Alle in der Familie verdrängen auf ihre Weise

Alle in der Familie verdrängen auf ihre Weise
Saturday 29 September 2007

Liebe Alice Miller!

In letzter Zeit finden sich im Forum viele Beiträge zu der Frage, ob man den Kontakt mit den Eltern aufrechterhalten sollte, oder nicht, ob er eher schädigt oder uns zu einem selbstbewussteren Menschen machen kann. Ich muss sagen, dass ich mir auch oft überlege, was für ein reifer erwachsener Mensch ich doch wäre, wenn ich meinen Eltern (und besonders meinem Vater) nach allem, was sie mir angetan haben, ins Gesicht schauen könnte und dem Kontakt nicht entfliehen müsste. Ich merke aber auch, dass solche Gedanken auf der Grundlage des Verzeihens und des „endlich Erwachsenwerdens” beruhen.
Ich bin die letzten Tage wieder krank geworden, und ständig meldet sich mein Bauch mit ängstlichen Adrenalinstößen. Ich verstehe ihn nicht, ich kann oder WILL diese Ängste nicht einordnen. Ich fühle mich nur mit dieser ganzen Wahrheit so allein, dass ich es nicht wagen kann, sie zu akzeptieren. Was wird danach? Stehe ich dann vielleicht ganz alleine da?
Die sich anbahnende „Wahrheit” sieht zum Beispiel so aus: ich träume, wie ich mit einem kleinen 2-jährigen Jungen unterwegs bin. Der Junge ist faszinierend, er kann bereits sprechen, denken und gibt ganz erstaunliche Dinge von sich. Ich bin stolz, dass ich mich um ihn kümmern darf. Wir warten auf eine U-Bahn, ich drehe mich kurz um und schon ist er mir entwischt. Er läuft bedrohlich nah an den Gleisen entlang, ganz allein. Ehe ich reagieren kann, stehen hinter mir Mutti und Papa und machen mir schlimme Vorwürfe, ich würde meine Aufsichtspflicht vernachlässigen. Besonders das versteinerte Gesicht meiner Mutter, die ich manchmal für „liebevoll” halte, erschreckt mich. Ich kann unter diesem Druck noch schlechter reagieren und ich will mich auch gar nicht mehr um den Jungen kümmern, jetzt wo SIE es wollen. Ich werde trotzig gegen sie und vergesse, was ICH eigentlich wollte.
Ein anderes Beispiel ist aus der Realität. Ich bin bei meinen Eltern zu Besuch, da ich wichtige Informationen von meiner Mutter brauche. Es geht um eine Familienanamnese für die Homöopathin. Ich weiß, dass mein Vater auch da ist. Ich habe ihm einige Wochen vorher einen Brief geschrieben, in dem ich versucht habe, die Verantwortung für eine gute Beziehung zwischen uns von mir wegzuschieben. Der Brief war nichts halbes und nichts ganzes. Ich konnte mich nicht entschließen, den Kontakt zu ihm ganz abzubrechen, da man „so etwas nicht macht”. Ich habe den Kontakt aber indirekt abgebrochen, indem ich ihm schrieb, ich hätte zu der Angelegenheit nichts beizutragen, ich hätte ihm nichts zu sagen, ich würde keine Problemlösung für uns beide anstreben. Das Ziel war quasi, mich ganz aus der Beziehung rauszuhalten, die meiner Meinung nach durch seine Gewalttätigkeiten zu dem geworden ist, was sie ist. Er kann darauf auch nichts erwidern, und mein Ziel, der Kontaktstillstand ist erreicht. Ich habe es erreicht, indem ich ihm den schwarzen Peter zugeschoben habe. Ist das nicht feige und unwürdig, Frau Miller? Ich habe das Gefühl, wieder mehr für die „Objektivität der Situation” als für mich zu kämpfen. Aber vielleicht kann ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht anders…
Zumindest ist er auch zuhause, als ich mich mit meiner Mutter treffe. Genauso halbherzig wie der Brief war ist nun auch mein Verhalten. Gewohnheitsmäßig haben wir uns immer kurz umarmt zur Begrüßung. Da meine Mutter mich sofort herzlich umarmt, will ich meinen Vater nicht „im Regen stehen lassen” und umarme auch ihn, obwohl ich kein Bedürfnis danach habe. Ich weiß genau, dass, wenn ich es nicht tun würde, er mir die Verantwortung für diese „ablehnende” Haltung zuschieben würde. Ich habe das Gefühl, den Fortlauf unserer Beziehung vollständig in der Hand zu haben, mit allen Konsequenzen. Allerdings macht er mir dann ein schlechtes Gewissen, wenn es nicht in seinem konfliktvermeidenden Sinne abläuft.
Von dieser Situation habe ich letzte Nacht geträumt. Wir sind alle zusammen in irgendeinem Urlaub. Zum Abschluss des Urlaubs geht jeder wieder seiner Wege. Da ich der Umarmung zum Abschied aus dem Weg gehen möchte, werde ich krank! „Komm’ mir nicht zu nah, ich bin ansteckend…” Heute morgen wache ich auf und bin krank. Und immer noch keinen Deut schlauer.
Mich hat Ihr Kommentar sehr beeindruckt, als Sie einmal einem Leser schrieben: „Warum wollen Sie, dass Grausamkeiten Ihnen nicht wehtun und Sie kalt lassen sollen? Wollen Sie nicht lieber Ihre wahren Gefühle kennen lernen und nach denen handeln?”
Wenn ich so was lese, wird mir ganz anders. Ich ahne, dass meine wahren Gefühle gegenüber meinen Eltern ein Verhalten nach sich ziehen würden, dass sich keiner von beiden wünschen würde. Ich würde ihnen sehr missfallen. Ich habe so eine große Angst davor, diesen Schritt zu gehen, da meine Mutter in Gesprächen über die Vergangenheit auch immer wieder bekräftigt: Sicher war viel Scheiße dabei, aber sieh es auch mal positiv. Du lebst, du hast keinen Krebs, du bist ein intelligenter mutiger junger Mann geworden. Muss ich denn erst Krebs bekommen, um sie vom Gegenteil zu überzeugen? Um ihr zu zeigen, wie mich diese „Scheiße” immer noch niederdrückt und erstickt? Das will ich nicht, ich will in der Gegenwart immer gesunder werden und trotzdem nicht über alles hinwegsehen, was früher war. Oder noch schlimmer: alles besser machen. Das impliziert immer, dass man die Fehler der Eltern gleich mit ausbügeln soll. Das nennt sich dann Evolution.

Gibt es überhaupt einen Weg, es irgendwann mit seinen eigenen Kindern oder mit sich selbst besser zu machen, ohne die Verantwortung für das mit zu übernehmen, was die Eltern getan haben? Hier liegt nämlich der Hund begraben: in Telefonaten mit meiner Mutter habe ich immer Schwierigkeiten zu sagen: Ja, mir geht es gut, ich bin gesund und glücklich. Weil ihr dann sofort auf der Zunge liegt (und manchmal spuckt sie es auch aus): Na siehst du, dann kann ja doch nicht alles so schlimm gewesen sein. Ich wusste doch, dass du die Kurve kriegen würdest. Manchmal müssen eben die Eltern Fehler machen, damit die Kinder es dann besser machen.
Ich hasse sie für diese Worte, weil ich in ihnen trotz aller gegenteiligen Beteuerungen sehe, dass sie keine wirkliche Verantwortung für früher übernehmen möchte, weil sie wahrscheinlich wie alle anderen aus der Familie auch nicht mehr genau weiß, was überhaupt früher vorgefallen ist. Oder es nicht mehr spüren kann, was sie getan oder auch (von meinem Vater) toleriert hat.
Ich möchte gerne meine Frage wiederholen: Gibt es einen Weg, es für sich besser zu machen, ohne damit alles von damals zu relativieren? Oder geht es gar nicht darum, etwas besser zu machen, sondern vielmehr darum, es im richtigen wahren Licht erstrahlen zu lassen? Aber bleibt man damit nicht das ewige Opfer?
Beim Schreiben ist mir wieder einmal sehr schnell der entscheidende Punkt aufgefallen, an dem ich nun schon sehr lange knabbere. Vielen Dank, dass Sie Ihren Lesern die Möglichkeit geben, sich auf diese Weise Menschen mitzuteilen, die wissen, was hier gespielt wird.

AM: In allen Ihren Briefen sehen Sie die Eltern sehr klar, aber beschuldigen sich ständig für Ihre Gefühle, deren Berechtigung Sie doch verstehen müssten. Aber Sie haben angst. Vermutlich glauben Sie dem kleinen Jungen in Ihnen immer noch nicht, dass ihm panische Ängste den Hals zuschnürten, wenn er versucht hätte, sich zu äußern; und dass ihn seine Mutter wütend machte, als sie dumme Sprüche führte und nicht kapieren wollte, wie sehr Sie gelitten haben und noch leiden. Ihre Gefühle machen Ihnen furchtbar angst, wie der Traum es doch deutlich zeigt, in dem Sie das zweijährige Kind, das Sie verkörpert, aus den Augen verlieren, es in die Gefahr laufen lassen und sich ausschließlich mit Ihren Eltern befassen, die sie bedrohen. Sie fragen sich ständig und auch mich, was Sie fühlen SOLLTEN, anstatt Ihre wahren Gefühle ernst zu nehmen. Doch Ihre Träume zeigen Ihnen die Gefahren Ihres Gehorsams und scheinen Sie jetzt gut zu begleiten. Trauen Sie ihnen, dann brauchen Sie nicht krank zu werden. Sie sind kein schlechter Mensch, wenn Sie auf Heuchelei mit Wut reagieren. Ganz im Gegenteil.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet