, den sie später idealisierte. Als sie, noch in der Schulzeit, unter Tausenden von Anwärterrinnen für ihren ersten Film ausgewählt wurde, konnte sich ihr Vater nicht mit ihr freuen, sondern bediente sie mit Warnungen. Diese Haltung zeigte er jedes Mal, wenn sie Erfolg hatte. Er hielt ihr moralische Predigten im Namen seiner väterlichen Liebe. Sie konnte sich ihr Leben lang nicht eingestehen, wie sehr die Haltung ihres Vater sie verletzt hatte, litt aber unter den Qualen, die ihr die nach einem bestimmten Muster von ihr ausgesuchten Partner zufügten.
Natürlich kann man nicht sagen, dass der Charakter ihres Vaters die Ursache für ihr missglücktes Leben war. Es war Jeans Verleugnung ihres Leidens unter diesem Vater, die ihre schweren Depressionen bewirkte. Diese Verleugnung beherrschte ihr Leben und trieb sie dazu, sich immer wieder in die Gewalt von Männern zu begeben, die sie weder verstanden noch respektierten. Sie wiederholte zwanghaft ihre selbst-zerstörerische Partnerwahl, weil sie nicht wahrhaben wollte, welche Gefühle die Haltung ihres Vaters in ihr hervorrief. Sie konnte keinen guten Partner finden, oder musste ihn verlassen, sobald sie einen Mann fand, der nicht destruktiv mit ihr umging. Wie sehr hat sie sich danach gesehnt, dass ihr Vater ihr einmal eine Anerkennung zuteil werden ließe für all ihre Erfolge. Aber er zollte ihr nur Kritik.
Offenbar hatte Seberg nicht den leisesten Einblick in die Tragödie ihrer Kindheit, sonst wäre sie nicht zur Sklavin von Alkohol und Zigaretten geworden und hätte nicht Selbstmord begehen müssen. Ihr Schicksal teilt sie mit vielen Stars, die mit Hilfe von Drogen ihren echten Gefühlen davon zu laufen hofften oder im frühen Tod durch eine Überdosis endeten, wie zum Beispiel Elvis Presley, Jimi Hendrix oder Janis Joplin.
Das Leben (und Sterben) all dieser erfolgreichen Stars bezeugt, dass die Depression nicht ein Leiden an der Gegenwart ist, die ihnen ja die optimale Erfüllung aller Träume brachte; sondern ein Leiden an der Trennung vom eigenen Selbst, das früh verlassen und niemals betrauert wurde, folglich nicht leben durfte. Es ist, als würde der Körper mit Hilfe der Depression gegen diese Untreue sich selbst gegenüber, gegen die Lüge, gegen die Abspaltung der wahren Gefühle protestieren, weil er ohne authentische Gefühle gar nicht leben kann. Er braucht den freien Fluss der Emotionen, die sich auch ständig verändern: die Wut, die Trauer, die Freude. Wenn diese in der Depression blockiert sind, kann der Körper nicht normal funktionieren.
Um ihn dazu trotzdem zu zwingen, werden allerlei Mittel eingesetzt: Drogen, Alkohol, Nikotin, Medikamente, die Flucht in die Arbeit. All das, um die Revolte des Körpers nicht verstehen zu müssen, um nie zu erfahren, dass uns die Gefühle nicht umbringen, sondern uns im Gegenteil von dem Gefängnis, das sich Depression nennt, befreien können. Die Depression kann sich zwar wieder melden, wenn wir erneut unsere Gefühle und Bedürfnisse ignorieren, aber wir können mit der Zeit immer besser damit umgehen. Da uns die Gefühle mitteilen, wie es uns in der Kindheit ergangen ist, werden sie uns verständlich, wir brauchen sie nicht länger so sehr zu fürchten wie früher, die Angst nimmt ab und wir sind für eine neue depressive Phase besser gewappnet. Doch wir können die Gefühle nur dann zulassen, wenn wir unsere verinnerlichten Eltern nicht mehr fürchten müssen.
Ich vermute, dass der Gedanke, man wurde von den eigenen Eltern nicht geliebt, für die meisten Menschen unerträglich ist. Je mehr Fakten auf diesen Mangel hinweisen, umso stärker klammern sich diese Menschen an die Illusion, sie seien geliebt worden. Sie klammern sich auch an die Schuldgefühle, die ihnen bestätigen sollten, dass es an ihnen lag, an ihren Fehlern und ihrem Versagen, wenn die Eltern nicht liebevoll mit ihnen umgegangen sind. In der Depression rebelliert der Körper gegen diese Lüge. Viele Menschen möchten dann lieber sterben oder symbolisch sterben, indem sie ihre Gefühle abtöten, als die Ohnmacht eines kleinen Kindes zu erleben, das von den Eltern nur für deren Ehrgeiz oder nur als Projektionsscheibe ihrer aufgestauten Hassgefühle gebraucht wird.
Die Tatsache, dass die Depression zu den häufigsten Erkrankungen unserer Zeit gehört, ist unter Fachleuten kein Geheimnis mehr. Das Thema wird häufig auch in den Medien angeschnitten, man diskutiert über die Ursachen und die verschiedenen Behandlungsmethoden. In den meisten Fällen scheint es nur darum zu gehen, für den Einzelnen die geeigneten Psychopharmaka zu finden. Die Psychiatrie behauptet heute, dass endlich Medikamente entwickelt werden konnten, die nicht abhängig machen und keine Nebenwirkungen aufweisen. Damit scheint ja das Problem gelöst zu sein. Aber warum klagen trotzdem so viele Menschen über Depressionen, wenn die Lösung so einfach ist? Natürlich gibt es Leidende, die keine Medikamente einnehmen wollen, aber auch unter denen, die sie einnehmen, gibt es einige, die trotzdem immer wieder von Depressionen heimgesucht werden und denen auch jahrzehntelange Psychoanalysen, andere psychotherapeutische Versuche oder Klinikaufenthalte nicht helfen konnten, sich zu befreien.
Was charakterisiert eine Depression? Vor allem Hoffnungslosigkeit, Verlust der Energien, große Müdigkeit, Angst, Mangel an Antrieb, an Interessen. Der Zugang zu den eigenen Gefühlen ist blockiert. All die Symptome können gleichzeitig oder einzeln vorkommen, auch bei einem Menschen, der nach außen scheinbar gut funktioniert, der sogar an seinem Arbeitsplatz sehr viel leistet, sich mitunter auch therapeutisch betätigt und anderen zu helfen versucht. Nur sich selbst kann er nicht helfen. Warum?
Ich habe 1979 im „Drama des begabten Kindes“ beschrieben, wie es manchen Menschen gelingt, sich mit Hilfe grandioser Phantasien oder auch ungewöhnlicher Leistungen von der Depression fernzuhalten, und wie dies gerade bei Psychoanalytikern oder Therapeuten der Fall sein kann, die in ihrer Ausbildung lernen, andere zu verstehen, aber nicht sich selbst. Ich habe das zurückgeführt auf die Kindheitsgeschichte derer, die diesen Beruf wählen, und aufgezeigt, dass sie sehr früh lernen mussten, die Not ihrer Mütter und Väter zu spüren, darauf einzugehen und die eigenen Gefühle und Bedürfnisse dabei aufzugeben. Die Depression ist der Preis, den der Erwachsene für diese Selbstaufgabe bezahlt. Er hat sich ja immer gefragt, was die Anderen von ihm brauchen und so kommt es, dass er seine ureigenen Gefühle und Bedürfnisse nicht nur vernachlässigt, sondern sie gar nicht kennt. Aber der Körper kennt sie und besteht darauf, dass der Mensch seine echten, authentischen Gefühle leben darf und sich das Recht nimmt, diese auszudrücken. Für Menschen, die als kleine Kinder für die Bedürfnisse der Eltern gebraucht wurden, ist das jedoch keine Selbstverständlichkeit.
Auf diese Weise verlieren viele im Laufe ihres Lebens vollständig den Kontakt mit dem Kind, das sie waren. Eigentlich hatten sie ihn niemals, aber der Zugang wird mit wachsendem Alter noch erschwert. Andererseits wird durch die zunehmende, altersbedingte Hilflosigkeit die Situation des Kindes körperlich angemahnt. Dann spricht man von der Altersdepression und meint, man müsse diese als selbstverständlich hinnehmen.
Das ist aber nicht so. Ein Mensch, der seine Geschichte kennt, muss im Alter nicht depressiv werden. Und wenn er depressive Phasen erlebt, dann genügt es, dass er seine echten Gefühle zulässt, um diese aufzulösen. Denn die Depression ist in jedem Alter nichts anderes, als die Flucht vor all den Gefühlen, die die Verletzungen der Kindheit aufleben lassen könnten. Damit entsteht im Betroffenen eine innere Leere. Wenn die seelischen Schmerzen um jeden Preis gemieden werden müssen, bleibt im Grunde nicht viel übrig, was die Lebendigkeit erhalten würde. Man kann mit außergewöhnlichen Leistungen auf intellektuellem Gebiet aufwarten, aber innerlich kann man als emotional unentwickeltes Kind sein Dasein fristen. Das gilt für jedes Alter.
Die Depression, die diese innere Leere spiegelt, ist wie gesagt das Resultat der Vermeidung von allen Emotionen, die mit den früh erfahrenen Verletzungen verknüpft sind. Das führt dazu, dass ein depressiver Mensch auch bewusste Gefühle kaum noch erleben kann. Es sei denn, dass er, ausgelöst durch ein äußeres Ereignis, von Gefühlen überflutet wird, die völlig unverständlich bleiben, weil ihm die wahre, nicht idealisierte Geschichte seiner Kindheit unbekannt ist und er diesen Einbruch der Gefühle wie eine plötzliche Katastrophe erlebt.
Patienten, die eine psychotherapeutische Klinik aufsuchen, hören immer wieder, dass sie nicht auf die Kindheit zurückgreifen dürfen, dass sie dort keine Antworten finden werden, dass sie endlich alles vergessen sollten und sich in der neuen Situation zurechtfinden müssten. Es ist sehr bezeichnend, wie sehr man bemüht ist, dass die Patienten sich nicht aufregen und deswegen Besuche von Angehörigen verbietet. Die Sichtweise, dass eine solche Begegnung, gerade weil sie emotional stark auf den Patienten wirkt, belebend sein kann (wobei die Emotionen nicht schaden, sondern im Gegenteil helfen), hat überwiegend noch keinen Einlass in die Kliniken gefunden. Wie tragisch sich solche Anordnungen im einzelnen Leben mitunter auswirken, lässt sich bei der Lektüre des Briefwechsels zwischen dem Dichter Paul Celan und seiner Frau nachempfinden. Man untersagte ihm konsequent die Besuche seiner Frau in der Klinik und verstärkte damit noch seine Einsamkeit und die Erkrankung.
Eine spektakuläre Art, unbewusst seine Einsamkeit in die Welt hinauszuschreien und seine Kindheitsgeschichte zu erzählen, finden wir beim König Ludwig II. von Bayern. Dieser König baute prunkvolle Schlösser, die er nie nutzte. In einem hielt er sich im ganzen elf Tage, in den anderen gar nicht auf. Die wunderbaren Schlösser wurden mit sehr viel Sorgfalt und nach den neuesten Prinzipien der Technik gebaut. Sie werden heute von unzähligen Touristen besucht, von manchen bewundert oder als Kitsch belächelt, von einigen als bizarre Ausgeburt eines kranken Geistes angesehen. Denn Ludwig bekam schon zu seinen Lebzeiten die Diagnose „Schizophrenie“, die sich bis heute erhalten hat und die eigentlich nichts erklärt. Oder sie besagt so viel, dass ein absurdes Verhalten die Folge einer genetischen Erkrankung sei und daher gar keinen Sinn ergeben könne.
Mit diesem irreführenden Wissen ausgestattet, ziehen die Besucher durch die Säle der luxuriösen Schlösser, die ein „kranker“ König mit den Geldern seiner Untertanen bauen ließ. Und bis jetzt scheint sich niemand die Frage gestellt zu haben: Was geschah an der Schwelle dieses königlichen Lebens? Weshalb baute dieser Mensch Schlösser, in denen er nicht wohnte? Was wollte er damit sagen? Wollte er eine Geschichte erzählen, die sein Körper gespeichert hat und gut kannte, die aber sein Bewusstsein abspalten musste, weil es verboten ist, die eigenen Eltern anzuklagen?
Ludwig wurde als erstes Kind seiner Eltern von Geburt an einer rigiden Erziehung unterworfen, die aus ihm ein einsames, nach Liebe und Kontakt ausgehungertes Kind machte. Vor allem wurde er niemals verstanden. Das hochsensible Kind findet keine Heimat bei seinen Eltern, wird als dumm eingeschätzt und den Dienstboten überlassen. Bei ihnen bekommt der Junge das Brot, das man ihm im Schloss verweigert, damit er lernt, seinen Hunger zu disziplinieren. Dass solche Erziehungsmethoden ganz einfach sadistisch sind, somit auf die Kindheit der Eltern zurück gehen, kann das Kind nicht verstehen. Auch wenn der Erwachsene es später verstehen sollte, wird ihm dies nicht viel nützen, weil sein Körper auf dem Durchfühlen seiner Geschichte, seiner wahren verdrängten Emotionen besteht. Das war aber Ludwig II. sein ganzes Leben lang nicht möglich: daher das absurde Verhalten, Schizophrenie genannt. Der König respektierte seine Eltern, wie es sich gehört. Er durfte niemals das Gefühl der Frustration zulassen, richtete später seinen Zorn allenfalls gegen Dienstboten. Die nicht durchlebte Ohnmacht des Kindes, das man im Luxus zum Hungern verdammt, ließ ihm nur das Gefühl der Angst.
Diese Angst bewirkte seine Einsamkeit als Erwachsener. Er mied die Menschen, litt unter Albträumen, fürchtete, plötzlich von jemandem überfallen zu werden. Dass diese Furcht auf reale Erlebnisse in der Kindheit zurückgeführt werden kann, ist durchaus wahrscheinlich. Denn Ludwig lebte seine Sexualität im geheimen, ließ sich Photos von schönen Jünglingen schicken, die glaubten, sie seien als Modelle zum Aktzeichnen ausgesucht worden. Doch einmal in den Gemächern des Königs, wurden die jungen Männer von ihm missbraucht. Ein solcher Missbrauch und Betrug sind unwahrscheinlich, wenn der Missbraucher nicht selbst missbraucht worden wäre. Der Schluss liegt also nahe, dass Ludwig als Kind sexuelle Gewalt erlitten hat. Dies muss nicht unbedingt innerhalb der eigenen Familie geschehen sein. Wir wissen ja aus den Aufzeichnungen des Hofarztes Horoard, was dem französischen König Louis XIII. in seiner Kindheit vom Personal zugefügt wurde (AM, Du sollst nicht merken).
Das alles hätte nicht zur „Schizophrenie“ führen müssen, wenn sich ein Mensch gefunden und dem heranwachsenden Ludwig geholfen hätte, seine Lage zu sehen, die Haltung seiner Eltern als grausam zu erkennen und sich dagegen zu wehren oder zumindest, sich seinen Zorn einzugestehen, oder sich später mit ihm zu fragen, was er bei der Planung der Schlösser empfand. Womöglich wollte er in kreativer Form unbewusst etwas darstellen, das er auf keinen Fall bewusst denken durfte: wie er nämlich als Kind trotz des großen Luxus wie ein Niemand leben musste. Er wurde von seinen Eltern nicht wahrgenommen, mit seinen Begabungen nicht erkannt (der Vater hielt ihn für nicht interessant genug, um ihn auf seine Spaziergänge mitzunehmen) und nicht einmal ausreichend ernährt, so dass er sich mitunter bei Bauern außerhalb des Schlosses satt essen musste.
In den vielfältigen Dokumentationen, die sich im Internet über das Leben Ludwig II. finden, wird über die Kindheit des Königs folgendes berichtet:
„Die Lebensweise der beiden Prinzen war eine sehr einfache. Es gehörte zu den Torheiten der damaligen vornehmen Erziehung, dass man Kinder sich nicht satt essen ließ, und der künftige König war sehr froh, wenn ihm die treue Wärterin Lisi und Lakaien zuweilen Proviant aus der Stadt mitbrachten oder etwas von ihrer reichlicheren Kost mitteilten.
Für jugendliche Streiche und Pflichtversäumnisse werden die Prinzen unnachsichtig bestraft. Durch diese strenge Erziehung will der Vater, König Max II., seine Söhne zu tüchtigen, arbeitsamen Fürsten machen. …
Zu seinen Söhnen findet Max II. kein vertrauensvolles Verhältnis, besonders dem ganz anders gearteten Kronprinzen steht er innerlich fremd gegenüber und nimmt an seinem Entwicklungsgang wenig Anteil. Hierüber erzählt Franz von Pfistermeister, der langjährige Kabinettssekretär Max. II. und Ludwigs II., in seinen Erinnerungen:
>Der König sah seine beiden Söhnchen, die Prinzen Ludwig und Otto, des Tages nur ein- oder zweimal, mittags beim zweiten Frühstück und abends bei der Hoftafel, gar selten in den Zimmern, wo sie aufwuchsen. Dabei reichte er ihnen meist nur die Hand zum Gruße und empfahl sich schleunigst. Es kostete, als der Kronprinz schon seiner Volljährigkeit nahe stand, viel und lange Mühe, den König zu bewegen, seinen ältesten Sohn auf den Morgenspaziergang im Englischen Garten (von 9-10 Uhr) mitzunehmen. Das wiederholte sich jedoch nur wenige Male. Der König äußerte: Was soll ich mit dem jungen Herrn sprechen? Es interessiert ihn nichts, was ich anrege.<
Die Erinnerung an seinen verfehlten Erziehungsgang und an das kühle Verhältnis zu seinem Vater hat Ludwig zeitlebens belastet. Als Dreißigjähriger schreibt er an den Kronprinzen Rudolf von Österreich:
>Du bist sehr zu beglückwünschen, eine so durch und durch ausgezeichnete, verständnisvolle Erziehung genossen zu haben, ein Glück ferner ist es auch, dass der Kaiser persönlich so lebhaft für Deine Ausbildung sich interessiert. Bei meinem Vater ist dies leider ganz anders gewesen, stets hat er mich de haut en bas [von oben herab] behandelt, höchstens en passant einiger gnädiger, kalter Worte gewürdigt. Diese eigentümliche Art und sonstige Erziehungsmethode wurde aus dem sonderbaren Grunde beliebt, weil es bei seinem Vater ebenso gehalten wurde.<
Die Mutter des Kronprinzen, Königin Marie, in ihrer Jugend eine gefeierte Schönheit, ist eine gütig-freundliche, aber beschränkte Frau ohne alle geistigen Interessen. Paul Heyse, einer der Mitglieder des Münchner Dichterkreises um Max II., berichtet über sie:
>Trotz alles Bemühens aber war es nicht gelungen, der Königin Interesse an Literatur und Poesie einzuflößen. Ihr war nur wohl im leichtesten Geplauder … .<
Zum Herzen ihrer Kinder findet Königin Marie keinen rechten Zugang. Franz von Pfistermeister berichtet in seinen Aufzeichnungen:
>Auch die Königin verstand es sehr wenig, ihre Prinzchen an sich anzuziehen. Sie besuchte sie zwar häufiger in ihren Zimmern, wusste sich aber nicht mit ihnen abzugeben, wie Kinder es eben verlangen. Das zog die Söhnchen auch nicht an die Mutter.<„
Auch wenn Einzelheiten aus der Kindheit eines Menschen bekannt sind, wird fast nie ein Zusammenhang mit dem Leiden des Erwachsenen hergestellt. Man spricht von einem tragischen Schicksal, ohne die Natur dieser Tragik näher verstehen zu wollen. Jemanden, der sich und ihn nach dem tieferen Sinn der Schlösser gefragt hätte, scheint es im Leben Ludwigs nicht gegeben zu haben. Auch heute noch gibt es trotz zahlreicher Filme über den „armen“ König offenbar niemanden, der die Geburtsstunde der sogenannten „Schizophrenie“ in seiner Kindheit gesucht hätte. Indessen untersuchen zahlreiche Wissenschaftler gewissenhaft alle Details seiner Bauten und veröffentlichen darüber Bücher. Das Endprodukt eines Wahns findet großes Interesse. Doch dessen Entstehen ist von tiefem Schweigen umgeben, weil wir die Genese dieser Erkrankung nicht verstehen können, ohne die Lieblosigkeit und Grausamkeit der Eltern aufzudecken. Und das macht den meisten Menschen Angst, weil es sie an das eigene Schicksal erinnern könnte.
Es ist die Angst der missachteten oder gar tyrannisierten Kinder vor dem wahren, unverstellten Gesicht ihrer Eltern, die Angst, die uns zum Selbstbetrug und damit in die Depression führt. Nicht nur die einzelne Person, sondern fast uns alle, die ganze Gesellschaft, die glaubt, dass Medikamente das Problem nun ein für alle Mal gelöst haben. Doch wie sollte dies möglich sein? Die meisten von mir erwähnten Selbstmörder nahmen Medikamente, aber ihr Körper ließ sich nicht täuschen und lehnte ein Leben ab, das im Grunde keines war. Die meisten Menschen halten ihre Kindheitsgeschichte tief in ihrem Unbewussten begraben und haben es ohne Begleitung schwer, an ihre Ursprünge heranzukommen, auch wenn sie es wollten. Sie sind darauf angewiesen, dass die Fachleute ihnen helfen, den Selbstbetrug aufzudecken und sich von den Ketten der traditionellen Moral zu befreien (Tschechow schrieb in einem Brief: „Ich habe Angst vor unserer Moral“, Bunin, Seite 263). Doch wenn die Fachleute lediglich Medikamente verschreiben, dann helfen sie, die Angst zu zementieren und erschweren zusätzlich den Zugang zu den eigenen Gefühlen, deren befreiende Möglichkeiten ungenützt bleiben.
Ich persönlich verdanke mein Erwachen vor allem dem spontanen Malen. Das will aber nicht heißen, das Malen könne als Rezept gegen die Depression empfohlen werden. Nicolas de Stael, dessen Können ich früher sehr bewunderte, malte in den letzten sechs Monaten seines Lebens 354 große Bilder. Er arbeitete getrennt von seiner Familie in Antibes mit großer Intensität an seinem Werk und dann „stürzte er sich von der Terrasse, die während der letzten sechs Monate sein Atelier gewesen war, in den Tod.“ („Nicolas de Stael“, Edition Centre Pompidou, 2003) Zu diesem Zeitpunkt war er vierzig Jahre alt. Sein Können, um das so viele Maler ihn beneideten, bewahrte ihn nicht vor der Depression. Vielleicht hätten wenige Fragen genügt, um ihn zum Nachdenken zu veranlassen. Seine Malerei, seine Begabung wurden von seinem Vater, der vor der russischen Revolution ein General gewesen war, niemals anerkannt. Es mag sein, dass de Stael in seiner Verzweiflung hoffte, es gelänge ihm eines Tages, das entscheidende Bild zu malen, das ihm die Anerkennung seines Vaters und dessen Liebe einbringen würde. Womöglich gibt es einen Zusammenhang zwischen der Überanstrengung am Ende seines Lebens und dieser Not. Nur de Stael selbst hätte dies herausfinden können, wenn die entscheidenden Fragen nicht verboten gewesen wären. Dann wäre er vielleicht zu der Einsicht gekommen, dass die Wertschätzung des Vaters nicht von der hohen Leistung des Sohnes abhängt, sondern lediglich von der Fähigkeit des Vaters, die Qualität eines Bildes zu beurteilen.
In meinem Fall war es entscheidend, dass ich mir solche Fragen immer wieder gestellt habe. Ich ließ mir von meinen Bildern meine verschollene Geschichte erzählen, eigentlich nur von meiner Hand, die offenbar alles wusste, aber wartete, bis ich bereit war, mit dem kleinen Kind zu fühlen. Und da sah ich immer wieder dieses Kind, das von seinen Eltern nur gebraucht, aber niemals gesehen, geachtet oder ermutigt wurde und seine Kreativität tief verstecken musste, um nicht auch noch für diese bestraft zu werden.
Man muss Bilder nicht von außen analysieren. Das wäre für einen Maler kaum hilfreich. Doch seine Bilder können beim Maler selbst Gefühle wecken. Wenn er diese Gefühle erleben und ernst nehmen darf, kann er sich näher kommen und die Barrieren der Moral überwinden. Dann ist es ihm möglich, sich mit seiner Vergangenheit und seinen verinnerlichten Eltern zu konfrontieren und mit ihnen anders als bisher umzugehen. Aus dem wachsenden Bewusstsein heraus und nicht aus der kindlichen Angst.
Wenn ich nämlich spüren darf, was mich schmerzt und was mich freut, was mich ärgert oder gar wütend macht und warum; wenn ich weiß, was ich brauche und was ich auf keinen Fall will, dann kenne ich mich gut genug, um mein Leben zu lieben und es interessant zu finden, unabhängig vom Alter oder von meinem gesellschaftlichen Status. Dann wird kaum das Bedürfnis entstehen, das eigene Leben zu beenden, es sei denn, der Altersprozess, die zunehmende Schwächung des Körpers würden solche Gedanken nahe legen. Aber auch dann wird ein Mensch wissen, dass er sein wahres, sein eigenes Leben gelebt hat.
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