Wir können die Ursachen für unser Leiden finden

von Alice Miller

Wir können die Ursachen für unser Leiden finden
Wednesday 01 March 2006

Zur Überwindung der Folgen von Misshandlungen

Fast ausnahmslos sind alle Menschen mit körperlichen Bestrafungen aufgewachsen, das heißt auch mit der Angst und der Wut, die lange Zeit unbewusst bleiben, denn das Kind muss seine starken Emotionen unterdrücken, um die Liebe für seine Eltern aufrecht zu erhalten, ohne die es nicht überleben könnte. Diese Emotionen bleiben aber in unserem Körper gespeichert und können beim Erwachsenen mehr oder weniger schwerwiegende Symptome verursachen. Man kann an Depressionen, Panikattacken und gewalttätigen Reaktionen gegenüber seinen Kindern leiden, ohne dass die wahren Ursachen der Verzweiflung, der Angst oder der Wut bewusst werden. Dürfte man diese Ursachen erkennen, würde man nicht krank werden, weil man wüsste, dass die Mutter oder der Vater keine Macht mehr über uns haben und uns nicht mehr schlagen können.

In den meisten Fällen wissen wir nichts über die Gründe unseres Leidens, weil eine vollkommene Amnesie seit langem die Erinnerung an die Prügelstrafen verdeckt – zunächst um das Gehirn des Kindes zu schützen. Doch diese Amnesie ist verhängnisvoll, denn sie wird dann chronisch und erschwert uns die Orientierung. Obwohl sie uns vor den Erinnerungen schützt, kann sie uns nicht vor schwerwiegenden Symptomen bewahren, wie beispielsweise vor der Angst, die immer wieder Gefahren signalisiert, welche nicht mehr bestehen. Diese Gefahren waren früher vollkommen real, etwa wenn die Mutter ihr sechs Monate altes kleines Mädchen schlug, um ihm „Gehorsam beizubringen“. Wie alle anderen hat man diese Schläge überlebt, aber leidet dann vielleicht im Alter von sechsundvierzig Jahren an Herzproblemen.

So lässt man sich jahrelang mit Medikamenten behandeln, aber niemand (weder die Leidende noch der Arzt) stellt sich die Frage: Wo ist die Gefahr, die der Körper nicht aufhört zu signalisieren? Die Gefahr verbirgt sich in der Geschichte der Kindheit, aber alle Türen, die uns diese Perspektive eröffnen könnten, scheinen hermetisch verschlossen zu sein. Niemand versucht, sie zu öffnen, im Gegenteil, wir unternehmen alles, um uns nicht unserer Geschichte stellen zu müssen mit ihrem unerträglichen Schrecken, der uns so lange Zeit begleitet hat. Weil es sich um die verwundbarsten und ohnmächtigsten Jahre unseres Lebens handelt, will man nie mehr daran denken. Man will diese Ohnmacht nicht fühlen, und auf keinen Fall wollen wir uns an die Atmosphäre erinnern, die uns umgab, als wir klein waren und machtgierigen Menschen ausgeliefert.

Dennoch beeinflussen gerade diese Jahre den Rest unseres Lebens, und genau die Konfrontation mit dieser Zeit bietet uns den Schlüssel an für das Verständnis unserer Panikattacken, unseres Bluthochdrucks, unserer Magengeschwüre, unserer Schlaflosigkeit und – leider – unserer scheinbar unerklärlichen Wut auf ein kleines Baby, das schreit. Die Logik dieser Rätsel zeigt sich, sobald wir uns endlich über den Ursprung unseres Lebens bewusst werden wollen, das ja nicht im Alter von fünfzehn Jahren begonnen hat, sondern viel früher. Wir fangen dann an, unser Leiden zu verstehen, und gleichzeitig verringern sich nach und nach die Symptome. Der Körper braucht sie nicht mehr, weil wir von nun an die Verantwortung für das ehemals leidende Kind übernommen haben.

Dann wollen wir dieses Kind, das wir waren, verstehen, sein Leiden anerkennen und es nicht länger verleugnen. Wir wollen jetzt dieses einst geschlagene Kind begleiten, das in seiner Angst ohne einen helfenden Zeugen, ohne Trost und Halt ganz allein war. Indem wir dem Kind, das wir waren, eine Orientierung bieten, schaffen wir seiner Seele eine neue Atmosphäre, die ihm erlaubt, zu sehen, das nicht die ganze Welt voller Gefahren ist, sondern dass es vor allem die Welt seiner Familie fürchten musste, in jedem Augenblick seiner Existenz. Wir wussten nie, welche schlechte Laune unsere Mutter im nächsten Moment leiten mag, die sie auf uns richten würde. Wir wussten dann nie, wie wir unser Leben verteidigen sollten. Niemand ist uns zur Hilfe gekommen, niemand hat gesehen, dass wir in Gefahr waren, so haben wir selbst gelernt, dies nicht wahrzunehmen.

Vielen Menschen gelingt es, sich vor den Erinnerungen an ihre schreckliche Kindheit zu schützen, indem sie Medikamente wie etwa Antidepressiva einnehmen. Aber diese berauben uns unserer wahren Emotionen, und die logischen Reaktionen auf die Misshandlungen des Kindes können nicht ausgedrückt werden. Genau diese Tatsache hat aber die Krankheit ausgelöst.

Mit dem Beginn einer Therapie sollte sich dies ändern. Nun gibt es einen Zeugen für unser Leiden, der wissen will, was uns geschehen ist, und der uns helfen will, zu lernen, wie wir uns von der Angst befeien, von neuem erniedrigt, geschlagen, misshandelt zu werden, einen Zeugen, der uns hilft, das chaotische Leben unserer Kindheit zu verlassen, unsere Emotionen zu finden und schließlich mit unserer Wahrheit zu leben. Dank der Gegenwart dieses Menschen können wir die Verleugnung aufgeben und unsere emotionale Redlichkeit erlangen.

Wer sucht eine Therapie und warum? Im Allgemeinen sind es Frauen, die das Gefühl haben, ihrem Kind gegenüber zu versagen, und unter Depressionen leiden, die sie aber nicht als solche erkennen. Männer kommen eher auf Verlangen der Partnerin, aus der Angst heraus, verlassen zu werden, oder dann, wenn sie sich bereits in einer Trennungssituation befinden.

Gewöhnlich findet man bei der Mehrheit dieser Menschen die vollkommene Idealisierung ihrer Kindheit und die Rechtfertigung der Strafen. Oder sie berichten über erlittene Grausamkeiten ohne jegliche Emotionen.

Man erwartet von der Therapie die Lösung aller gegenwärtigen Probleme und eine Verbesserung des Befindens, ohne nur ein Mal die tiefen Emotionen fühlen zu müssen. Diese werden in der Regel gefürchtet wie der schlimmste Feind. Die Pharmaindustrie beantwortet diese Wünsche mit verschiedenen Mitteln, wie Viagra gegen Impotenz oder Antidepressiva, um die Depression zu überwinden, anstatt deren Ursachen zu verstehen.

Viele Therapeuten bieten Verhaltenstherapien an, um die Symptome ihrer Patienten zu bekämpfen, ohne deren Bedeutung und Ursache zu suchen. Sie behaupten dabei, diese seien unauffindbar – das ist allerdings nicht wahr. In allen Fällen kann man die Gründe für die Symptome herausfinden, aber sie sind immer in der Kindheit verborgen. Jedoch gibt es nur wenige Menschen, die sich mit ihrer Geschichte konfrontieren wollen.

Diejenigen, die dies möchten, können es tun, indem sie ihre Emotionen anerkennen, die man nur so lange fürchtet, bis ihre Ursachen verstanden wurden. Hat man im Rahmen der Therapie die Angst und die Wut auf die Eltern erst einmal erlebt und verstanden, ist man nicht mehr gezwungen, die Wut an Sündenböcken abzureagieren, am häufigsten an den eigenen Kindern. Auf diese Weise decken wir Schritt für Schritt die Realität unserer Geschichte auf. Von da an können wir das Leiden des Kindes, das wir gewesen sind, und die Grausamkeit, die wir in vollkommener Isolation erlitten haben, verstehen. Wir können nun fühlen, dass es gute Gründe dafür gegeben hätte, wütend und verzweifelt zu sein, als wir niemals verstanden, anerkannt und ernst genommen wurden. Indem wir diese Emotionen, die bislang nie ausgedrückt wurden, erleben, lernen wir uns besser kennen.

Viele Therapeuten leben noch in der vollständigen Verleugnung und haben nicht einmal für einen Moment das Leiden des Kindes gespürt, das sie selbst gewesen sind. Das lässt sich aus ihren Publikationen ableiten. Sie meinen also, ich würde überall nur das sehen, was ich als Kind erfahren musste, was aber eine Ausnahme bildet. Leider ist es keine Ausnahme, davon erfahre ich täglich seit Jahrzehnten, auch wenn selten darüber reflektiert wird. Doch es gibt auch eine bewusste Minderheit, Therapeuten, die ihre verdrängte Geschichte aufdecken wollen. Nachdem sie die Artikel auf meiner Webseite gelesen haben, stellen sie mir häufig Fragen, die ich hier beantworten möchte, bevor ich diesen Text abschließe:

1. Besteht nicht die Gefahr, die Eltern zu hassen und sie sogar nicht mehr sehen zu wollen, wenn man realisiert hat, wie sehr sie uns leiden ließen?

Meiner Meinung nach existiert dieses “Risiko” nicht, weil der berechtigte Hass, der erlebt und verstanden wurde, sich auflöst und uns für andere Emotionen frei werden lässt (vgl. Artikel „Was ist Hass“ ) – es sei denn, man zwingt sich zu Beziehungen, die man nicht will. Dann begibt man sich nämlich in eine Abhängigkeit, die die Ohnmacht des misshandelten Kindes wiederholt. Und gerade diese Ohnmacht stand ja am Ursprung des Hasses. Dennoch haben viele Menschen Angst, die Liebe für ihre Eltern zu verlieren, wenn sie deren Grausamkeit realisieren. Ich sehe das nicht als Verlust, sondern als Gewinn. Die Seele des Kindes brauchte die Liebe zu den Eltern, um zu überleben, sie brauchte auch die Illusion, geliebt zu werden, um nicht zu realisieren, dass sie in einer emotionalen Wüste aufwuchs. Aber der Erwachsene kann mit seiner Wahrheit leben, und sein Körper ist ihm dafür dankbar. Es ist ist in der Tat nicht nur möglich, sondern in bestimmten Fällen unbedingt notwendig, diese „Liebe“ zu verlieren, oder sie sogar aktiv aufzugeben, denn ein Mensch, der endlich in der Lage ist, das Kind, das er war, zu verstehen, kann nicht den Peiniger lieben, der es misshandelte, ohne sich zu belügen. Viele Menschen meinen, ihre Liebe zu den Eltern sei stärker als sie selber, das ist aber ganz und gar nicht wahr, wenn es um den Erwachsenen geht. Die Vorstellung, man sei an diese Liebe ohnmächtig gebunden, entspringt der kindlichen Sicht. Der Erwachsene ist frei, seine Liebe da zu investieren, wo er seine echten Gefühle leben und äußern kann, ohne dafür leiden zu müssen.

2. Bringt uns das Verständnis für die Gründe des grausamen Verhaltens der Eltern eine Linderung unseres Leidens oder unserer Krankheiten?

Ich denke, dass gerade das Gegenteil der Fall sein wird. Als Kind haben wir alle versucht, unsere Eltern zu verstehen, und tun dies das ganze Leben lang. Leider ist es gerade dieses Mitleid mit den Eltern, das uns oft hindert, unser eigenes Leiden wahrzunehmen.

3. Wäre es nicht egoistisch, an sich selbst zu denken anstatt an die Anderen? Ist es nicht unmoralisch, sich mehr um sich selbst als um die Anderen zu kümmern?

Nein, weil das Mitleid des Kindes die Depression der Mutter nicht verändert, solange wie die Mutter das Leiden ihrer eigenen Kindheit verleugnet. Es gibt Mütter, die sehr liebevolle, besorgte, fürsorgliche erwachsene Kinder haben und trotzdem unter schweren Depressionen leiden, weil die Gründe ihres Leidens für sie selbst in ihrer Kindheit verborgen bleiben. Die Liebe ihrer Kinder kann daran nichts ändern. Aber die fortgesetzte Beschäftigung des Kindes mit seinen Eltern kann sein Leben zerstören. Die Voraussetzung für wahres Mitgefühl für Andere ist die Empathie mit dem eigenen Schicksal, die das misshandelte Kind ja nicht entwickeln konnte. Es war im Gegenteil gezwungen, seinen Schmerz nicht zu fühlen. Alle Verbrecher, grausame Diktatoren eingeschlossen, zeigen diesen Mangel an Empathie; ohne die mindeste Emotion ermorden sie andere oder lassen sie ermorden. Wenn ein Kind lernen muss, seine Emotionen zu unterdrücken, entwickelt es kein Mitgefühl mehr für sich selbst und folglich auch nicht für die Anderen. Dies begünstigt kriminelles Verhalten, das sich oft hinter moralischen, religiösen oder politisch scheinbar fortschrittlichen Vokabeln verbirgt.

4. Wäre es idealerweise nicht möglich, die alten und schwachen Eltern zu lieben und zugleich das Kind, das wir gewesen sind?

Wenn uns jemand auf der Straße angreift, würden wir ihn kaum umarmen und ihm für die Schläge danken. Aber Kinder machen das fast immer bei den Eltern, weil sie nicht auf die Illusion verzichten können, von ihnen geliebt zu werden. Sie glauben, alles was die Eltern mit ihnen anstellen, geschehe aus Liebe. In der Therapie muss der Erwachsene lernen, diese Position des Kindes zu verlassen und mit der Realität zu leben. Wie gesagt, wenn man gelernt hat, sich selbst zu lieben, kann man nicht gleichzeitig seinen Peiniger lieben.

Der Zugang zu unserer Geschichte als Kind verleiht uns die Freiheit, treu zu uns selbst zu sein, das heißt unsere Emotionen fühlen und erkennen und unseren Bedürfnissen gemäß handeln zu können. Dies garantiert uns Gesundheit sowie ehrliche und wahrhaftige Beziehungen zu unseren Angehörigen. Wir hören auf, unseren Körper und unsere Seele zu verachten, zu vernachlässigen oder sogar in der selben Art zu misshandeln – ungeduldig, verärgert, demütigend – wie unsere Eltern das kleine Kind behandelten, das noch nicht sprechen und sich nicht erklären konnte. Wir versuchen vielmehr, die Gründe für unsere Not zu verstehen, was leichter möglich ist, nachdem wir das Bewusstsein über unsere Geschichte gewonnen haben. Kein Medikament kann uns über die URSACHEN unserer Not oder unserer Krankheiten informieren. Ein Medikament kann diese Gründe nur vernebeln und den Schmerz lindern – für eine gewisse Zeit. Aber die Ursachen, die nicht erkannt wurden, bleiben weiterhin aktiv, und fahren fort, Signale zu senden, bis zur nächsten Erkrankung, die man mit anderen Arzneimitteln behandeln wird, welche wiederum die Gründe für die Krankheit vernachläßigen. Dennoch sind diese Ursachen nicht unauffindbar, wenn der kranke Mensch sich für die Situation des Kindes interessiert, das er gewesen ist, und sich erlaubt, die Gefühle zu erleben, die ausgedrückt und verstanden werden wollen.