Besser spät als nie
Thursday 14 January 2010
Sehr geehrte Frau Miller!
Es ist noch nicht mal ein Jahr her, dass ich Ihr erstes Buch („Das Drama“) gelesen habe, zur Zeit bin ich beim sechsten Buch. Es ist zum Heulen, was einem klar wird, und wenn ich bedenke, dass es erst die Spitze ist, wird mir anders zumute.
Ich sitze zwischen zwei Stühlen: auf einer Seite meine Kindheit als Einzelkind, das zu hohen Leistungen gedrillt, geschlagen, ausgelacht, beschimpft wurde, und auf anderer Seite mein Kind, dem ich versuche, Liebe, Verständnis, Geborgenheit, Akzeptanz zu geben, und gleichzeitig weiß, das ich nicht wirklich dazu fähig bin meiner Vergangenheit wegen…. Meine Tochter war drei, als ich mich fühlte wie in einer Sackgasse. Wie sollte ich meinem Kind, Sachen beibringen und dabei authentisch wirken, wenn ich gar nicht wußte, was es ist?.. Nächtelanges Heulen, weil es so aussichtslos war. Und Fragen warum das so ist? Was ist an mir anders? Was mache ich falsch? Warum hat mein Kind so eine Muter wie mich bekommen? Dann kam „Das Drama“, und ich fing an meine Mutter zu hassen. Ellenlange Gespräche mit ihr über mich, die zu nichts führten, Hoffnung, doch noch etwas Liebe und Anerkennung zu bekommen. Jetzt weiß (!!) ich und ich habe es auch verinnerlicht, dass die Mühe umsonst ist. Ich bin ruhiger geworden. Ich habe angefangen, mich selbst zu lieben. Nur wenn es um mein Kind geht, hasse ich mich und kann mir es nicht verzeihen, dass ich meine Tochter geschlagen habe. Es waren „Klapse“, keine blauen Flecken ab der Taille abwärts wie bei mir, aber ich werde es mir nie verzeihen. Ich war 27 Jahre alt, als ich meine Tochter bekommen habe, fast abgeschlossenes Medizinstudium und dann so ein Verhalten… Wenn man keine Liebe erfahren hat, kann man auch keine geben, wenn man geschlagen wurde, gibt man sie weiter, wenn man ausgelacht wurde, merkt man nicht, wenn man jetzt selbst das Gleiche macht… Für meine Tochter wünsche ich mir, dass meine Selbstfindung schneller geht, für mich selbst weiß ich, dass ich nichts beschleunigen kann…Es ist für mich jeden Tag ein Kampf, um nicht abzurutschen, weil ich weiß, welche verheerenden Folgen es bei meinem Kind haben kann, und weil ich weiß, das ich noch so vieles nicht merke… Aber ich will nicht zurück.. Ich will wissen, wie ich bin. Vom ganzen Herzen beneide die Menschen, die die Erfahrung mit 24 Jahren machen, sie haben Chance, es bei den eigenen Kindern richtig zu machen, für mich hoffe ich, dass ich es zumindest zum Teil richtig machen kann. Und ich glaube an die Stärke meiner Tochter!
Allen Eltern wünsche ich viel Verständnis und Kraft, die Erfahrung aus Ihren Büchern in Tat umzusetzen und Ihnen danke Ich sehr für Ihr Werk!
N. W.
AM: Sie beschreiben sehr deutlich und sehr ehrlich das Leiden vieler junger Mütter, denen das alles kaum bewusst wird und die automatisch so handeln, wie sie es als Kinder erlebt haben. Manche genießen vielleicht ihre Macht, die sie bei ihrem Kind endlich gewonnen haben. Ich kann Ihr Entsetzen gut verstehen, aber ich denke: Besser spät als gar nicht. Sie können die Schläge nicht ungeschehen machen, dennoch können Sie aus Ihren starken Emotionen dem Kind gegenüber sehr viel Nützliches lernen. Die verdrängte, weil verbotene Wut auf Ihre Eltern meldet sich jetzt bei Ihrem Kind und statt sie dort abzureagieren, können Sie sie gebrauchen, um Ihre Geschichte zu entziffern. Das wird Sie mit der Zeit von dem giftigen „Erbe“ befreien und Ihnen die Fähigkeit verschaffen, Ihrem Kind das ganz wichtige Gefühl zu geben, dass es JETZT bei Ihnen gut aufgehoben ist, dass es nichts zu befürchten braucht. Das ist entscheidend für das ganze Leben Ihrer Tochter.