Eine bewegte Woche

Eine bewegte Woche
Sunday 03 September 2006

Liebe Alice Miller,
mein Herz hat vor Freude gehüpft, als ich Ihre Antwort gelesen habe, so berührt war ich. 2 Tage später habe ich mir Ihr Schreiben laut vorgelesen und bitterlich geweint. Es ist wie angekommen sein, nach so langer Zeit, zu lesen, ja, meine Eltern haben mich erbarmungslos gequält, es wird nicht kleingeredet, mein Gefühl wird bestätigt. Es ist aber auch ein neues Gefühl da, nämlich: jetzt muss es weiter gehen, ich muss meine “Eltern” für mich anklagen, ihnen den Prozess machen.
Letzte Woche bin ich nachts ständig durch Träume, die ich nicht erinnere, wach geworden. Immer galt der erste Gedanke den beiden Riesen und einer Enge, vielleicht Angst? In der Kindheit hatte ich oft Mandelentzündungen, ich habe sie nie rausnehmen lassen. Ich hatte Krebs an der linken Mandel. Zwei riesige äußere Schnitte am Hals haben schulmedizinischer Sicht mein Leben gerettet, zuzüglich der Chemotherapie und Bestrahlung. Der Krebs wurde rechtzeitig erkannt und meine Chancen gesund zu sein liegen bei über 90%. Momentan habe ich noch einen dicken Hals… Ich kann mich erinnern, dass ich seit mindestens 2 Jahren sage “Ich habe so einen Hals.” Ich assoziiere es mit “Ich kann nicht mehr schlucken und alles was an Wut drin ist muss raus.” Noch steht vielleicht die Angst davor, aber ich werde den Schlüssel finden, um diese Wut aus mir hervorzuholen. In diesem Zusammenhang ist mir mit den “beiden Riesen” eingefallen, dass meine Wut gefährlich war, was meine Mutter betraf, weil sie den Liebesentzug zur Steigerung ihrer Maßnahmen einsetzte, oder “Du bringst mich ins Grab”, damit sie meinen Willen brechen konnte, damit ich so war, wie sie mich gebrauchen konnte. Ich erinnere mich an eine kleine 3 jährige, die einen starken Willen hatte und sehr rebellisch und protestierend war. Ich werde sie finden. Die andere Seite war die, dass mein Vater für mich nur in Erscheinung trat, durch brutale Schläge, 2 mal als ich klein war und dann in der Pubertät, als ich Frau wurde. Meine Wut konnte ich ihm zeigen, weil ich nie, wie bei meiner Mutter, wie ein reumütiger Hund angekrochen kommen musste, damit sie mir verziehen hat. Kurz bevor er gestorben ist, nahm er mich in seine Arme und sagte mir, dass er mich immer geliebt habe und dass ich jetzt alles tun soll, damit meine Ehe gut geht. (Ich war damals verheiratet und war mit meinem jüngsten Sohn schwanger). Ich habe mich später von dem Mann getrennt, weil ich schon mal mit einem Bein im Grab meines Vaters? stand. Ich hatte mich in meiner Ehe komplett aufgegeben in einem schleichenden Prozess, bis die Angst mein Leben beherrschte und ich eine Therapie angefangen hatte. Warum war es ihm nicht wichtig, dass ich alles tun soll, damit die Ehe gut geht und nicht, dass ich eine glückliche Frau bin? Sollte es mir nicht besser gehen als ihm? Habe ich mich aufgegeben, damit ich doch noch geliebt werde? Ich kann noch entsinnen, dass ich damals gesagt habe “Mit meinem Vater ist auch meine Wut gestorben.”
Ich habe meine Söhne alleine begleitet, später mit Partner, der sich beruflich verbessern wollte. Ich habe alles verstanden, alles gemacht, für andere… und, kein Zweifel, meine Krankheit hat mir gezeigt, meine Eltern und auch “ihre Stellvertreter” werden mich nie lieben. Ich muss das Unmenschliche benennen und fühlen und nicht mehr zulassen. Entweder ich werde geliebt wie ich bin, auf keinen Fall mehr für Leistungen, das bedeutet mir nichts. Und heute, das beginne ich zu fühlen, sind “die Strafen” nicht mehr tödlich.
Liebe Alice Miller, sie sind eine wichtige Frau in meinem Leben, meine Augen und meinen Körper habe ich für mich geöffnet, aber Sie haben es mir durch Ihre Bücher und Ihre Art des Schreibens, die mich innerlich berührt, ermöglicht. Danke für Ihre Bücher, die zu welchem Zeitpunkt ich sie lese, immer wieder zu neuen Erkenntnissen bringt.
D.N.

AM: Ich bin so froh, dass Sie Ihre Wut jetzt suchen wollen, denn Sie wird Sie vor der Krankheit schützen. Aber Sie wollen immer noch Ihren Vater schützen. Haben Sie gemerkt, wie Sie sich verschrieben haben? Sie schreiben: “Warum war es ihm NICHT (das “nicht” gehört nicht hierher!) wichtig, dass ich alles tun soll, damit die Ehe gut geht und nicht, dass ich eine glückliche Frau bin? Sollte es mir nicht besser gehen als ihm? Habe ich mich aufgegeben, damit ich doch noch geliebt werde? Ich kann noch entsinnen, dass ich damals gesagt habe “Mit meinem Vater ist auch meine Wut gestorben.”
Das mag stimmen, aber Sie müssen sie wieder ausgraben und aufhören, sich so zu behandeln, wie Ihre Eltern Sie behandelt haben, die Ihnen schwere Misshandlungen als Liebe verkauften. Die Wahrheit wird Sie gesund machen und nicht die angebliche Liebe. Ich wünsche Ihnen viel Mut, der scheint nun erwacht zu sein.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet