Geborgenheit in der Moral oder Die Wahrheit der Erfahrungen

von Thomas Gruner

Geborgenheit in der Moral oder Die Wahrheit der Erfahrungen
Monday 01 March 2004

Über das neue Buch von Alice Miller: “Die Revolte des Körpers”

Ein Buch erscheint nicht nur auf “dem Markt”, es erscheint in einer bestimmten Zeit und in einem konkreten gesellschaftlichen Klima.
Man könnte den Eindruck bekommen, dass sich heute die Menschen von sämtlichen Tabus befreit haben, die uns bis vor kurzem als moralische und sittliche Gebote unserer Vorfahren noch so streng regierten. Es scheint so, als ob wir nicht mehr den Forderungen der Religion oder der Konvention genügen müssten, um nicht von anderen sanktioniert und ausgegrenzt zu werden. Auf öffentlichen Massenveranstaltungen zur Schau gestellte Sexualität ist beispielsweise eine Mode geworden; in Sendungen des Fernsehens erscheinen Menschen und enthüllen die verblüffendsten sexuellen Praktiken, an denen sie Vergnügen finden. Wagt es hingegen jemand, an die unverblümte Korruptheit zahlreicher politischer und ökonomischer Entscheidungsträger nur zu erinnern, wird er als “Gut-Mensch” verspottet. Wir sind frei, sagen die Leute und freuen sich, wir können machen, was wir wollen, nur keine Hemmungen; wir sind frei, verkünden die Medien im Chor.
Konservativere Zeitgenossen beklagen hin und wieder den Verfall der guten Sitten und etwas intelligentere Menschen äußern sich besorgt über den “fröhlichen Nihilismus”, der das gesellschaftliche Klima beherrsche. Gibt es also in der Tat kein eisernes Korsett mehr, in dem Menschen sich eingeschnürt fühlen und keine Luft mehr bekommen, eben weil die sogenannte postmoderne Gesellschaft die Tabulosigkeit gerade zur Norm erklärt hat?

Das neue Buch von Alice Miller Die Revolte des Körpers zeigt sehr klar, mit welchen Tabus wir es immer noch zu tun haben. Wir dürfen alles machen und alles aussprechen, nur eines dürfen wir nicht: traurig sein, sagen, was uns als Kind geschehen ist, ausdrücken, was uns das ausmachte und was wir fühlen. Vor allem dürfen wir nicht eindeutig artikulieren: Es waren meine Eltern, die mir das angetan haben und deshalb kann und will ich sie nicht lieben, wenn ich mich mit dieser Liebe nicht selbst zugrunde richten will. Jeder Mensch kann ausprobieren, ob dieses Tabu noch gültig ist oder nicht.
Trotz aller Freizügigkeit diktiert das Vierte Gebot teils ausdrücklich, aber auch eher verhüllt in den Ansprüchen der herkömmlichen, in Wahrheit eben nicht bewusst hinterfragten Moral bis heute, was wir fühlen sollen und was wir keinesfalls fühlen dürfen. Das Vierte Gebot sagt: Du bist deinen Eltern Achtung und Dankbarkeit schuldig, dein Leben lang, was auch immer sie getan haben. Und wenn du dich dagegen auflehnst, verlierst du dein Leben.
Der erste Teil des Buches widmet sich den Biographien berühmter Schriftsteller aus unterschiedlichen Epochen. Sie alle haben gemeinsam, dass sie unter anderem die Unfreiheit der unterdrückten Menschen ihrer Zeit darstellten (Schiller, Dostojewski, Tschechow) oder aber wie Marcel Proust, Arthur Rimbaud, Virginia Woolf und Yukio Mishima gegen die Konventionen und Tabus ihrer Gesellschaft rebellierten. Sie lehnten sich auf gegen die Moral und gehorchten ihr, ahnungslos, doch. Mishima etwa bekennt mit einer schonungslosen Offenheit seine sexuellen Phantasien, nur die eigene Not als Kind kann er nicht sehen. Virginia Woolf verachtet die Enge der viktorianischen Zeit, doch für die Stiefbrüder, die sie in der Kindheit missbrauchten und vergewaltigten, findet sie kaum ein Wort der Verurteilung oder Anklage. Rimbaud reist bis in die entlegensten Orte Afrikas, auf der Suche nach Freiheit und auf der Flucht vor der Mutter und kehrt zu ihr zurück, um zu sterben. Marcel Proust darf sein großes Werk A la Recherche du Temps perdu erst nach dem Tode der Mutter schreiben; auch er stirbt, wie zur Strafe, als er es beendet hat.
Weder die sexuelle Freizügigkeit noch der Aufbruch in eine ferne, andere Welt, noch die scharfsinnige Kritik an der Gesellschaft kann einen Menschen wirklich befreien, solange das Kind, das wir waren, nicht (anstelle etwa der Libertinage oder des Selbstbetrugs) die echte Freiheit erhält, die es braucht: angehört und verstanden zu werden. Der Körper versucht immer wieder, auf diese Not aufmerksam zu machen, er gibt Signale in Form von Depressionen, schweren seelischen Schmerzen oder einer Fülle physischer Symptome; der Körper rebelliert gegen die Fassade, die Existenz hinter der Maske. Werden diese Signale nicht verstanden, kann sich ein Mensch unter Umständen selbst zerstören. Die Künstler, von denen Alice Miller berichtet, nehmen sich das Leben oder sterben langsam in einem frühen Alter an schweren Erkrankungen.

Alle diese Schriftsteller wussten nicht, dass sie sich letztlich doch der Moral unterwarfen und die Hoffnung auf die Liebe der Eltern niemals aufgeben konnten. Sie blieben, obwohl außergewöhnlich begabt, schöpferisch und hellsichtig in vielen Dingen, blind für ihr eigenes Schicksal als Kind. Das macht die Tragik ihres Lebens aus.
Warum fällt es uns auch heute noch so schwer, uns von der Forderung zu lösen, den Eltern Liebe zu schulden? Die Aussage des Vierten Gebotes ist tief in unserer Kultur verankert; das Alte und das Neue Testament erzählen immer wieder, als sei es eine Selbstverständlichkeit, von der Opferung des Kindes, bis hin zu Jesus von Nazareth, der sich freiwillig ans Kreuz schlagen lässt, weil dies “der Vater im Himmel” ausdrücklich wünscht. Dann, so suggeriert die Bibel, kann “das Reich Gottes auf Erden” kommen, nicht heute, nicht morgen, irgendwann aber doch. Darin ist allerdings auch die Botschaft verborgen, erst, wenn du deine Existenz den Eltern opferst, darfst du leben, wirst du das Paradies erlangen. Schon den Anfängen unserer Kultur liegt somit eine zutiefst lebensfeindliche und widersinnige Aussage zugrunde, die nicht durchschaut werden darf.
Aber nicht nur die Drohung “wehe dir, wenn du die Eltern nicht lieben kannst” ist nach wie vor gültig, vielmehr wird ganz selbstverständlich vorausgesetzt und nicht in Frage gestellt, dass der Erwachsene die einst misshandelnden und missbrauchenden Eltern liebt, weil jedes Kind tatsächlich so fühlt.
Alice Miller stellt im zweiten Teil ihres Buches eine im Grunde einfache Frage: Ist es wirklich Liebe, was der Erwachsene für die Eltern, die ihm Schaden zugefügt haben, empfindet? Was ist es, das wir so oft Liebe für die Eltern nennen? Sie beschreibt unter anderem, wie Menschen mit schweren Symptomen Therapien aufsuchen; manche haben einige gescheiterte Versuche hinter sich und brauchen dringend Hilfe. Nun haben sie endlich jemanden gefunden, der ihnen wenigstens für eine Stunde in der Woche ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt und ihnen erlaubt, ihre Gefühle und Erlebnisse zu artikulieren. Allein dadurch erfahren sie zunächst eine Erleichterung und sind den Therapeuten dankbar. In den verschiedenen Situationen der Begegnung mit den inzwischen alten, teils hilfsbedürftigen Eltern mögen viele Leserinnen und Leser Erfahrungen aus ihrem eigenen Leben wiedererkennen. Erneut brauchen die Eltern ihre erwachsenen Kinder auf vielfältige Art und Weise, deren Symptome sich verschlimmern, weil sie in der Therapie nicht danach gefragt werden, was sie wirklich den Eltern gegenüber fühlen, was sie tatsächlich brauchen und wollen. Kaum ein Therapeut sagt ihnen, dass sie den Eltern weder Mitleid noch Dankbarkeit schulden, von denen sie immerhin schwer misshandelt oder vernachlässigt wurden.
Ich musste daran denken, wie es mir selbst erging, als mein Vater, schwer krank, im Sterben lag. Immer dann, wenn meine Mutter sich an mir vergriffen hatte, saß er als schweigender Zeuge dabei und sah mich, nicht etwa meine Mutter mit verächtlichen Blicken an. Dann zog er es vor, den Raum zu verlassen. Entweder setzte er sich vor das Fernsehgerät oder er spazierte, besonders gerne im Frühjahr, durch den Garten, um das Gedeihen der Fliederbäume und Forsythien zu beobachten: Heil war die Welt im eigenen Haus nebst großem Garten, was interessierte ihn, dass ich in der Zwischenzeit beinahe vor die Hunde ging. Ich war ja bloß sein Sohn. Jetzt stand das Telefon in meiner Berliner Wohnung nicht mehr still, mein Bruder, meine Mutter, Verwandte forderten mich auf, zu meinem Vater zu kommen. Dies sei meine Pflicht als Sohn. In der Analyse sprach ich dann von meiner Zerrissenheit, dass ich nicht fahren wollte, weil dieser Mann mich immer im Stich gelassen hatte, dass ich aber auch starke Schuldgefühle empfand, ihm nicht zu helfen. Zugleich tauchte auch die Sehnsucht des kleinen Jungen nach dem Schutz und der Anerkennung des Vaters wieder auf. Dem sterbenden Vater, fand meine Therapeutin, kann man nichts mehr vorwerfen. Das macht man einfach nicht. Warum hat die Analytikerin mir nicht gesagt, dass ich meinen Vater nicht aufsuchen muss, wenn es mir unmöglich ist, ihm beizustehen, weil er mir nur Hass und Verachtung entgegengebracht und mich meiner Mutter buchstäblich zum Fraß vorgeworfen hat? Wäre es nicht eigentlich pervers, einem solchen Menschen zu helfen? Soll das Liebe sein? Was bin ich einem Vater schuldig, der mich ganz offenbar niemals geliebt hat?
Das Buch zeigt, wie sehr die gegenwärtigen Therapien von der Moral, dem Vierten Gebot vergiftet und durchseucht sind. Nahezu ausnahmslos wird vorausgesetzt, dass die Patienten den Eltern vergeben müssen, um, so wird ihnen versprochen, “inneren Frieden” zu finden, frei zu werden von den Folgen der Vergangenheit und unbelastet von erschreckenden starken Gefühlen der Wut oder der Verzweiflung. So versuchen Menschen unter Umständen lange, ihre Authentizität zugunsten der Ideologie der Vergebung zu unterdrücken, doch genau das macht sie krank. Auch die in modernen Therapien inzwischen häufig angebotenen Übungen, wie das Imaginieren positiver innerer Bilder, werden die Realität der Kindheit nicht verändern, sondern allenfalls für einige Zeit “erwünschte” Gefühle produzieren. Alice Miller macht darauf aufmerksam, wie gefährlich gerade solche Manipulationen sein können. Denn solange die Patienten diese Falle nicht durchschauen, wehrt sich ihr Körper mit Hilfe der Symptome. Wenn ein Mensch aber erkennt, was er heute wirklich braucht, zu den authentischen Bedürfnissen des Erwachsenen findet und zu seinen echten Gefühlen steht, kann der Körper die Sprache der Symptome langsam aufgeben, weil der Betreffende sich nun selbst versteht.
Ich hatte damals auf eine Art Glück, ich bin nicht zu meinem Vater gefahren und konnte die innere Zerrissenheit zwischen Sehsucht, Schuldgefühlen und Aufbegehren alleine tragen. Doch wie viele Umwege und Sackgassen hätte ich mir womöglich ersparen können, wenn in der Analyse die Frage gestellt worden wäre: Was fühlst und willst du wirklich? Sind Mitleid und Erwartungen Liebe? Wofür bist du dankbar? Für die Lieblosigkeit und die Gewalt? Warum empfindest du Mitleid mit dem Vater, der dich hasste, und nicht mit dem Kind, das du gewesen bist? Doch die Analytikerin fügte sich gehorsam in die Moral, im übrigen auf meine Kosten.
Im Gegensatz zu fast allen mir bekannten Autoren, die sich mit den Schicksalen einst misshandelter Menschen beschäftigen, verspricht Alice Miller nichts, schon gar kein Paradies, und erteilt keine guten Ratschläge, sie vermittelt die Botschaft: Wir müssen überhaupt nichts, wir dürfen aber alle unsere Gefühle wahrnehmen und artikulieren, nach unseren echten Bedürfnissen fragen und diesen gemäss leben.

Das in einem fiktiven Tagebuch dargestellte Hungern der jungen Frau Anita Fink macht schließlich deutlich, wie ein Mensch leidet, wenn er die Nahrung, die Angebote der Eltern, der Gesellschaft, der Ärzte und Therapeuten nicht gebrauchen kann, weil sie ihm nicht entsprechen. Ich habe mich gefragt, wie viele Menschen davon betroffen sind, dass ihre echten Bedürfnisse von Beginn ihres Lebens an niemals beantwortet wurden. Vielleicht wurden sie weder geschlagen noch sexuell ausgebeutet, womöglich leiden sie auch nicht unter Anorexie wie Anita Fink, aber sie spüren, dass ihnen etwas fehlt und können doch nicht wissen, was sie brauchen, weil sie es niemals kennen gelernt haben. So verlieren sie die Lust auf das Leben. Wenn sie erkennen dürfen, wonach sie hungern, was ihnen so sehr fehlt, wenn sie erleben, dass sie ihre Bedürfnisse vor allem nach echter Kommunikation nicht verleugnen müssen, gewinnen sie in sich selbst einen Halt, der es ihnen immer wieder ermöglichen wird, verlogene Ideologien und Heilslehren auch in der Psychotherapie, destruktive Strukturen und Botschaften zu durchschauen und sich von Menschen zu trennen, die ihnen Schaden zufügen. So wird auch das Symptom der Depression überflüssig, die nur dann wieder auftaucht, wenn die authentischen Bedürfnisse ignoriert werden.
Dieser Halt, den ein Mensch an sich und in sich selbst hat, ist etwas ganz anderes als die scheinbare Geborgenheit in der Moral, die jede authentische Unruhe und Auflehnung befrieden will. Im Gegensatz zum Kind braucht der Erwachsene die Liebe der einst misshandelnden Eltern nicht mehr, um überleben zu können. Ihm wird nichts genommen, er verliert allerdings in einem durchaus schmerzhaften Prozess seine Illusionen. Mit der Zeit kann er dadurch lernen, für sich zu sorgen, indem er sich immer wieder von den Signalen des Körpers leiten lässt. Er kann versuchen, Menschen zu finden, die seine Liebe, seine Zuneigung viel mehr verdienen, oder wird die Erfahrung machen, dass er über die Fähigkeit verfügt, Zeiten der Einsamkeit zu tragen. Dann muss sich ein Mensch weder in das Hungern flüchten noch in dessen Kehrseite: die Esssucht oder den Konsum von Drogen. Dies ist keine Anleitung zum Glücklich-Sein, es geht vielmehr darum, mit dem Bewusstsein der eigenen Geschichte, in engem Kontakt mit dem Kind, das wir einmal waren, zu leben.

Wer sich heute gegen die Moral ausspricht, läuft in Gefahr mit den Anhängern der Spaßgesellschaft verwechselt zu werden, die sich damit brüstet, an keinerlei Werte gebunden zu sein.
Doch stellt sich heraus, dass auch einer Gesellschaft, die ganz offenbar bankrott ist, die vielleicht deshalb den Spott über echtes Leiden und das ewige hysterische Gelächter zur Pflicht erhoben hat, sehr wohl lebensbejahende, nicht destruktive Werte entgegengesetzt werden können: Authentizität, echte Kommunikation und das Vermögen, zu sich selbst, zur eigenen Geschichte und den eigenen Bedürfnissen zu stehen.
Die Revolte des Körpers ist deshalb auch ein Buch gegen den “Zeitgeist”, die herrschenden “Trends” und erscheint am 10. März im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main.