Die Schuld

Die Schuld
Sunday 24 May 2009

Liebe Alice Miller,
immer wieder kommt es zu großer Verwirrung um die Begriffe Schuld, Vergebung, Wut und
Zorn in bezug zu den Eltern. Ich denke, es hilft nur, immer wieder in deutlichsten
Worten auf die Zusammenhänge hinzuweisen: das, was die Probleme auslöst, sind im
Körper gespeicherte Schmerzerinnerungen. Es geht darum, diese Erinnerungen entweder
gar nicht erst entstehen zu lassen oder sie zu behandeln. Wenn die Erinnerungen schon
in mir sind, dann geht es ausschließlich um diese Erinnerungen in mir. Der Schlüssel
zur Heilung ist, diese Erinnerungen zu realisieren, zu akzeptieren und zu durchleben,
wodurch sie sich auflösen. Wenn Zorn und Wut nicht zur Auflösung des Schmerzes
führen, dann identifiziere ich mich weiterhin mit dem Ich, das Schmerz erlitten und sich
angepaßt hat. Den erlittenen Schmerz zu realisieren setzt voraus, daß mein Ich bereit
ist, sich zu verändern, denn die Verdrängung des Schmerzes ist in mein Ich integriert.
Aber welches Ding zerstört sich schon freiwillig selbst? Entweder muß der Leidens-
druck so groß werden, daß mein Ich zusammenbricht, oder ich kann mir immer mehr
Bewußtsein um die Vorgänge aneignen. Der helfende Zeuge ist solch eine Bewußt-
werdung, denn er nimmt meinen Zustand auf und zeigt ihn mir dadurch. So kann ich
meinen Zustand erkennen und ändern. Wie soll ich meinen Zustand ändern, wenn
er mir gar nicht bewußt ist?
Wie kommt es überhaupt zu der Situation der sich selbst quälenden Menschheit?
Ein Kind ist einfach und unschuldig da. Es löst Reaktionen aus. Es spürt diese
Reaktionen. Es richtet sich darauf ein. Spürt es wiederkehrend eine abwehrende
Reaktion, reagiert es darauf und paßt sich an. Es gibt sich faktisch “Schuld” an der
negativen Reaktion und versucht in Zukunft, sie zu vermeiden. Dieser Vorgang ist
zwangsläufig und entsteht, mehr oder weniger, unbewußt in jedem Menschen. Jede
so entstandene Schuld verdeckt ein Stück unserer wahren Identität als Mensch.
Vergebung bedeutet, daß ich mir selbst vergebe, daß ich mir bewußt mache, daß
ich an diesem Vorgang keine Schuld habe. Nur dann kann ich frei davon werden.
Besser ist eigentlich: ich gebe jede Schuld, die in mich hineingelegt wurde, zurück.
Nichts anderes besagt die Geschichte von Jesus am Kreuz: Werde Dich Deines Ichs
bewußt, sei bereit, es loszulassen, durchlebe alle Schmerzen, mit denen es verknüpft
ist, dann wird es sich auflösen und Du wirst, frei von aller Schuld und ohne Angst
ein neues Leben beginnen.
Es ist also entscheidend, die Aufmerksamkeit ganz auf das eigene Innenleben zu
richten. Je mehr ich an den Befinlichkeiten der Verursacher meiner Schmerzen hängen-
bleibe und den Reaktionen ihnen gegenüber, umso weniger komme ich mit mir selbst
voran.
Also: Das Erleben von Zorn und Wut dient der Auflösung meiner Schmerzerinnerung,
der Adressat in der Gegenwart bin damit ich selbst und niemand sonst.
Schuld ist ein zentraler Aspekt meiner unbewußten Ichwerdung, die Vergebung
oder das Zurückgeben dieser Schuld bringt mich zurück zu meinem wahren
Sein als Mensch.
Da das Wissen um das wirkliche Sein des Menschen auch nur wenigen Erwachsenen
und allen Babys bekannt ist: ist bin glücklich von innen heraus ohne äußere Ursache,
ich fühle mich mit dem Sein und allen Geschöpfen verbunden, wenn Angst in mir ist,
dann immer ausgelöst von außen und, da ich keine Last aus der Vergangenheit trage,
schleppe ich auch keine Furcht vor der Zukunft mit mir herum.IK

AM: Das klingt alles sehr schön und gut, aber was sollen wir uns vergeben, wenn wir gar keine Schuld tragen? Als Kinder waren wir unschuldig, aber als Erwachsene machen wir uns an unseren Kindern und anderen Menschen schuldig, wenn wir nicht wissen wollen, was unsere ELTERN uns angetan haben. Sie scheinen dieses Wort vermeiden zu müssen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet