Christlicher Fundamentalismus!

Christlicher Fundamentalismus!
Friday 19 August 2005

Sehr geehrte Frau Miller,

ich habe alle Ihre Bücher gelesen. Mich freut es, dass Sie in Ihren Büchern die Psychologie in Verbindung mit dem Christentum sehen, da dieses für mich sehr aufschlussreich ist. Ich bin jahrelang in einer christlichen fundamentalistischen Glaubensbewegung gewesen, um dort mein „Heil“ zu finden.

Kurz zu mir:

Ich bin 1970 geboren und als Säugling in ein Heim gekommen. Dort hatte ich eine strenge Erziehung und machte meine ersten Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch. Dort hörte ich beim „Gute-Nacht-Lied“ das erste Mal von Gott. Diesen nahm ich dann ganz naiv als meinen Freund und Helfer an. Von irgendwelchen Ritualen und Dogmen erfuhr ich damals nichts. Mit 9 Jahren kam ich zu Pflegeeltern, die ebenfalls sehr streng waren und mich mit Lederriemen und Teppichklopfer schlugen. Von deren leiblichen Sohn wurde ich sexuell missbraucht. Mit 16 Jahren kam ich wieder in dasselbe Heim, indem ich aufgewachsen war. Meine Pflegeeltern wollten nie wieder etwas mit mir zu tun haben. Ich lernte dann bewusst meinen Vater, der starker Alkoholiker ist, und meine Mutter, die derzeit schon zwanzig Jahre in der Psychiatrie lebte, kennen. Das war für mich alles so unerträglich, dass ich noch mehr Zuflucht zu Gott suchte und dabei an christliche Fundamentalisten geriet. Zu dem Zeitpunkt litt ich unter Bulimie, einer unsagbaren Furcht und Selbstmordabsichten. Nun begann ich mit Anfang zwanzig meine Lebensgeschichte aufzuarbeiten. Leider geriet ich in den christlichen Gemeinden an denselben Schlag von Menschen, die ich gewohnt war. Man legte mir außerdem das Gebot nahe, dass ich Vater und Mutter ehren muss, auf dass ich lange lebe (2.Mose 20:12). Ich hatte damit verständlicherweise solche Schwierigkeiten, weil sie mir solch ein schweres Leben beschert hatten. Ich sah dann nur die positiven Seiten, dass sie mir ja das Leben geschenkt hätten usw. und nahm sie dabei (unbewusst) total (ganz) an, so dass ich mich sogar (unbewusst) mit ihnen identifizierte und somit mein Selbstvertrauen/Selbstwertgefühl rapide sank. Ich spaltete mich komplett von mir ab und lebte sogar glücklich bibelgetreu nach dem Wort: Mt.16,24: „Wenn jemand mir nachkommen will, so verleugne er sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach“ und Gal. 2,20: „….und nicht mehr lebe ich, sondern Christus (Doktrinen und Gesetze) lebt in mir…..“

Ich geriet trotz des biblischen Gehorsams an Gott immer wieder an sexuelle Triebtäter, denen ich vergeben musste (das mir sogar vom Täter selber unterbreitet wurde) nach dem Bibelwort: Mt.6,15: „…wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euer Vater eure Vergebungen auch nicht vergeben“ und Mt. 18,21-22: „….wie oft soll ich meinen Bruder vergeben, der gegen mich sündigt? Jesus sprach zu ihm ……siebzigmal siebenmal.“

Ich hätte nicht vergeben können, wenn ich das nicht irgendwie gerechtfertigt hätte und so sah ich auch diesmal das Gute im Täter. Dadurch hatte ich (unbewusst) Kompromisse mit dem Missbrauch getätigt und ich kam daher trotz meiner „Heiligkeit“ aus meinem Leidkreislauf nicht heraus. Als ich komplett zusammengebrochen war fühlte ich, dass mit meinem Glauben etwas nicht stimmt. Das war 1998. Zu dem Zeitpunkt musste ich eine unsagbare Todesfurcht überwinden, da ich glaubte, dass ich sterben werde, wenn ich die Gemeinde verlasse. Ich nahm 10 kg ab und sah in Träumen mein eigenes Grab usw. Nun hatte ich noch den Glauben an meinen kindlichen Gott, der mein Helfer und Freund war, der mich diese schreckliche Zeit überwinden ließ. Durch die Religionswissenschaft und einer Sektenexpertin bekam ich die Informationen, die ich zudem brauchte, um mich mental von der Sekte zu lösen

Doch die kompletten Zusammenhänge meines Lebens erkannte ich erst vollständig durch Ihre Bücher. Bis dahin hatte ich alles verstandesmäßig verfolgt und bewältigt. Ich konnte das Ganze aber plötzlich fassen und fühlen und ich hatte solche Wut bekommen, die ich gar nicht beschreiben kann. Meine Wirklichkeit war eine absolute Illusion. Es war die Falle der Vergebung, das vierte Gebot und die Selbstverleugnung, die mir das Leben zur Hölle machten. Das sind christliche fundamentalistische Realitäten.

Es war eine sehr schöne Erfahrung, die ich zum ersten Mal machte, als ich mich mir zuwendete. Ich habe viele Dinge anders, intensiver oder überhaupt erst wahrgenommen. Ich lerne heute noch dazu. Ich hatte als Kind keinen Menschen, der mich mochte oder sich mir zuwendete. Mein helfender Zeuge war der naive Glaube an Gott unabhängig von Doktrinen und Gesetzen. Sie (d.h. Ihre Bücher) geben mir noch mal die Stärkung meiner Wahrnehmung. Vielen Dank dafür.

Wenn man die erkannte Wahrheit fassen und mutig umsetzen kann, dann ist die Lösung der Probleme einfach. Das hat sich bei mir in vielen Lebensbereichen auch positiv sichtbar gezeigt.

Mit freundlichen Grüßen

F.W.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet