Die Angst vor der Angst

Die Angst vor der Angst
Thursday 01 June 2006

Liebe Frau Miller,

heute ist es mir ein Herzensanliegen, mich bei Ihnen für Ihre Bücher zu bedanken.
Seit 11 Jahren bin ich auf der Suche nach mir selbst und auf meinem Weg schon recht weit gekommen. Vor wenigen Wochen wurden mir Ihre Bücher „Das Drama des begabten Kindes“ und „Die Revolte des Körpers“ empfohlen. Vorher hatte ich noch nie von Ihnen gehört, wollte aber unbedingt wissen, was mir da bisher entgangen ist und bestellte mir beide Bücher umgehend. Kaum waren sie da, begann ich zu lesen und konnte nicht wieder aufhören, bis ich am Ende angelangt war. Was für eine Erleichterung machte sich da in mir breit. Ich fühlte mich in allen Dingen bestätigt, die ich bisher kaum auszusprechen wagte. Weil ich noch mehr wissen wollte, kaufte ich mir auch die Bücher „Am Anfang war Erziehung“, ein sehr heftiger Inhalt übrigens, „Der geheime Schlüssel“, „Abbruch der Schweigemauer“ und „Evas Erwachen“. Nun hatte ich endgültig die Bestätigung, dass ich auf dem richtigen Weg war, dass ich mich nicht in irgendetwas hinein steigerte, wie mir von anderer Seite vorgeworfen wurde.
Durch Ihre Bücher bekam ich Zugang zu etlichen verdrängten Erinnerungen, die mir schon in meiner Kindheit Schmerzen bereiteten. Mir wurde klar, dass ich ein unerwünschtes Kind war und wieder „nur“ ein Mädchen. Eine unbändige Wut über die erlittenen Misshandlungen und Demütigungen, sowie den Liebesentzug seitens meiner Eltern stieg in mir auf.
Ich will nun nicht alles ausbreiten, was geschehen ist, denn das würde diesen Rahmen sprengen. Aber eine Sache würde ich gerne geklärt haben oder doch wenigstens einen Rat dazu haben.
Es geht um die Erinnerung aus der Zeit vor der Schule. Ich wurde kurz vor meinem sechsten Geburtstag eingeschult und meine erste Erinnerung setzt mit dem Tag der Aufnahmeprüfung für die Einschulung ein. Alles was davor war, kann ich nicht erinnern. Dazu kommt, dass ich seit der Einschulung unter dem Gilles de la Tourette Syndrom leide, was mir zusätzliche Beschimpfungen von Seiten meiner Eltern bescherte. Mit ca. 12 Jahren zwang mich meine Mutter unter einem Vorwand, mit ihr einen Psychiater aufzusuchen, damit der überprüfen konnte, ob mit mir alles in Ordnung sei. Wie ich erst viel später nach langem Drängen erfuhr hat der wohl meiner Mutter gesagt, ich bräuchte viel Liebe. Was sonst besprochen wurde. hat sie mir nie gesagt. War wohl nicht in ihrem Sinne.
Na ja, lange Rede, kurzer Sinn; ich bringe dieses Tourette Syndrom in Zusammenhang mit den Geschehnissen aus der Zeit vor der Schule. Ich will wissen, was da war, auch wenn es noch so schrecklich ist. Allerdings stehe ich vor einer Wand ohne Tür und finde keinen Zugang. Wie komme ich an die Erinnerungen heran? Meine Eltern kann ich nicht mehr fragen, sie sind alt und krank. Die Mutter (89) hat beginnende Altersdemenz, der Vater (90) schon mehrere kleine Schlaganfälle und eine Bypass OP hinter sich. Außerdem läuft der Kontakt von meiner Seite aus auf Sparflamme. Ich will nicht mit ihnen sprechen, weil da nur Forderungen und Vorwürfe ihrerseits bei heraus kommen.
Sie schreiben in Ihren Büchern, dass Klapse bei einem Kleinkind die Verschaltungen im Hirn beeinflussen können. (Ich gebe das hoffentlich richtig wieder). Da beim Tourette Syndrom ja Stoffwechselvorgänge im Gehirn aus dem Gleichgewicht geraten, insbesondere die Neurotransmitter Dopamin und Serotonin, fürchte ich, dass ich auch als Baby schon geschlagen wurde und dadurch diese Krankheit bei mir entstanden ist. Kann das sein, oder liege ich da ganz falsch? Ich habe mich nie wieder deswegen ärztlich untersuchen lassen und nehme auch keine Medikamente dagegen. Es muss einen anderen Weg geben, das los zu werden. Den sehe ich im Erinnern an die Zeit vor der Schule. Zur Zeit ist mir dieser Weg allerdings noch versperrt.
Sollte ich eine Therapie beginnen oder ist es möglich, allein an die Erinnerungen heran zu kommen, evtl. per Meditation, Autogenem Training oder Reiki? Diese drei „Helfer“ haben mich in den letzten 11 Jahren schon recht weit voran gebracht.

Ich danke Ihnen für Ihre Zeit und freue mich auf eine Antwort.

Mit liebem Gruß,
C. F.

AM: Sie können Erinnerungen nicht erzwingen, weder mit Meditationen, noch mit autogenem Training. Und alles, das erzwungen ist, nützt Ihnen ohnehin nicht. Um sich dem Kind, das Sie waren, zu nähern und dessen Leiden empathisch nachzufühlen, können Sie versuchen, Ihren Körper zu befragen, wenn er sich mit Symptomen meldet. Worin besteht Ihre “Krankheit” (mir sagt der französische Name nichts). Können Sie diese beschreiben? Können Sie sagen, welche Emotionen bei den Symptomen auftreten? Angst? Scham? Wut? Versuchen Sie, Ihren Dialog mit dem Körper im Schreiben zu führen, am besten im Liegen. Und falls Sie sich doch für eine Therapie entscheiden, lesen Sie vorher meine FAQ Liste. Wenn Sie Angst haben, Ihrer potentiellen Therapeutin die Fragen zu stellen, die ich dort vorschlage, bleiben Sie ruhig bei dieser Angst, gehen sie diesem Gefühl nach, es wird Ihnen unter Umständen mehr über Ihre frühe Kindheit enthüllen, als erzwungene bildhafte, aber emotionslose Erinnerungen oder neurologische Untersuchungen. Sie brauchen Ihre Angst nicht zu fürchten, sie hat immer einen Grund in der Kindheit, doch dieser lässt sich erst verstehen, wenn man das Gefühl nicht flieht und es ernst nimmt. Kein Mensch möchte fühlen, wie schrecklich wir als ganz winzige Kinder unsere jungen Eltern fürchten mussten, wenn diese in Wut ausgerastet sind und uns angeschrieen, geschlagen und noch für ihre Wut beschuldigt haben. Aber dass es so war, kann doch der Erwachsene überall feststellen. Es genügt, sich auf der Straße umzuschauen. Nur fehlen uns meistens die dazugehörenden Gefühle (Erinnerungen).

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet