Kinderrechte – offener Brief eines Betroffenen

Kinderrechte – offener Brief eines Betroffenen
Wednesday 18 October 2006

Lieber Herr Wagner,

seit einiger Zeit sind Kinder und ihre Probleme regelmäßig Gast in den Medien. Und genau so regelmäßig werden Lösungen propagiert, die z. T. jahrhunderte alt sind und erst zu den heutigen Problemen geführt haben. Wie äußert sich das?

In allen Fällen haben angeblich die Ämter versagt. Immer die Ämter, nie die Eltern. Nein, diese „wurden mit der Situation nicht fertig“ oder wie auch immer die Ausreden heißen. Aber immer, wenn Kindern etwas geschieht, sind die Eltern involviert. Wenn aber die heutigen Eltern mit ihren Kindern nicht umgehen können, wenn Schulungen zum Körperkontakt mit Neugeborenen abgehalten werden müssen (Bericht in arte), wenn Mütter Angst vor ihren Babys haben – dann haben offenbar die Eltern dieser Eltern schon vieles, wenn nicht alles falsch gemacht.

Hätten diese Mütter und Väter Zärtlichkeit, Vertrauen und Liebe erfahren, dann müßten sie nicht heute Kurse über Schmusen mit Babys besuche. Hätten diese Kinder Rückhalt in ihrer Familie gefunden, müßten sie ihre Kinder nicht so behandeln, wie sie es erleiden und erdulden mußten. Man kann nur weitergeben, was man erfahren hat. Und so werden heute noch Schläge, Demütigungen und Beschämungen mit dem Argument „mit hat es auch nicht geschadet“ weitergegeben. Und da dies alles unter dem Deckmantel „Erziehung“ geschieht, wird es in den meisten Fällen von der Öffentlichkeit auch noch gut geheißen.

Man sehe nur, wie die Super-Nanny ihre Kinder behandelt. Als Erwachsener würde ich Strafanzeige wegen seelischer Grausamkeit stellen, wenn mich jemand so behandelte. Aber da es sich hier um Eziehung handelt, wird es auch noch als gut und richtig hingenommen. Da hilft auch das Aufnehmen der Kinderrechte ins Grundgesetz nichts; Papier ist bekanntlich geduldig. Solange kleine Menschen straflos gedemütigt, beschämt und geschlagen werden dürfen im Namen der Erziehung, solange wird sich nichts ändern. Nur alles schlimmer werden.

Wir müssen endlich die Einstellung jedes Einzelnen und der Gesellschaft insgesamt ändern. Kinder brauchen eben nicht Zucht und Ordnung, Disziplin und Härte. Dies hat im letzten Jarhundert zu zwei weltweiten Kriegen geführt und führt heute zu vollen Praxen bei Psychologen. Leider können diese auch nicht helfen, da es bei uns nicht offen ausgesprochen werden darf: ELTERN MACHEN FEHLER!!! Nein, das vierte Gebot sagt ja schon, man müsse Vater und Mutter ehren. Im dritten Reich gab es das Mutterkreuz, und auch heute habe ich oft das Gefühl, dass vor allem Mütter heiliggesprochen werden sollen. NEIN. Mütter und Väter sind nicht allein aus der Tatsache der Elternschaft schon unangreifbar. Sie müssen sich die Ehre verdienen. Und zwar, indem sie ihre Kinder ehren.

Auch wenn Sigmund Freud die Triebhaftigkeit des Kindes wissenschaftlich „bewiesen“ hat, es ist ein Irrsinn was er da beschreibt. Kinder haben Bedürfnisse und keine blinden Triebe. Und wenn diese Bedürfnisse liebevoll gestillt werden, wächst da ein zufriedener, ausgeglichener Mensch heran und eben nicht ein Tyrann. Das beste Beispiel ist wohl Jesus Christus. Seine Eltern ließen ihn alles zukommen, taten alles für ihn und erzogen ihn mit dem,was Katja Saalfrank wohl als „Affenliebe“ bezeichnen würde. Und was wurde aus ihm? Ein Tyrann, ein Kriegsheld, ein Diktator? Wohl kaum, sondern jemand, dem seine Nächsten wichtig waren. Und warum wohl? Weil er selbst als Kind der Nächste sein durfte. Ohne wenn und aber.

Wir müssen erkennen, dass Kinder eben kein unbeschriebenes Blatt sind, auf dem wir nach Gutdünken herummalen dürfen. Wir müssen sie als eigenständige Persönlichkeiten erkennen, diese Persönlichkeiten unterstützen und ihre Entwicklung fördern. Und nicht niedermachen, nur weil mal etwas nicht in unser Weltbild passt. Dazu gehört auch, dass Eltern und Lehrer Achtung, Respekt und Zuneigung nicht nur erwiesen wird, sondern dass diese auch den ihnen anvertrauten Kindern Achtung, Respekt und Zuneigung zukommen lassen. Dann gehören Sätze in Klassenzimmern wie der folgende der Vergangénheit an:“Das schaffst Du nie, dazu bist du zu dumm“ (zweite Klasse Grundschule, Lehrerin zu meiner Tochter in Mathe). Den Namen gebe ich auf Nachfrage auch gern bekannt, da mache ich keine Kompromisse. Die Schule war in Karlsruhe-Daxlanden.

Dieselbe Lehrerin sagte nach einem sexuellen Übergriff eines Mitschülers im zarten Alter von neun Jahren – Opfer war meine Tochter – zu uns Eltern: „Sie ist selbst schuld, sie wollte es doch.“ Weil sie ihm angeblich heimlich Briefe geschrieben hat. Freud läßt grüßen.

Solange das möglich ist und wie in userem Fall auch noch vom Rektor gedeckt wird, kann von normalem Umgang keine Rede sein. Die Frage ist doch, was haben die Eltern der Lehrerein ihrer Tochter angetan? Und erst wenn wir erkennen, dass Kinder Vertrauen, Schutz, Liebe, Anerkennung und Respekt brauchen und verdienen; erst wenn ihnen ALLE Beteiligten dies zukommen lassen, wird sich etwas ändern. Solange aber die schwarze Pädagogik fröhlich Urständ feiert in den Köpfen – solange wird auch eine Grundgesetzänderung nichts bringen.

Wir müssen aufhören, über Kinder und Jugendlich als Dinge zu reden. Wir müssen anfangen, MIT KIndern und Jugendlichen zu reden, sie wahrnehmen als menschliche Wesen als Gefühlen, Wünschen und Seele. Und gerade diese Seelen nicht zertreten, weil eben gerade „Disziplin“ angesagt ist. Wie wäre es mit Verständnis? Zeit? Einfacher gesagt; ernst nehmen. Schon das Baby, das schreit, weil es Hunger hat, weil die Windel voll ist oder weil es einfach den Kontakt zu seiner Mutter/seinem Vater braucht. Dieses Baby, das liebevolle Zuwendung erfährt, wird sicher nicht zum Familientyrann heranwachsen. Sondern zu einem liebevollen, verantwortungsbewußten Erwachsenen, der Bedürfnisse seiner Mitmenschen fühlt und erfüllen kann.

Und das alles geht, ohne finanzielle Anreize oder Einsparungen anzuführen, wie es unsere Familienministerin tut. Sind wir denn so tief gesunken, dass wir die Entwicklung unsrer KInder wie eine Aktie, eine Bilanz betrachten? Wenn wir heute Geld ausgeben, sparen wir morgen um so mehr. Ist dies das einzige Argument, das wir finden können? So traurig steht es um uns, dass wir unsere Kinder nicht mehr fühlen, sondern nur noch über den Geldbeutel rechnen?

Hoffentlich nicht. Die Bücher von Alice Miller, an deren Homepage eine Kopie dieses Briefes geht, haben mir die Augen geöffnet. Vieles wußte ich eigentlich schon, aber hier habe ich erfahren, dass ich so denken darf. Denn auch ich wurde von meinen Eltern im Namen der Erziehung beschämt, gedemütigt und klein gemacht. Seelische Grausamkeit, wie sie meine Tochter nie erfahren wird. Meine Frau war im Heim und hat dort schlimme Dinge erlebt im Namen der „Erziehung“, und auch sie gibt nichts an unsere Tochter weiter von den schlimmen Dingen. Und trotzdem oder gerade deshalb ist unsere Ann-Kathrin ein aufrechter, echter Mensch mit unverwechselbarem und vor allem starken Charakter – auch, wenn sie erst vierzehn Jahre ist. DAS ist der Weg, keine Gesetze, keine Ämter (die eh der schwarzen Pädagogilk unterliegen; so eine Art Hardcore-Supernanny), kein Kadavergehorsam.

Mit freundlichen Grüßen
K. S.

Wir drucken Ihren Brief (an die Behörden wohl?) ab.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet