Der längste Weg

von Alice Miller

Der längste Weg
Sunday 01 May 2005

Der längste Weg – oder: Was können wir von einer Psychotherapie erwarten?

Für mich war der längste Weg in meinem Leben der Weg zu mir selbst. Ich weiß nicht, ob ich eine Ausnahme darstelle, oder ob es auch andere Menschen gibt, die die gleiche Erfahrung gemacht haben. Sicher nicht alle, denn glücklicherweise gibt es Menschen, die von Geburt an das Glück hatten, von ihren Eltern, als das was sie waren, mit ihren Gefühlen und Bedürfnissen, voll angenommen zu werden. Diese Menschen hatten von Anfang an Zugang zu ihren Gefühlen und Bedürfnissen, mussten diese nicht verleugnen und mussten nicht lange Wege beschreiten, um das zu finden, was sie nicht zur richtigen Zeit bekommen haben. Meine Erfahrung war, dass es meines ganzen Lebens bedurfte, um mir zu erlauben, so zu sein, wie ich bin, und auf das zu hören, was mir mein Inneres sagt, immer weniger verschlüsselt, ohne die Erlaubnis dazu von außen zu erwarten, von Personen, die meine Eltern symbolisieren.

Ich werde immer wieder gefragt, was ich unter einer gelungenen Therapie verstehe, obwohl ich dies indirekt in verschiedenen Büchern beschrieben habe. Aber nach dieser kurzen Einleitung kann ich es vielleicht einfacher sagen: Eine gelungene Therapie müsste helfen, diesen langen Weg zu verkürzen, sich von den alten Anpassungsstrategien zu befreien und zu lernen, dem eigenen Gefühl zu vertrauen, etwas, was die eigenen Eltern erschwert oder gar verunmöglicht haben. Vielen Menschen bleibt dieser Weg verbarrikadiert, weil er von Anfang an verboten war und somit gefürchtet wird. Später übernehmen diese Rolle der Eltern die Lehrer, die Pfarrer, die Gesellschaft, die Moral, sodass die Furcht noch mehr zementiert wird, und Zement lässt sich bekanntlich schwer wieder auflösen.

Die zahlreichen Selbsthilfebücher über gewaltfreie Kommunikation, darunter auch die wertvollen, klugen Ratschläge von Thomas Gordon und Marshall Rosenberg, sind zweifellos wirksam, wenn sie von Menschen angewendet werden, die als Kinder ihre Gefühle gefahrlos zeigen durften und mit Erwachsenen lebten, die ihnen als Model des Bei-Sich-Seins dienen konnten. Doch in ihrer Identität schwer verletzte Kinder wissen später nicht, was sie fühlen und was sie wirklich brauchen. Sie müssen dies erst in einer Therapie erlernen, erfahren und später immer wieder durch neue Erfahrungen die Sicherheit gewinnen, dass sie sich nicht täuschen. Denn als Kinder von emotional unreifen oder gar verwirrten Erwachsenen mussten sie ständig glauben, dass ihre Gefühle und Bedürfnisse falsch seien. Wenn sie richtig gewesen wären, hätten doch die Eltern die Kommunikation mit ihnen nicht verweigert, denken sie.

Ich meine, dass keine Therapie den Wunsch erfüllen kann, den viele Menschen wahrscheinlich empfinden: endlich alle Probleme lösen zu können, mit denen sie bisher schmerzhaft konfrontiert waren. Das ist nicht möglich, weil das Leben immer wieder neue Probleme stellt und stellen wird, die die alten Körpererinnerungen erneut auslösen können. Aber eine Therapie müsste den Zugang zu den eigenen Gefühlen eröffnen, das einst verletzte Kind müsste sprechen dürfen und der Erwachsene müsste lernen, dessen Sprache zu verstehen und auf sie einzugehen. Wenn der Therapeut ein echter wissender Zeuge war und nicht ein Erzieher, hat der Klient gelernt, seine Emotionen zuzulassen, deren Intensität zu verstehen und sie zu bewussten Gefühlen umzuformen, die neue Erinnerungsspuren hinterlassen. Natürlich wird der ehemalige Klient wie jeder andere Mensch Freunde brauchen, mit denen er seine Sorgen, Probleme und Fragen teilen kann, in einer reiferen Form der Kommunikation, in der keine Ausbeutung stattfindet, weil beide Seiten die Ausbeutung der Kindheit bereits durchschaut haben.

Durch das emotionale Verständnis des Kindes, das ich war, und damit auch seiner Lebensgeschichte, bekomme ich einen veränderten Zugang zu mir selbst und auch zunehmend die Stärke, aktuell auftauchende Probleme anders, rationaler und effektiver, anzugehen als zuvor. Nie wieder Schmerzen oder leidvollen Erfahrungen zu begegnen, ist ja kaum möglich, dies gäbe es nur in Märchen. Doch wenn ich mir selbst kein Rätsel mehr bin, kann ich bewusst reflektieren und handeln, ich kann den Gefühlen Raum geben, weil ich sie verstehe und sie mir daher nicht mehr so viel Angst machen. Damit wird Bewegung möglich, und man hat auch eine Art Werkzeug in der Hand, das hilft, wenn eine Depression oder körperliche Symptome noch einmal auftauchen sollten. Man weiß, dass sie etwas ankündigen, vielleicht ein unterdrücktes Gefühl an die Oberfläche bringen wollen, und man versucht, es zuzulassen.

Da der Weg zu sich selbst sich über das ganze Leben erstreckt, hört er nicht mit dem Abschluss einer Therapie auf. Eine erfolgreiche Therapie müsste aber geholfen haben, die eigenen, echten Bedürfnisse zu entdecken, wahrzunehmen und zu lernen, sie zu befriedigen. Dies ist genau das, was früh verletzte Kinder nie lernen konnten. Es geht also auch nach der Therapie mit einem Therapeuten darum, die eigenen Bedürfnisse, die jetzt viel deutlicher und stärker auftauchen, befriedigen zu können, in einer Weise, die dem Betreffenden entspricht und die niemandem schadet. Die Spuren einer früh empfangenen Erziehung lassen sich nicht immer vollständig aufheben, aber sie lassen sich, wenn bewusst wahrgenommen, konstruktiv, aktiv und kreativ einsetzen, anstatt dass man sie wie bisher passiv und selbstdestruktiv erleidet. So kann z. B. ein Mensch, der nur mit seinen Leistungen für die Eltern überleben konnte, als bewusster Erwachsener aufhören, seine/ihre Bedürfnisse im Dienste der anderen zu opfern, wie er es als Kind tun musste. Er kann Wege suchen, auf denen er seine früh entwickelten Fähigkeiten, andere zu verstehen und ihnen zu helfen, so anwendet, dass er auch seine eigenen Bedürfnisse nicht dabei vernachlässigt. Er kann z.B. Therapeut werden und seine Neugier dabei befriedigen, aber er wird nicht diesen Beruf ausüben, um sich seine Macht zu beweisen, weil er diesen Beweis nicht mehr braucht, nachdem er die Ohnmacht seiner Kindheit erlebt hat.

Er kann zum wissenden Zeugen werden, der dem Klienten eine parteiische Begleitung anbietet. Das müsste in einem von moralischem Druck freien Raum geschehen, in dem der Klient (oft zum ersten Mal im Leben) erfährt, was es heißt, sein wahres Selbst zu spüren. Und diesen Raum wird der Therapeut ohne weiteres zur Verfügung stellen können, wenn er selbst bereits diese Erfahrung gemacht hat. Dann ist er bereit, die alten Krücken sowohl der Moral wie der Ausbildung (die Vergebung, das “positive Denken” etc) fallen zu lassen. Er kann sie nicht mehr brauchen, weil er sieht, dass er gesunde Beine hat und sein Klient ebenfalls. Beide brauchen diese Krücken nicht mehr, wenn sie das Bild ihrer Kindheiten nicht länger verschleiern.