Spirituelle

Spirituelle
Friday 05 October 2007

Liebe Alice Miller,
ich habe ihre Bücher erst vor kurzem entdeckt und fand darin alles, alles genauso bestätigt wie sie es beschreiben. Ich habe einen langen Weg hinter mir, der mich durch die Bibel, die 10 Gebote, das Vater unser und all die Verbote meiner Kindheit geführt hat. Ich habe selber vor längerem eine Ausbildung in Kunsttherapie gemacht, diese dann abgebrochen als ich merkte, daß die Ausbilder dort uns Schüler/innen dazu benutzen ihre eigenen Verletzungen nicht wahrnehmen zu müssen. Dann begann ich eine Beziehung zu einem verheiratetem Mann und jetzt kommt der Punkt den ich in Ihren Büchern vermisse. Die spirituelle Seite der Entwicklung. Sie schreiben immer wieder, daß Vergebung nicht zur Heilung führt, daß Therapeuten ihren Klienten sagen, sie müßten sich mit ihren Eltern versöhnen, aber sie dächten, daß das vierte Gebot von Moses diktiert wurde um seine Eltern nicht beschuldigen zu müssen.
Ich glaube dagegen, daß Moses sehr wohl recht hatte, und ich habe das durch das Familienstellen genau so erfahren dürfen.
Meine Geschichte: ich wuchs als ungewolltes Kind mit Eltern auf (meine Mutter mußte wegen mir ihr Studium abbrechen), die mich ständig als Sündenbock für ihre ungelösten Konflikte benutzten. An allem war ich schuld, ich war hysterisch, zu gefühlsbetont, ich war vorlaut, besserwisserisch (ich bin intellektuell und musisch hochbegabt) ein Nagel zum Sarg meiner Mutter . Die einzigen Menschen die mir Schutz, boten waren meine Großeltern väterlicherseits. Mein Großvater liebte mich, aber ich weiß jetzt, daß er mich als kleines Kind sexuell benutzt hat – ich weiß auch, daß meine Mutter das mitbekam. Später in der Pubertät hat sie bei jeder Gelegenheit gesagt, daß Mädchen, die sowas behaupten, sich nur wichtig machen wollten. Ich hatte keine “echte” Erinnerung, hielt mich für frigide, weil für mich Sex immer mit Angst und innerem Erstarren verbunden war. Mit 14 unternahm ich einen Selbstmordversuch, über den sich meine Familie dann immer lustig machte: ha,ha, sie wollte das gar nicht, sie wollte sich nur wichtig machen. Ich hab mich dann immer weiter zurückgezogen, alle meine Beziehungen zu Männern waren aber extrem angstbesetzt. Ich ging über alle meine körperlichen Grenzen, wurde eine “gute” Geliebte, die alles mitmacht, nur um meine Männer zu halten. Auch in meiner Ehe hielt ich immer still. Was mich rettete war meine Malerei. Ich fing nach dem Studium an zu malen und zum ersten Mal schaffte ich es, mir einen Bereich nur für mich zu erobern. Ich ließ mir von niemandem dreinreden, versteckte lange Zeit was ich machte. Mit der Zeit stellte ich meine Bilder aus, ging in Museen, und merkte, daß ich gut bin.
Als ich zum ersten Mal einen großen öffentlichen Auftrag bekam wäre ich zwar vor Angst fast gestorben, aber ich machte es und da, wie gesagt begann meine Beziehung zu diesem verheiratetem Mann.
Durch ihn bekam ich Zugang zu der spirituellen Seite unseres Lebens, ich erlebte voller Staunen, daß wenn wir aufmerksam sind, wir die Antworten auf unsere Fragen in unserer Umwelt finden. Daß plötzlich Menschen in unser Leben treten, Bücher uns finden, die uns weiterhelfen.
Mit diesem Mann erlebte ich aber auch alle Demütigungen meiner Kindheit noch einmal. Zwischen ihm und seiner Frau durfte ich noch einmal meine Situation als Kind sehen, trotzdem bekam ich Hilfe, weil ich darum bat. Ich lernte eine Familienstellerin kennen, stellte zunächst selber auf und erkannte daß ich in meiner Dreiecksgeschichte genau meine Eltern wiedererlebte. Zwei Jahre lang ging ich regelmäßig zum Familienstellen und es war so faszinierend zu erleben, daß ich immer für Rollen ausgewählt wurde, die mir meinen jeweiligen Kenntnisstand über mein Leben spiegelten. Ich muß dazu sagen, daß ihre Methode zu stellen sich von der Bert Hellingers grundlegend unterscheidet, weil sie verdeckt aufstellt. Das heißt die Gruppe bekommt keinerlei Informationen über das Geschehen, man muß sich also als Stellvertreter nur auf das verlassen was man fühlt.
Schließlich stand ich in einer Rolle, wo ich plötzlich das Gefühl hatte, ich bin ein dreijähriges Kind und ich bin vergewaltigt worden, aber keiner glaubt mir. Noch heute kommen mir die Tränen wenn ich sehe wie wunderbar ich geführt wurde, daß ich das alles auf so sanfte Weise erfahren durfte. Denn natürlich war das nicht nur die Rolle, sondern meine Geschichte, die ich dann plötzlich erinnern konnte.
Durch die vielen Aufstellungen, wo es ja immer wieder darum geht, sich mit den Eltern zu versöhnen, weiß ich aber auch, daß eine wirkliche tiefe Heilung nur erfolgen kann, wenn wir uns mit unsere Eltern aussöhnen. Wenn wir in der Aufstellung erleben wie es ist, klein sein zu dürfen, von den Eltern zu hören, daß sie mich lieben, daß sie ihr möglichstes getan haben, auch wenn sie wüßten es war nicht genug für mich hat mir so geholfen. Ich habe seitdem viele, viele Gespräche mit meiner Mutter geführt, zunehmend auch ohne ihr Vorwürfe machen zu müssen, und verstehe jetzt, daß sie in ihrem Schmerz über ihre eigenen Kindheit so gefangen ist oder war, daß sie nicht wahrnehmen konnte, was sie mir antat. Ich kann es bei ihr lassen, muß nicht mehr glauben, daß sie oder ich tatsächlich schuld ist/bin an allem.
Und das ist jetzt genau die spirituelle Seite, die ich bei Ihnen vermisse. Ich glaube, daß wir in der Evolution an einem Punkt sind, wo Versöhnung stattfinden soll. Denn nicht zufällig gibt es mittlerweile soviele Erkenntnisse, soviele Puzzleteile, die es uns ermöglichen immer besser die zerstörerischen Mechansmen zu erkennen. Dazu gehören Freuds Erkenntnisse, genau wie die Ihren oder die Bert Hellingers. Dazu gehören meine Erkenntnisse genau wie die meiner Mutter, wie geringfügig sie auch scheinen. mögen.
Aber für meine Begriffe ermutigen sie die Menschen zu einem (inneren) Kontaktabbruch zu den Menschen durch die sie ins Leben gekommen sind und das kommt einem Kontaktabbruch zu sich selber gleich. Denn ganz egal was die Eltern uns angetan haben, sie sind ein Teil von uns und deshalb kann Heilung nur erfolgen, wenn wir sie als unsere Eltern anerkennen. Das heißt nicht, daß ich das was sie uns angetan haben als gut annehmen muß, aber ich muß es als Teil meiner Biografie annehmen und nicht erneut abspalten.
Das Schlimme was sie mir angetan haben als Teil von mir anzunehmen ist die spirituelle Aufgabe. Wir sind nicht nur Körper wir sind auch Seele. Und um der Menscheit Erlösung von diesem jahrtausendealten Mechanismen zu bringen, müssen wir als Seele genau das tun, wovon sie abraten: wir müssen vergeben. Unseren Eltern und dann vor allem uns selber. Weil wir ja sonst ohne es zu merken oder zu wollen unsere Verletzungen weitergeben – wie sie das tun, wenn sie die Therapeuten abwerten, die ihrer Meinung nach den Klienten zur Vergebung drängen. Diese Therapeuten haben recht – auch wenn sie, da wiederum haben sie recht, oftmals gar nicht in der Tiefe verstehen, wie diese Vergebung zustande kommen kann.
Aber wir sind ja alle auf dem Weg, und wir werden alle geführt. Das wirklich wunderbare ist, daß alles zum genau richtigen Zeitpunkt geschieht, daß alle Rädchen ineinander greifen, auch wenn wir das aus der begrenzten Warte unseres kurzen Lebens so nicht wahrnehmen können.

Mit herzlichen Grüßen und großer Dankbarkeit, E. S. B.

AM: Diesen Brief wollte mein Team nicht an mich weiterleiten, weil mit Recht der Eindruck entstand, dass Sie meine Schriften, die Sie gerade vor “einigen Tagen entdeckten”, leider nicht verstanden haben. Als meine KollegInnen lasen, dass Sie der Meinung sind, Ihr Großvater hätte Sie geliebt, als er Sie als Dreijährige sexuell benutzt hatte, waren sie über diese Verwirrung empört und wollten mir die Lektüre Ihres Briefes ersparen. Dennoch haben sie Ihnen freundlich geantwortet. Ihre darauf folgenden Vorwürfe (dass wir “Andersdenkende” wie im totalitären Regime “ausgrenzen”) und Ihre Forderungen, dass wir unsere Meinungen ändern müssten und die Meinungen von Ihnen und Ihrer Schule über die Heilung durch Spiritualität und Vergeben übernehmen sollten, auch dass wir Ihnen auf unserer Homepage das Recht geben müssten, publiziert zu werden, führten dazu, dass mir schließlich Ihre Briefe vorgelegt wurden. Ich bin froh darüber, weil mir das Gelegenheit gibt, am konkreten Beispiel zu erläutern, weshalb ich die traditionellen, weltweit praktizierten Therapien für irreführend und daher gefährlich halte.
Diese Mailbox wurde für Leser eröffnet, die sich von ihrer Angst vor ihren misshandelnden Eltern befreien wollen, um ihre wahren Gefühle leben zu können und SO ihre emotionale Integrität und die Freiheit von Krankheitssymptomen zu erlangen. DAHER besteht hier kein Raum für spirituell erleuchtete Gurus, seien sie noch so bekannt, die im Grunde keine Ahnung davon haben wollen, was sie wirklich fühlen, welche Geschichte sie geprägt hat, aber gerne wohlklingende Worte anbieten, die fast überall gut ankommen.
Ich habe mich entschlossen, Ihren ersten Brief zu publizieren, wie Sie sich das gewünscht hatten, weil er meine vielfache Beobachtung bestätigt und so deutlich illustriert, dass die Vergebung keineswegs vom Hass befreit, vielmehr nur hilft, ihn im Unbewussten hinter nichtssagenden Begriffen zu verbergen, ihn auf unschuldige Personen zu verschieben und nicht zu merken, was man eigentlich tut. Aus diesem Grund ist diese Vergebung in meinen Augen nicht nur nutzlos, sondern sogar gesundheitsschädlich weil sie den Betreffenden blind und verwirrt zurücklässt, was seinen Körper gefährdet, der IMMER auf der Wahrheit (der Realität) seiner Geschichte besteht. Hinter den “guten” Ratschlägen findet sich, wie Sie es überdeutlich zeigen, eine Menge blinder Wut. Unsere Webseite ist aber keine Abfuhranstalt für die Wut, die bei der angeblich heilenden Ideologie der “Spiritualität” unkontrolliert übrig bleibt.
Sollten Sie dennoch tatsächlich an einem Gedankenaustausch mit uns interessiert sein, wie Sie es behaupten, würde ich Ihnen gerne zur KLÄRUNG die Frage stellen: Was verstehen Sie unter dem Wort Spiritualität?

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet