verzeihen

verzeihen
Monday 15 September 2008

Liebe Frau Miller,

Ich sollte als Kind verzeihen, meinem Vater, der mich schlug. Und meine Mutter drängte mich dazu, das doch zu tun, weil Vater sonst noch wütender und böser werden könne. Ich habe als Kind nie gewusst, wie ich verzeihen und vergessen hätte sollen. Ich wusste nicht wie das ging. Es gab niemanden, der mir das vorgemacht hätte. Am allerwenigsten meine Eltern.

Ich glaube, dass dieses Verzeihen müssen eine schreckliche und unlösbare Aufgabe für ein Kind ist. Ich sollte vergessen, meine Wut und meine Trauer und meinen Hass. Mein Körper sollte die Schmerzen der Schläge und meine Seele die des Alleingelassenwerdens vergessen. Immer sollte ich vergessen. Verzeihen ist nichts anderes. Es ist das „Du sollst nicht merken!”. Es ist das „Du sollst nicht fühlen!” Wie soll ein Kind vergessen? Wie soll ein Körper verzeihen und vergessen? Wie soll er das machen? Die einzige Möglichkeit zu überleben ist doch das Merken und im Gedächtnis behalten.

Ich habe lange Zeit das Vergessen mit Alkohol versucht. Ohne zu wissen, habe ich genau das getan, was mir meine Eltern beigebracht haben. Ich habe zu verzeihen und zu vergessen versucht.

Ich weiß heute, dass mir nur das Erinnern und nicht vergessen, geholfen hat und weiter hilft. Das Wissen, als Kind immer allein gewesen zu sein, wenn ich Hilfe nötig gehabt hätte, hilft mir. Es war mein Gefühl. Selbst das wollten sie mir nicht gestatten. Nicht einmal mehr mein stummes in den Boden schauen.

Ich glaube, dass der, der Verzeihen fordert und dich dazu zwingen will, dir größten Schaden zufügt. Er quält dich, das Kind, gegen sein eigenes Gefühl zu sein. Er zwingt dich dazu, dir selbst zu misstrauen. Wie soll ein Kind Schläge, Vernachlässigungen, Alleingelassensein vergessen und vergeben. Wie soll ein Körper jene Wunden löschen, die ihm zugefügt? Warum soll ich das Kind, wie jedes Kind, denen vergeben, die ihm schwer geschadet haben? Warum sollen wir verzeihen? Heute fällt mir dazu nur das Gehorchen ein. Dass wir gehorchen. Dieses Wissen hat kein Kind. Das Wissen, das ein Kind vor allem hat ist seine Fähigkeit eben zu merken, was weh, wer ihm wehgetan hat. Das haben meine Eltern versucht, mir auszutreiben.

Ich freue mich, dass dies nicht geglückt ist. Und dass das nicht geglückt ist, habe ich auch ihren Büchern zu verdanken. Sie haben mir geholfen, ihre Stimme die daraus spricht.

H.R.

AM: Wie gut, dass Sie das Spiel durchschaut haben. Es sind nicht einzelne Traumen, die uns krank machten, sondern die Botschaften, dass es KEINE Traumen waren, das alles doch nur Einbildung und unsere Schuld war. Diese zerstörerischen Botschaften können ein Menschenleben lang ihre Macht erhalten, wenn wir sie nicht durchschauen und nicht lernen, unseren Gefühlen zu trauen, um von den Lügen wegzukommen. Ich gratuliere Ihnen, dass Sie Klarheit darüber erreicht haben, das ist ein sehr wichtiger Schritt

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet