Die Funktion der Theorien

Die Funktion der Theorien
Wednesday 31 August 2005

Sehr geehrte Frau Miller,
mit großem Interesse lese ich ihre Bücher und die Beiträge Ihrer Internetseite.
Nachdem ich Ihr letztes Buch „Die Revolte des Körpers“ gelesen habe, beschäftigt mich immer
wieder der Gedanke, ob Ihre für mich deutlich nachvollziehbare Argumentation im Einklang
mit denen anderer Autoren zu bringen sind. Dabei denke ich v.a. an die Autorin E. Kübler-
Ross, die sich ja Zeit ihres Lebens mit Sterbenden und Sterbebegleitung beschäftigt hat und
auch sog. „Sterbephasen“ bei schweren Erkrankungen definiert hat.
Nun sehe ich einen immensen Widerspruch zwischen Ihren Aussagen und denen von Frau
Kübler-Ross. Denn dann würde es für mich bedeuten, dass die Erläuterungen über die
Sterbephasen völlig neu überdacht werden müssten. Plötzlich sehe ich die einzelnen
„Sterbephasen“, wie Nicht-Wahrhabenwollen, Zorn, Verhandeln, Depression und Zustimmung,
in einem völlig anderen Zusammenhang. Warum versucht denn niemand diese Phasen als
Hilfeschrei zu deuten, nämlich dass der Körper doch immer wieder versucht Signale zu senden,
wenn auch auf sehr aggressive Art und Weise. Weshalb unterdrückt man das Verhalten des
Menschen mit Beschwichtigungen, er solle sich damit abfinden. Da macht ja Zorn überhaupt
keinen Sinn, wenn meine Lebensgeschichte nicht gehört werden will. Und worüber soll ich
verhandeln, wenn sich keiner für mich, sondern nur für die Dinge, die offensichtlich sind,
interessiert. Nach den nicht sichtbaren fragt ja gar keiner. Wen wundert es dann, dass der
Mensch am Ende mit Depressionen und Zustimmung endet, wenn er bis zum Schluss nicht die
Chance hatte, seine Geschichte zu erzählen. Mich jedenfalls macht es wütend, wenn so viele
Menschen sich mit derartigen Definitionen zufrieden geben und nicht den manipulierenden
Charakter durchschauen können oder wollen. Das kommt ja einer kollektiven Verdrängung
gleich.
Mit freundlichen Grüßen M. S.

A.M.:
Ich habe mich über Ihren Brief gefreut, weil Sie etwas Wichtiges, das Vielen entgeht, so gut verstanden haben. Ihren Ärger kann ich gut nachempfinden, denn ich habe ihn auch gespürt, als ich realisierte, wieviel kollektive Verdrängung in Theorien und Beschönigungen steckt, die wir lange als sinnvoll erachteten. Erst als ich in der herkömmlichen Moral die Flucht vor den schmerzhaften Realitäten entdeckte und sie in Frage stellte, konnte ich erkennen, dass manche Autoren sich im Kreis der Selbsttäuschung befinden, solange sie immer noch wie abhängige Kinder die Strafe der Eltern befürchten, wenn sie deren Vorstellungen von Moral nicht mehr übernehmen sollten.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet