Ich beginne, mein Leben zu retten
Thursday 26 July 2007
Liebe Alice Miller,
ich beginne gerade, mein Leben zu retten, Dank Ihrer Bücher, Ihren Erfahrungen, und meinem Freund, der „wissende Zeuge“ an meiner Seite.
Ich werde dieses Jahr 40 Jahre und habe immer von einer schönen Kindheit geredet, nie meine Eltern öffentlich in Frage gestellt und je mehr ich am eigenen Körper merkte, wie mich die bis heute anhaltenden Erwartungshaltungen meiner Eltern stressten, desto mehr versuchte ich das zu verdrängen. Auf Fragen zu schönen Kindheitserinnerungen fielen mir nur Erlebnisse in der Natur und mit meinem Vater ein (Pilze oder Brombeeren suchen, wandern, schwimmen gehen, …)
Ich ging auf eine katholische Grundschule und wurde schon früh mit dem Aberglauben der „Sünde“ eingeschüchtert. Meine Eltern haben mich nicht geschlagen oder misshandelt im sexuellen Sinne. Es war vielmehr eine Nichtachtung meiner Selbst gewesen, meiner Gefühle, des kleinen Mädchens und der heranwachsenden Frau. Ich war so einsam, es war so wenig Raum für mich, für meine Empfindungen, für mein Sein.
Das Abi schaffte ich so eben, und nach meinem Kunst- und Germanistikstudium nahm ich eine feste Stelle an. Doch gegen alle „guten Ratschläge“ konnte ich nicht lange mein Angestellten-Leben leben, es hat mich fast umgebracht… genauer gesagt „nicht es“, sondern ich mich, denn wieder hatte ich alle Erwartungshaltungen erfüllt, nur mich nicht gefühlt. Nun bin seit ich mehreren Jahren selbständig, was mir sehr gut tut. Doch je mehr ich anfing, eigene Lebenswege zu gehen, desto mehr häuften sich die subtilen Ansprüche an mich von Seiten meiner Familie, dabei ging es nicht um die Selbständigkeit, sondern um meine Abgrenzung zu Ihren Einstellungen, meine Nichtteilnahme an Familienfesten, …
Meine familiäre Situation ist fast so, wie Sie sie im Buch „Das Drama des begabten Kindes“ am Anfang beschreiben. Ich habe zwei ältere Brüder und einen 12 Jahre jüngeren Bruder, für den ich mich bis vor kurzem (er hat auf Wunsch meiner Mutter noch seine Ausbildung bei mir gemacht) verantwortlich fühlte und zu fühlen hatte. Für meinen zweitältesten Bruder und mich war es ein Schock, als wir erfuhren, dass wir noch einen Bruder bekommen, wir wollten es einfach nicht wahr haben. Wir kamen schon so nicht im Leben unserer Eltern vor, wie sollte es erst dann werden. (Erst heute weiß ich um meine Reaktion damals und mein Verschweigen der Schwangerschaft vor meinen Freundinnen). Als mein kleiner Bruder dann auf der Welt war, ging das Leben wie zuvor weiter, nur dass ich jeden Nachmittag auf meinen Bruder aufpassen musste. Als ich z.B. an einem Nachmittag zu meiner Freundin ging und meinen kleinen Bruder einfach in Kissen setzte, damit er nicht von der Couch fiel, vergas ich einmal die Zeit, als ich wieder heimkehrte, stand meine Mutter dort und schimpfte „Du hättest ihn umbringen können, wenn er runtergefallen wäre.“ Welche Verantwortung ich schon damals nicht nur für meinen kleinen Bruder, sondern auch noch für meine Mutter übernehmen musste, um die Liebe meiner Mutter zu erlangen, wird deutlich, wenn ich meine Mutter beschreibe.
Meine Mutter ist eine Frau, die, solange ich mich erinnern kann, fast jeden Abend geweint hat über das Unrecht, das Ihr wiederfährt durch andere, dabei viele Zigaretten rauchte und jeden Abend 1-2 Flaschen Wein trank und trinkt. Mit dem Weinkonsum am Abend kam dann Ihr ganzer Lebensfrust raus. Ich habe mir das immer angehört, Verständnis gehabt und meine ganzen Gefühle und Lebenskraft darauf ausgerichtet, dass sie sich wieder geliebt fühlt. Sie hat mir immer leid getan, sie wollte sich von meinem Vater trennen, von der Partei trennen (gerade hat sie das Bundesverdienstkreuz als CDU-Politikerin erhalten), von der Arbeit … und hat alles nie gemacht.
Ich selber habe fast nie etwas von mir erzählt zu Hause, mein ältester Bruder hat mich, als ich 12 Jahre alt war, in sein Zimmer geholt, um mit einem Freund an mir auzuprobieren, wie denn so ein Geschlechtsverkehr ist. Ich habe alles über mich ergehen lassen, nie einem davon erzählt. Zweimal habe ich meiner Mutter etwas anvertraut, was mir peinlich war, was keiner wissen sollte. Am Abend kamen die verletzenden Sprüche meines Vaters dazu. Danach schwieg ich, versuchte aber weiterhin, über mein Verständnis die Aufmerksamkeit und Liebe meiner Mutter zu bekommen (Was mir ja erst heute bewusst ist. Was macht man nicht alles als Kind, um geliebt zu werden, um eine entspannte Situation zu schaffen. Die Sensoren, die man entwickelt, die man auch als „hochsensibel“ bezeichnen kann, sind doch nur das Ergebnis dieses ständigen Erfühlens, wie die Situation ist und wie man sie am besten ausgleicht). Da ich neben unserem Wohnzimmer schlief, lauschte ich Abends bis zum Einschlafen, ob meine Eltern sich streiten, meine Mutter weinte, … Ab und zu fuhr meine Mutter nachts weg, drohend, sie käme nie mehr wieder, sie würde meinen Vater verlassen. Jeden Abend war etwas anderes, und sie hat nie etwas geändert. Sie hat die ganze Familie damit belastet, jeden Abend ihr Leiden, nie eine Veränderung in Ihrem Verhalten. Mein Vater fing darüber immer mehr an zu trinken, hat schon drei Beypässe und versucht, ihr immer alles Recht zu machen, wie wir alle. Mein zweitältester Bruder hat mit 15 versucht, sich das Leben zu nehmen, ich selber bin kaum noch zur Schule gegangen, habe gemalt und möglichst viel Zeit nicht zu Hause verbracht. Es ist interessant, dass ich in Gruppen immer als „ausgeglichen und ausgleichend“ empfunden wurde (und werde), heute ist mir klar, warum, ich war ja eine Meisterin im Zuhören der Probleme der anderen und sobald es in einer Gruppe Stimmungsschwankungen gab, war ich „groß“ darin, diese auszugleichen. Doch ich selber, wo war ich?
Vor 10 Jahren habe ich meinen „wissenden Zeugen“ kennengelernt. Mein großes Glück, doch das „Unglück“ meiner Mutter. Denn er hat es mit mir „gewagt“, seinen Job zu kündigen und mit mir zu leben und gemeinsam leben wir unser Leben, ohne das „Mama“ involviert ist. Ich selber brauchte jedoch noch viel länger, um wirklich zu begreifen, warum mir die Ansprüche, die immer öfter durch plumpe Anmerkungen kamen, so zusetzten.
Als sich im Frühling ein Abitreffen ankündigte, gleichzeitig ein runder Geburtstag meines Vater mit großem Familientreffen, die Bundesverdienstkreuzverleihung an meine Mutter und noch dazu ihr Geburtstag, ging es mir von Tag zu Tag schlechter. Ich bin zu keinem der „Feste“ hingegangen, denn ich fühlte mich tagelang wie gelähmt nach der Ansicht der Abitreffen-Fotos, die man sich im Internet anschauen konnte. Es war wie ein Flashback. Ich spürte meine ganze Einsamkeit, meine ganze Fassade fiel zusammen, mein kleines Kind in mir weinte immer mehr. Und als ich es immer noch nicht schaffte, mich nun endlich den Familienzwänge zu entziehen, weinte und weinte,… kam ein kleiner, aber ganz wichtiger Dialog dazu. Ich sagte mal wieder: „Ach, meine Mutter ist ja dann so traurig und enttäuscht“. Da sagte mein „wissender Zeuge“: Nicht Deine Mutter ist enttäuscht, Du bist traurig und enttäuscht“. Beim Schreiben dieser Zeilen muss ich weinen, ja, es trifft es so tief, sie sitzt so tief diese Enttäuschung. Aber gleichzeitig erklären sich nach und nach so viele Verhaltensweisen, meine Träume (wie oft habe ich geträumt, dass z.B. meine Zunge beim Reden anschwillt und ich nicht reden kann oder dass ich keine Kleidung finde und
alle warten auf mich, aber ich habe einfach keine Kleidung und muss fast nackt auf die Straße) meine Ängste, meine Sinnlosigkeitsreden, mein Zorn auf die Menschheit allgemein.
Dieses Wissen, dieses Empfinden… es ist eine große Erleichterung in mir und ich fangen jeden Tag mehr an, wirklich zu leben.
Ich finde meine Familie sehr verlogen und verheuchelt, immer wird alles hinter dem Rücken der anderen beredet, es gibt nie ein klares Wort, nach außen hin ist es die glückliche Familie mit strahlenden Familienfotos, damit die ganze Stadt, in welcher meine Mutter stellvertretende Bürgermeisterin ist, auch sieht, was das für eine tolle Familie das ist.
Zum Geburtstag meiner Mutter habe ich ihr einen Brief geschrieben, immer noch meinte ich, ich muss mich erklären. Ob das richtig war? Es ist mir egal, sie wird wieder weinend da gesessen haben und die Familie hat wieder Verständnis. Ihre Antwort an mich per Brief war kurz, kalt und berechnend, was hatte ich anderes erwartet. Natürlich hatte ich – das kleine Kind in mir – anderes erwartet, immer noch wartend auf Verständnis, aber das kann es nicht geben.
Heute kam ein neuer Brief, sie will „das kleine Problem“ aus der Welt schaffen, möglichst schnell, mit fester Terminansage, damit sie wieder „besser schlafen“ kann. Und ich kann sie wieder verstehen, aber ich will nicht mehr. Ich will Ihre Meinung nicht hören, ihr Gesicht nicht sehen, ich habe so einen Hass und Zorn in mir, dass ich einfach Zeit für mich möchte und mir nun auch nehmen werde. Manchmal werde ich nachts wach und bin enttäuscht, unsicher, ob das alles von mir gerecht ist, ich falle zurück in meine gelernten Zweifel, ich habe wieder Mitleid mit ihr, aber sobald ich mein kleines Kind in mir zulasse, fühle ich, wie einsam ich war, wie sie mich alleingelassen hat, wie es wie immer nicht wirklich um mich geht, sondern um ihre Vorstellung von Familie, vom Töchterchen, wie sie meint, mich zu kennen, wie kalt sie ist unter ihrer Fassade, wie glücklich sie wäre, wenn ich mich von meinem Freund trennen würde, der an diesem Familientheater nicht teilnimmt und für
sie die Ursache meines Verhaltens ist.
Liebe Alice Miller, ich danke Ihnen, dass Sie mir mit Ihren Erfahrungen und Ihrem Wissen die Möglichkeit gegeben haben, dies alles einmal auszusprechen und mich selbst zu retten.
AM: Wenn man den kurzen, schrecklichen Brief Ihrer Mutter liest, den Sie (mit Recht) nicht veröffentlicht haben wollen, muss man sich wundern, dass es Ihnen gelungen ist, so weit Ihr Leben zu retten, wie Sie es bisher bereits geschafft haben. Sie wollen noch weiter gehen, obwohl Sie wissen, dass Sie mit Schmerz rechnen müssen, aber Sie werden es schaffen, daran ist gar kein Zweifel. Weil Sie Ihre Wahrheit brauchen und sich auf keinen Fall belügen wollen, um anderen die Lügen zu erleichtern. Ich wünsche Ihnen viel Kraft zum Handeln. Den Mut zu sehen haben Sie ja.